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Desinformation im Netz: Graphic Novel über Fake News
Verloren im Kaninchenbau
In ihrer neuen Graphic Novel erkundet die Journalistin Doan Bui die Welt der Verschwörungsmythen. Sie erklärt, warum Menschen Wissenschaft und Medien nicht mehr trauen – und wie das Internet uns süchtig nach Fake News macht. Von Hannah El-Hitami
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Glauben Sie an die Wahrheit?« Der Titel der neuen Graphic Novel von Doan Bui und Leslie Plée fasst das Problem bereits ziemlich gut zusammen. Er nutzt den schwierigen Begriff der »Wahrheit«– gibt es überhaupt die eine? Und wer entscheidet, was sie ist? Und er spielt auf den geradezu religiösen Charakter heutiger Debatten über »die Wahrheit« an. In einer mit Informationen überfütterten Welt muten auch Konflikte darüber, welche wissenschaftlichen Fakten oder politischen Statements wahr sind, wie kleine Glaubenskriege an.
Seit der Corona-Pandemie sind auch in Deutschland »alternative Wahrheiten« und Verschwörungsmythen in aller Munde. Die sogenannten Querdenker*innen fanden zeitweise eine breite Anhängerschaft in einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Doch der Aufstieg von Verschwörungsmythen begann bereits während der Amtszeit des ehemaligen USPräsidenten Donald Trump. Er prägte auf höchster politischer Ebene den Begriff »Fake News«, um Wissenschaft und Medien zu diskreditieren, die nicht seiner Agenda entsprachen.
In der von Leslie Plée humorvoll gezeichneten Graphic Novel vergleicht Doan Bui die Welt der alternativen Wahrheiten mit Alices Wunderland: Alles steht Kopf und man geht leicht verloren. Auf fast 200 Seiten führt die mehrfach ausgezeichnete Journalistin ihre Leser*innen durch die großen Verschwörungsmythen unserer Zeit. Dabei verteufelt sie deren Anhänger*innen nicht, sondern erkundet deren Welt mit Neugier und dem ehrlichen Versuch zu verstehen – auch wenn sie dabei öfter an ihre Grenzen gerät.
Grundlage sind Interviews, die die vietnamesisch-französische Journalistin in den vergangenen Jahren geführt hat. Los geht es mit den Truthern (ins Deutsche ließe sich das als »Wahrheiter« übersetzen), einer Gruppierung, die alle möglichen Ereignisse – 9/11, die Mondlandung, den Ukraine-Krieg – für staatlich organisiertes Theater hält. Bui recherchierte in diesem Milieu nach dem Amoklauf an einer Grundschule im USamerikanischen Sandy Hooks im Dezember 2012. Truther behaupteten damals, der Amoklauf habe nicht stattgefunden, die trauernden Eltern seien Schauspieler*innen im Auftrag einer von Demokraten angeführten Anti-Schusswaffen-Lobby. Gegen Truther, so scheint es, kommt man weder mit Argumenten an noch mit der Realität, die direkt vor ihnen liegt. »Haben Sie den Sarg geöffnet? Wie können Sie sicher sein, dass er nicht leer ist?«, fragt ein Truther, als Bui von ihrem Besuch an den Gräbern der ermordeten Schulkinder berichtet. »Die Truther sind das Symptom einer Epoche, in der die Menschen in nichts mehr Vertrauen haben und an allen Institutionen zweifeln«, erklärt die Autorin im begleitenden Text. In den folgenden Kapiteln folgen Flat-Earther, Illuminati, Impf -
Alle Abbildungen aus dem besprochenen Buch AMNESTY JOURNAL | 06/2022 57
Manipulationsfabrik: In einem Büro in St. Petersburg sollen Posts zur Destabilisierung der USA und Europas erfunden worden sein.
gegner*innen und andere Menschen, die kein Vertrauen mehr in Politik, Medien, Wissenschaft haben. Auch wenn Demagog*innen dieses Misstrauen zum Teil in absurde Bahnen lenken und darauf menschenfeindliche Ideologien aufbauen, so bleibt die Grundfrage doch, warum das Vertrauen verloren ging – und vor allem, wie Institutionen es zurückgewinnen könnten.
Zwischen Kritik und Glauben
Wer sucht, findet zahlreiche Skandale, die Misstrauen rechtfertigen. Während der Corona-Pandemie waren Politiker*innen in dubiose Maskendeals verwickelt oder feierten Parties trotz Lockdown. Auch die Angst vor Schäden durch Impfungen oder Medikamente ist nicht unbegründet – solche Fälle hat es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gegeben. Wissenschaftliche »Fakten« sind nicht unantastbar, sie verändern sich im Lauf der Jahre, wie eine andere Szene im Buch illustriert. Dort sitzt eine Frau mit Kleinkind einer Ärztin gegenüber, darüber steht »Vor 20 Jahren«. Die Ärztin rät der Mutter, ihr Baby auf dem Bauch schlafen zu lassen, so sei die Erstickungsgefahr geringer. Daneben sehen wir ein Bild mit dem Titel »Heute« und eine Ärztin, die sagt: »Legen Sie Ihr Baby auf keinen Fall auf den Bauch, es könnte am plötzlichen Kindstod sterben.«
Wo also liegt die Grenze zwischen rationaler Kritik und Verschwörungsglauben? Bui findet sie im Kaninchenbau. Das englische »rabbit hole« bezeichnet einen endlos verzweigten Tunnel, in dem man sich immer weiter verliert. Etwa beim abendlichen Scrollen auf dem Smart phone. »Von Klick zu Klick verirren wir uns im Netz wie Alice im Wunderland«, schreibt Bui im Kapitel »Algorithmen«. Darin erklärt sie anschaulich, wie Internet-Firmen daran verdienen, dass Nutzer*innen möglichst lange auf ihren Seiten bleiben. Ihre Algorithmen sind darauf ausgerichtet, weitere interessante Inhalte anzuzeigen, damit die User*innen immer mehr Links anklicken: »Google, Facebook, Twitter, Youtube: Sie alle haben diesen Mechanismus verstanden. Ihr Ziel: uns in das Loch fallen zu lassen, aus dem wir nie wieder rauskommen sollen.« Besonders brenzlig wird es, wenn Politiker*innen
diese Filterblasen nutzen, um Menschen zu manipulieren. Im Kapitel »Troll-Fabrik« besucht Bui ein mazedonisches Dorf, dessen Bewohner*innen gegen Bezahlung gefälschte Nutzerprofile erstellten, Fake News in Online-Netzwerken platzierten und so zu Donald Trumps Wahlerfolg beitrugen.
Tatsächlich generiert der Empfehlungs-Algorithmus auf YouTube bereits 70 Prozent aller Seitenaufrufe. Selbst der ehemalige Algorithmus-Entwickler für Google und YouTube, Guillaume Chaslot, men vermischen. Kapitel wie »Truther« »Flat Earther« und »Illuminati« wechseln sich mit »Trump« und »Algorithmen« ab, dazu kommen noch die Impfgegner*innen und Klimaskeptiker*innen. Dabei gibt es durchaus einen Unterschied zwischen Individuen, die an eine flache Erde glauben, solchen, die der staatlichen Gesundheitspolitik misstrauen, und dem bewussten Einsatz von Fake News zur Meinungsmanipulation.
Bui ist sich dieser Unterschiede sehr wohl bewusst, beobachtete jedoch bei ihren Recherchen, dass die bekannten Mythen immer mehr zu einem »großen, globalisierten Blob« verschmelzen. »Als der Reichstag 2020 von Demonstranten angegriffen wurde, war das eine seltsame Vereinigung von Impfgegnern, Reichsbürgern, Trump- und Putin-Anhängern«, schreibt sie im Interview mit dem Amnesty Journal.
Glaubt Bui eigentlich selbst an die Wahrheit? Sie sei sich unsicher, schreibt die Journalistin im E-Mail-Austausch: »Meine Eltern mussten vor dem Krieg in Vietnam fliehen. Nachdem Saigon gefallen war, kamen kommunistische Brigaden in das Haus meines Vaters. Sie verbrannten seine Bücher, um die Massen ›zur Wahrheit zu erziehen‹.« Bei Menschen, die sagten, sie würden »die Wahrheit« kennen, bekomme sie Gänsehaut, so Bui. Sie glaube jedoch fest an Ehrlichkeit und das Streben danach, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. ◆
Der Algorithmus wirkt wie eine Droge.
warnt inzwischen vor der Gefahr. »Der Algorithmus will deine Aufmerksamkeit so lange wie möglich halten«, erklärt sein Comic-Pendant im Buch. Dadurch fördere er verschwörungstheoretische Inhalte. »Das ist eine Droge, wie die Zigarette.« Wer sich für ein Thema interessiert, gerät in einen Kaninchenbau immer extremerer und einseitigerer Informationen. Gut recherchierte Inhalte haben kaum eine Chance gegen die Schwemme vereinfachter Falschnachrichten. Diese verbreiten sich bis zu sechsmal schneller, weil sie mit den Emotionen der Menschen spielen. Als Journalistin weiß Bui, wie aufwändig und teuer gute Recherchen sind. Ihre Graphic Novel solle auch dazu dienen, ihren Beruf zu erklären und das Vertrauen in die Medien wiederaufzubauen, schreibt sie in einem E-Mail-Interview. Transparenz empfiehlt sie auch anderen Institutionen, die das Vertrauen der Menschen verspielt oder verloren haben.
Im Krieg mit der Gesellschaft
Doch was ist eigentlich so schlimm daran, wenn Menschen an Verschwörungsmythen glauben? Wem schadet es, wenn jemand denkt, die Erde sei flach? An sich sei das kein Problem, schreibt Bui. Sie habe auch sehr nette Flat-Earther getroffen. Menschen mit Verschwörungsansichten würden sich jedoch oft als Opfer der Gesellschaft ansehen und glauben, sie seien mit dieser im Krieg. »Die Welt der Verschwörungstheoretiker kann sehr gewaltvoll sein«, so Bui. In ihrem Buch wird das unter anderem deutlich am Beispiel der Eltern der ermordeten Kinder in Sandy Hooks: Sie wurden von Truthern so sehr belästigt, dass sie umziehen mussten. Auch jüngste Ereignisse zeigen, wie brutal der Kampf um die Wahrheit werden kann: Im August nahm sich in Österreich die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr das Leben, die wegen ihres Engagements in der Pandemie Morddrohungen von Impfgegner*innen ausgesetzt war.
Die Graphic Novel »Glauben Sie an die Wahrheit?« beleuchtet die dunklen Tunnelwindungen im Kaninchenbau der alternativen Wahrheiten. Sie zeigt auf, was Verschwörungsmythen attraktiv macht, wie Algorithmen sie verstärken und wie dieser Mechanismus ausgenutzt wird, um Geld zu machen oder Politik zu beeinflussen. Dabei entsteht manchmal der Eindruck, die Autorin würde zu viele The-
Weltkarte der Flache-ErdeAnhänger*innen.
Doan Bui, Leslie Plée: Glauben Sie an die Wahrheit? Übersetzt von Christiane Bartelsen. Carlsen 2022, 176 Seiten, 22 Euro