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Amnesty-Briefmarathon: Schreib für Freiheit
Schreib für Freiheit
Im Dezember findet zum 21. Mal der Amnesty-Briefmarathon statt. Dabei schreiben Tausende Menschen weltweit Briefe, um gefährdete Menschenrechtsverteidiger*innen zu unterstützen: in diesem Jahr unter anderem Aleksandra Skochilenko aus Russland und Vahid Afkari aus dem Iran. Von Hannah El-Hitami
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Das gemeinsame Schreiben ist eines der wichtigsten Druckmittel von Amnesty International: Aktivist*innen setzen sich mit Briefen für Menschen ein, deren Rechte verletzt werden und schicken Solidaritätsnachrichten an Menschenrechtsverteidiger*innen in Gefahr. Einmal im Jahr gipfeln diese Bemühungen im Briefmarathon. Unter dem Motto »Schreib für Freiheit« fordert Amnesty seine Unterstützer*innen in aller Welt dazu auf, für besonders gefähr dete Menschen massenweise Briefe zu schreiben, Mails zu schicken, in den Online-Netzwerken zu posten. Dieser Einsatz führt sehr oft zu positiven Entwicklungen. In diesem Jahr hat Amnesty 13 Menschenrechtsverteidiger*innen ausgewählt, die dringend Unterstützung brauchen – sei es, um ihre Haftbedingungen zu verbessern, ihre Freilassung zu erwirken, oder ihnen mit einer Flut von Briefen zu zeigen, dass sie nicht allein sind (siehe Seite 28/29).
Einer dieser Fälle ist 2022 der Iraner Vahid Afkari, der seit mehr als vier Jahren zu Unrecht inhaftiert ist. Er nahm in seiner Heimatstadt Shiraz an friedlichen Protesten teil, die 2018 das ganze Land erfasst hatten. Zehntausende gingen damals gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption auf die Straße und forderten die Freilassung politischer Gefangener. Im September 2018 wurde Afkari zusammen mit seinem Bruder Navid festgenommen. Beide wurden monatelang psychisch und körperlich gefoltert, um sie zu Geständnissen zu zwingen. Die zahlreichen Vorwürfe, die gegen die beiden Männer erhoben wurden, entsprachen größtenteils keinen international anerkannten Straftatbeständen. Anklagen wie »Störung der öffentlichen Ordnung«, »Verdorbenheit auf Erden« oder »Beleidigung des Religionsführers« werden im Iran häufig benutzt, um die Ausübung der Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit zu kriminalisieren. Am schwersten wog der Vorwurf, die Brüder hätten einen Sicherheitsbeamten ermordet. In mehreren Verfahren, die keinerlei rechtsstaatliche Standards erfüllten, bestritten sie die Tat und widerriefen immer wieder »Geständnisse«, die sie unter Folter gemacht hatten. Ungeachtet dessen, und obwohl das Gericht keinerlei Beweise gegen sie vorbringen konnte, wurden sie verurteilt: Vahid zu 33 Jahren und neun Monaten Haft sowie 74 Stockhieben, sein Bruder Navid zum Tode. Auch ein weiterer Bruder, Habib, der sich nach ihnen erkundigt hatte, wurde inhaftiert und zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Am 12. September 2020 wurde Navid Afkari hingerichtet. Da beide Brüder in unmittelbarer Nähe zueinander im Todestrakt des Adelabad-Gefängnisses in Shiraz inhaftiert waren, konnte Vahid hören, wie sein Bruder abgeführt, geschlagen und schließlich erhängt wurde. Er selbst sitzt noch immer in einer fenster losen Zelle – isoliert von anderen Gefangenen, ohne Freigang und ohne medizinische Versorgung. »Ich weiß nicht, wie ich mich noch verteidigen soll und wie ich Menschen um Hilfe bitten soll«, teilte er in einer Sprachnachricht mit. »Ich kann nichts anderes tun, als mich immer wieder auf das Recht zu berufen und an Logik und Vernunft zu appellieren.« Im März berichtete Afkari seiner Familie, dass Wärter ihm einen Arm gebrochen hätten, nachdem er sie gebeten hatte, einen anderen politischen Gefangenen nicht in Isolationshaft zu nehmen. Trotz seiner niederschmetternden Lage setzt Vahid Af-
Der Briefmarathon 2021 in einer Schule.
Vahid Afkari. Foto: privat Aleksandra Skochilenko. Foto: privat
kari sich auch weiterhin für andere ein: Er bat darum, beim Briefmarathon die Aufmerksamkeit nicht nur auf seinen Fall, sondern auch auf weitere politische Gefangene im Iran zu richten, deren Namen und Geschichten nicht an die Öffentlichkeit gelangten. Dass der internationale Druck zumindest teilweise wirkt, zeigt das Schicksal seines Bruders Habib: Er wurde im März dieses Jahres nach Druck von Amnesty International, seiner Familie sowie von Aktivist*innen im Iran und weltweit freigelassen.
Emotionale Unterstützung
Selbst wenn Appelle nicht unmittelbar zu einer Freilassung führen, so macht die Masse an Solidaritätsbriefen für die Betroffenen einen großen emotionalen Unterschied. Das zeigt der Fall der russischen Künstlerin Aleksandra (»Sasha«) Skochilenko, für die sich Amnesty seit Monaten einsetzt und die auch beim Briefmarathon unterstützt werden soll. »Mir kommen vor Dankbarkeit die Tränen, wenn ich an euch alle denke, die aufstehen und sich für mich einsetzen«, schrieb Sasha Skochilenko in einem Brief aus dem Gefängnis im April 2022. »Meine Kläger haben Macht und Geld, doch ich
Vahid Afkari
habe etwas viel Wertvolleres: Freundlichkeit, Empathie, echte Liebe und enorme Unterstützung von Menschen aus aller Welt.«
Seit dem 13. April sitzt die russische Künstlerin in einem Gefängnis in St. Petersburg. Der Grund: eine Kunstaktion gegen den Krieg. Skochilenko schreibt Lieder, zeichnet Comics und Zeichentrickfilme, organisiert Konzerte und Jamsessions. Ende März tauschte sie in einem Supermarkt in ihrer Heimatstadt die Etiketten der Produkte gegen Zettel aus, auf denen Informationen über Russlands Invasion in die Ukraine standen, zum Beispiel über die Toten nach der Bombardierung des Theaters von Mariupol. Kaum zwei Wochen später durchsuchte die Polizei Skochilenkos Wohnung und nahm sie fest. Man wirft ihr vor, wissentlich falsche Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte verbreitet zu haben. Das ist in Russland illegal – laut Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches, der Anfang März überstürzt eingeführt wurde, um Kritik an der russischen Invasion in die Ukraine zu stoppen. »Sasha ist im Gefängnis, weil die Unterdrückung in unserem Land seit Beginn des Krieges noch schlimmer ist als zuvor«, sagt ihre Partnerin Sofia Subbotina. »Die Behörden wollen eine Stimmung schaffen, in der keiner es wagt, sich öffentlich gegen den Krieg auszusprechen.«
Die Untersuchungshaft ist für die 32jährige Künstlerin besonders gefährlich, da sie unter Zöliakie leidet und auf eine spezielle Diät angewiesen ist. Dennoch erhielt sie im Gefängnis lange Zeit keine adäquaten Mahlzeiten und durfte keine privaten Nahrungspakete entgegennehmen. Inzwischen erhält sie einmal am Tag eine glutenfreie Mahlzeit, muss darüber hinaus aber hungern. Zudem wurde sie von ihren Mitgefangenen im Auftrag der Gefängnisleitung schikaniert und vom Essen abgehalten. Erst massive Kritik, auch der russischen Öffentlichkeit, führte dazu, dass sie in eine andere Zelle verlegt wurde und sich ihre Haftbedingungen ein wenig verbesserten.
Jedoch wurde ihre Untersuchungshaft verlängert, ihre Partnerin darf sie nicht besuchen. Freund*innen von Skochilenko, die sich auf einer Website für ihre Freilassung einsetzen, fürchten, dass der Stress die psychisch erkrankte Künstlerin schwer beeinträchtigen könnte. In Russland ist Skochilenko für ein Buch über Depressionen bekannt. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt, verfilmt und wird von Psycholog*innen bei Behandlungen eingesetzt. Dass sie mit Kunst das Beste aus dunkelsten Situationen holt, hat Skochilenko schon mehrfach gezeigt. »Egal, wie sehr meine Kläger mich durch den Dreck ziehen, erniedrigen und den unmenschlichsten Bedingungen aussetzen, ich werde nur Strahlendes, Unglaubliches und Schönes aus dieser Erfahrung ziehen«, schreibt sie in einem Brief. Sie habe bereits angefangen, einen Comic über ihre Haft zu zeichnen. ◆
DIE PROPAGANDA INS LEERE LAUFEN LASSEN
Ivan Kolpakov ist Chefredakteur des russischen Internetportals Meduza mit Sitz in Lettland. Es zählt zu den wichtigsten kremlkritischen Medien. Seit dem Angriff auf die Ukraine setzt sich der Journalist dafür ein, dass russische Kolleg*innen ein sicheres Exil im Ausland erhalten. Von Tigran Petrosyan
Heute ist er in Berlin, gestern war er noch in Riga, und morgen fliegt er nach Amsterdam. Ivan Kolpakov hat längst vergessen, wann die Nacht beginnt und wann der Tag. Der 38-jährige Journalist ist Chefredakteur des Internetportals Meduza, das er 2014 in Lettland mitgründete. Das russischund englischsprachige Portal, das zu den wichtigsten unabhängigen russischen Medien zählt, erhebt seine Stimme gegen den Krieg in der Ukraine. Kolpakov fühlt sich jedoch nicht nur verantwortlich für Millionen Menschen, die den Lügen und der Propaganda des Kremls ausgesetzt sind, sondern auch für die rund 60 Mitarbeitenden von Meduza. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind die Korrespondent*innen des Portals in Russland extrem bedroht. Kolpakov setzt sich deshalb dafür ein, dass seine Kolleg*innen in Moskau, St. Petersburg, Novosibirsk und anderen Orten das Land verlassen können. Bislang hat er 25 Journalist*innen geholfen, ins Exil zu gehen, und sie damit vor Geld- und Haftstrafen bewahrt. »Journalismus ist ein gefährlicher und bedrohter Beruf in Russland, und das ist längst keine Metapher mehr«, sagt Kolpakov. Der Journalist wurde 1983 in Perm geboren, wo er Geschichte und Politik studierte und die Online-Zeitung Sol gründete. In Moskau arbeitete er für das Online-Magazin Lenta. Mit seiner damaligen Chefredakteurin Galina Timchenko und anderen gründete er später in Riga Meduza. Seit acht Jahren lebt Kolpakov nun im lettischen Exil, in »Scheinsicherheit«, wie er sagt. »Lettland liegt sehr nahe an Russland.« Er habe das Gefühl, dass er in Riga beobachtet werde. »Das ist keine Paranoia. Es hat verschiedene unangenehme Zwischenfälle gegeben«, sagt er.
Kolpakov konzentriert sich darauf, die Finanzen für Meduza hauptsächlich über Crowdfunding zu sichern. Mehrere Millionen Menschen lesen täglich Nachrichten auf dem Portal. Viele von ihnen nutzen dafür VPN, eine nicht nachverfolgbare Netzwerkverbindung. Die mobile App, die Blockaden durch die russischen Behörden umgehen kann, wurde Mitte September mehr als eine Million Mal heruntergeladen. Und über eine Million Abonnent*innen folgen Meduza auf Instagram und Telegram. »Wir leben in einzigartigen Zeiten der Mediengeschichte. Immer mehr Menschen legen Wert auf unabhängigen Journalismus«, sagt Kolpakov.
Was in Russland passiere, sei »ein Albtraum, eine Katastrophe«. Er erwarte weitere »unvorstellbare Verbrechen« des Kremls. Seine schlimmsten Befürchtungen seien in den vergangenen Monaten von der Realität übertroffen worden, räumt der Journalist ein. »Ich war mir sicher, dass es keinen Krieg in der Ukraine geben würde. Dann war ich mir sicher, dass Wladimir Putin sein Amt in kürzester Zeit verlieren würde, weil ein Krieg gegen die Ukraine der schlimmste Albtraum eines Russen oder einer Russin ist.« Die Hoffnungen, die Kolpakov in die Soldatenmütter setzte, wurden ebenfalls enttäuscht. »Der Kreml konnte nicht verbergen, dass viele russische Soldaten sterben. Aber auch das führte nicht zu einer sozialen Explosion, einer Protestbewegung, die das Regime stürzen könnte.«
Seit dem 24. Februar sei in Russland eine Diktatur errichtet worden. »Putin hält seine Macht und die Kontrolle der Gesellschaft durch Propaganda und seinen Gewaltapparat aufrecht.« Umso wichtiger sei es, die Propagandamaschine durch ein Medium wie Meduza ins Leere laufen zu lassen. ◆
EU BERÄT ÜBER KI-VERORDNUNG
In der EU wird in naher Zukunft darüber entschieden, welche Regeln für die Entwicklung und Benutzung von künstlicher Intelligenz (KI) gelten sollen. Die Einsatzmöglichkeiten dieser Technologie, bei der Programme selbstständig komplexe Aufgaben ausführen, sind vielfältig: Sie reichen von Filmvorschlägen auf Streamingdiensten bis hin zu moderner medizinischer Diagnostik. Doch KI kann auch für Waffensysteme, Massenüberwachung und zur Manipulation eingesetzt werden.
Die Technologie birgt große Chancen, aber auch Risiken für Einzelne und die Gesellschaft. Ihr Einsatz hat Auswirkungen auf das Recht auf Leben, das Recht auf Privatsphäre, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und viele weitere Menschenrechte. Amnesty setzt sich deshalb dafür ein, dass die EU bei der Ausarbeitung der »KI-Verordnung« hohe Menschenrechtsstandards beachtet. Die Verordnung ist die weltweit erste gesetzliche Vorgabe zum Einsatz von KI. Sie wird deshalb Auswirkungen weit über Europa hinaus haben und könnte zu einer Blaupause für Regierungen weltweit werden. Umso wichtiger ist es, einen umfassenden Menschenrechtsschutz darin zu verankern.
Notwendig ist ein Verbot von KI-Anwendungen, die ein nicht vertretbares Risiko für die Menschenrechte bergen, wie beispielsweise Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, die einer Massenüberwachung gleichkommt. Auch der Einsatz von KI-Systemen, die menschliches Verhalten analysieren, klassifizieren und bewerten, muss verboten werden. Solche Anwendungen kommen zum Beispiel in China in Form eines Sozialkredit-Systems zum Einsatz. Auch KI-Anwendungen mit geringeren Risiken brauchen verbindliche Vorgaben, damit Firmen und Privatpersonen transparent handeln und menschenrechtliche Risiken einschätzen und verhindern können. Die KI-Verordnung wird derzeit im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat beraten und frühestens 2023 verabschiedet. Mehr zum Thema Gesichtserkennung: amnesty.de/my-face
(»Was sagt Amnesty eigentlich zu… Gesichts erkennungstechnologie?« Amnesty Journal 05/2022)
DFB SCHLIESST SICH FORDERUNG VON AMNESTY AN
440 Millionen US-Dollar sollen der Weltfußballverband FIFA und Katar, das Gastgeberland der Fußball-WM der Männer im Jahr 2022, bereitstellen, um Arbeits migrant*innen für erlittene MenschenDer DFB hatte im vergangenen Jahr eine Menschenrechts-Policy verabschiedet und baut seither Strukturen auf, um seiner unternehmerischen Sorgfaltspflicht nachzukommen. Mit der Forderung nach Entschädigung sendet der weltweit größte Fußballverband ein Signal an die FIFA. Es ist auch eine Aufforderung, Verantwortung zu übernehmen und bei künftigen WM-Vergaben die Menschenrechtssituation zu berücksichtigen.
Die FIFA wollte ihre Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen in Katar lange Zeit nicht wahrhaben. Auch für die nationalen Fußballverbände waren Menschenrechte zum Zeitpunkt der WM-Vergabe an Katar kein Thema. Doch hat die jahrelange Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Faninitiativen Früchte getragen: Mittlerweile hat die FIFA ihre Statuten geändert, sich zu den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte bekannt, eine Nachhaltigkeitsstrategie für die WM 2022 verabschiedet und den Vergabeprozess für Weltmeisterschaften reformiert.
Druck ausüben. Amnesty protestiert vor der FIFA-Zentrale in Zürich, März 2022.
Foto: Amnesty Schweiz rechtsverletzungen zu entschädigen. Im September 2022 stellte sich der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hinter diese Forderung, die von Amnesty International bereits im Frühjahr 2022 erhoben wurde.
(»Arbeitsmigrant*innen entschädigen«, Amnesty Journal 05/2022)