JAZZTIMES ISSUE 01
“Anyone can make the simple complicated. Creativity is making the complicated simple.� Charles Mingus
Features
06 Der Ursprung
34 Ausklang
18901910
19101940
10 Ragtime
16 Dixieland
12 New Orleans Jazz
18 Chicago Jazz 20 Swing
19401970
1970 2000
24 Modern Jazz
30 Fusion
26 Free Jazz
32 Neobop
APPENDIX
Interview 36
06 Jazztimes
Der Ursprung A
ls Jazz wird ein Musikgenre bezeichnet, das Anfang des 20. Jahrhunderts in den amerikanischen Südstaaten entstand. Dreh- und Angelpunkt war NewOrleans, die Stadt am Mississippi-Delta.
Farbige Musiker, Nachfahren der einstigen Sklaven, pflegten die Musiktradi-
tionen der afroamerikanischen Einwohner. Die Musik der Schwarzen auf dem Lande, die Worksongs, die sie bei ihrer Arbeit auf den Baumwollfeldern sangen, die Spirituals, die bei den Gottesdiensten erklangen, die einfachen BluesVolkslieder. All das schlug sich in den Entstehungsformen des Jazz nieder. All das mischte sich auch mit den Melodien englischer Volkslieder, mit den Rhythmen spanischer Tänze, mit der Marschmusik nach preußischem Vorbild. Die Musikkultur vieler Völker floss ineinander. Im Laufe der Zeit entstanden die verschiedensten Variationen des Jazz, in die auch andere Musikrichtungen einflossen. Neben dem New Orleans Jazz sind besonders der Dixieland - vornehmlich als Variante weißer Musiker - zu nennen. Darüber hinaus gibt es den Swing, der vor allem durch den Sound von Bigbands seine Note bekommt, charakteristisch für den Bebob sind die lateinamerikanischen und karibischen Elemente. Weiterhin gibt es Free Jazz und durch die Kombination mit Rock-und Funkelementen und den Einsatz u.a. von E-Piano, Synthesizer oder E-Gitarre entstand in den 60 Jahren ein Genre, das unter dem Namen JazzFusion bekannt geworden ist.
1890 – 1910
10 Jazztimes
Ragtime
1890 M
an hat den New Orleans-Stil als
Ein weiterer Repräsentant des frühen Ragtimer-
den ersten Stil der Jazzmusik be-
wandten Jazz von New-Orleans war Buddy Bolden.
zeichnet. Doch sein Vorläufer war
Von seinem Vorbild ausgehend, so wird er musikge-
der Ragtime (englisch: ragged= zerrissen Zeit). In
schichtlich eingeordnet, hat er sich wohl zwischen
ihm diktiert im Gegensatz zur europäischen Musik
1900 und 1915 entwickelt und schließlich von einer
der Rhythmus die Melodie, und als sein Entstehu-
Vielzahl von Bands und Musiker von New Orleans
ngsort wird im allgemeinen Sedalia, eine im Staate
aus in die USA und in die Welt getragen wurde.
Missouri bezeichnet. Vielleicht nur ein Zufall, aber dort lebte und arbeitete der 1868 in Texas geborene namhafte Ragtime-Komponist und Pianist Scott Joplin. Außer Joplin gab es natürlich eine Fülle von Ragtime-Pianisten, die über die Grenzen des Mississippi-Gebietes hinaus einen Namen hatten. Doch Joplin war ein Virtuose melodischer Einfälle. Sei n bekanntester Rag „The Entertainer“ wurde 60 Jahre nach seinem Tod durch den Film „Der Clou“ (1973) populär. Musikalisch gesehen, um das sehr komprimiert zu erwähnen, fehlte dem Ragtime ein entscheidendes Element des Jazz: Die Improvisation, da er komponiert ist. Gleichwohl waren auch hier die Grenzen fließend, denn schon früh wurde begonnen, komponierte Ragtimemelodien zu interpretieren und für Jazzimprovisationen zu nutzen.
In Joplin - wie überhaupt im Ragtime - verband sich viel von der alten europäischen Musiktradition mit dem rhythmischen Gefühl der Schwarzen. Mehr als von jeder anderen Jazzform kann man vom Ragtime sagen: Er ist „weiße“ Musik „schwarz“ gespielt.
Writing is like jazz. It can be learned, but it can’t be taught Paul Desmond
12 Jazztimes
New Orleans
1900 Jazz N
ew Orleans, diese pulsierende City am
neuen Klänge. Der Fluss und die Stadt waren glei-
Mississippi-Delta zählte zu Beginn des
chermaßen wichtig für die Stadt.
Die unterschiedlichen Lebensstile beider Grup-
zwanzigsten Jahrhundert ca. 200.000
New Orleans steht also nicht allein für die Ent-
pen hatte auch Auswirkungen auf ihre Musik Die
Einwohner. Die Stadt hatte unter spanischer und
stehung des Jazz. Die Stadt war aber der Krist-
kreolische Gruppe war die gebildeter (mit guten
französischer Herrschaft gestanden, bevor sie
allisationspunkt, ca. sechzig Prozent aller be-
Kenntnissen im Notenlesen), die amerikanische
und das Land Louisiana von den Vereinigten Sta-
deutenden
gewordenen
war die spontanere, vitalere. Doch wirklich über-
aten gekauft wurden. Später kamen Einwanderer
Jazzmusiker stammen von dort. So King Oliver,
ragende Musiker profitierten von den Traditionen
aus
Louis Armstrong, Sindey Bechet, Edmond Hall, Kid
beider. Unumstößlich aber ist die Tatsache, dass
Ory, um nur einige zu nennen.
vieles, was die Faszination New Orleans aus-
England und Italien, schließlich Deutsche
und Slawen. Ein wahres Völkergemisch. Diese
und
später
berühmt
nationalen und kulturellen Unterschiede trafen
das arme, unbemittelte Proletariat New Orleans.
machte, französisch geprägt war. So der berüh-
auf die kulturellen Traditionen der Nachkommen
Dafür sieht J. E. Behrendt u.a. folgende Gründe:
mte Karneval mardi gras und die funerals, die
der aus Afrika verschleppten Negersklaven. Und
Einmal die alte französisch-spanische Stadtkultur;
Leichenbegängnisse, bei denen die Jazzmusiker
wie bereits eingangs skizziert, war jede National-
die in ihrer Lebensfreude ein Gegensatz zum Puri-
den Verstorbenen mit trauriger Musik zum Fried-
ität bemüht, die Lieder, Melodien und Tänze ihrer
tanismus in anderen amerikanischen Städten war
hof begleiteten und mit lustiger heimkehrten. In
Heimat wachzuhalten. Jedenfalls wurde in New
und den kulturellen Austausch förderte. Zum an-
dem „Aufeinanderzugehen“ all dieser rassischen
Orleans musiziert, was das „Zeug“ hielt. Unge-
deren die Spannungen und Anregungen, die sich
und musikalischen Gruppen bildete sich der New
fähr 30 Orchester gab es um Jahrhundertwende
aus der Tatsache ergaben, dass zwei verschie-
Orleans- Stil, der dem europäischen Marschrhyth-
in der Stadt. Die “Brassbands“, schwarze, aber
dene schwarze Bevölkerungsgruppen existierten.
mus noch sehr nahe steht. Den Melodieninstru-
auch weiße Marschkapellen spielten zu vielfältigen
Die
„amerikanischen“
menten Kornett (oder später Trompete), Posaune
Anlässen, Hochzeiten, Parties, Straßenfesten. etc.
Schwarzen. Die Kreolen Louisianas waren her-
und Klarinette stehen Rhythmusinstrumente Bass
auf, und natürlich endete die Musizierfreude nicht
vorgegangen aus der alten französisch-kolonialen
oder Tuba, Schlagzeug, Banjo oder Gitarre, mitunt-
an der Stadtgrenze. Der Blues-Komponist William
Mischkultur und vertraten die französische Kul-
er auch Klavier gegenüber.
Christopher Handy erzählt, dass man in Memphis
tur und waren meist wohlhabend. Ihre Vorfahren
um 1905 eine Musik machte, die kaum anders war
waren schon viel eher frei als die Nachkommen
als das, was man in den gleichen Jahren in New
der Schwarzen, die erst am Ende des Unabhängig-
Orleans spielte. Jede beliebige Zirkusband spielte
keitskrieges befreit wurden. Deren Herren waren
in dieser Art. Das ganze Stromgebiet war voll der
angelsächsischer Herkunft. Diese Gruppe bildete
“kreolischen“
und
die
“Where’s jazz going? I don’t know? Maybe it’s going to hell. You can’t make anything go anywhere. It just happens.” Thelonious Monk
1910 – 1940
16 Jazztimes
Dixiland A
1910
ufgrund
der
Zusammensetzung
Bevölkerung in New Orleans
der
war das
schah es oft genug, daß die schwarze Band „aus-
politischen, ausdrucksmäßigen und ästhetischen,
geblasen“ wurde“.
ethischen und ethnologischen Wesen kennzeich-
Jazzmusizieren nicht nur eine Ange-
Am 26. Februar 1917 nimmt die aus weißen Musik-
net“.
legenheit schwarzer Musiker. Schon früh hatte
ern bestehende „Original Dixieland Jass Band“
sich eine besondere weiße Spielart des New Or-
des Trompeters Nick LaRocca die erste Jazzplatte
leans Jazz herausgebildet. Weniger ausdrucks-
auf. Am 12. November 1925 machen Louis Arm-
voll,
etwas
strongs „Hot Five“ die ersten Aufnahmen. Drei
schneller, mit mehr Noten und Akzentuierungen
Jahre später ist der Jazz auch in Europa so populär,
in den Melodien. Oft lieferten sich schwarze
dass die erste Jazz-Klasse weltweit am Frankfurt-
und weiße Bands regelrechte Wettspielgefechte
er Konservatorium gegründet wird.
aber
dafür
technisch
versierter;
(context oder battle). Die Bands zogen in New Orleans auf Wagen - sogenannten band wag-
Im Zueinander der Rasse, das ist so wichtig in der
gons - oder marschierend durch die Straßen.
Entstehung und in der Entwicklung des Jazz ist, liegt das Symbol für das „Zueinander schlechthin“,
Wenn dann Papa Laine (gilt als Repräsentant des
das den Jazz in seinem musikalischen, nationalen
weißen Jazz) der Chef der weißen Band war, ge-
und internationalen, sozialen und soziologischen,
“If it sounds good and feels good, then it IS good!” Duke Ellington
18 Jazztimes
Chicago
1920 Jazz J
ede zeitliche Kategorisierung und Einordnung der der Jazzstile gibt nur einen groben Anhalt. Das heißt nicht, dass ein Stil den anderen konsequent ablöst, sondern dass entsprechend den jeweils gesell-
schaftlichen und sozialen Gegebenheiten neue musikalische Elemente und Ausdrucksformen hinzukamen, die dem jeweiligen Zeitgeist, der Lebensauffassung entsprachen. Im Hinblick auf die zwanziger Jahre war charakteristisch: die große Zeit der New Orleans Musiker, der klassische Blues und der Chicago-Stil.
Das Paradoxon ist, dass durch die Schließung von Storyville in New Orleans viele der arbeitslos gewordenen Musiker nach Chicago zogen. Die Folge: Der erste Stil des Jazz, der New Orleans-Stil, hatte seine Hochzeit nicht in der City am Mississippi-Delta, sondern in der Metropole am Michigan-See. King Oliver leitete die wichtigste New Orleans-Band in Chicago. Louis Armstrong gründete seine „Hot Five“ und „Hot Seven“ , Jelly Rolf Morton seine „Red Hot Peppers“. Hier entstanden die bereits erwähnten berühmten ersten Schallplattenaufnahmen, die den Jazz immer populärer machten.
Auch der Blues (ländliche Folksongs; größte Sängerin des klassischen Blues war Bessie Smith) hatte hier seine große Zeit. Doch bald wurden die volksliedartigen, bluesartigen Gesänge vom Hauptstrom der Jazzmusik aufgesogen. Innerhalb dieser vielfältigen Jazzszenerie versuchten nun vornehmlich junge weiße Schüler, Studenten, Amateurmusiker und Profis, den New-Orleans Stil nachzuahmen, in dessen Konsequenz der Chicago Jazz entstand. Ein musikalischer Unterschied u.a. war, dass das Solo eine immer größere Bedeutung gewinnt und das Saxophon, ursprünglich ein Militärinstrument, eine wichtige Rolle spielt.
“What we play is life.” Louis Armstrong
20 Jazztimes
Swing
1930 A
nfang der 30iger Jahre des zwanzig-
orchestrale Leistungen schlossen immer auch
Mitte der Jahrzehnts auch Europa in der Liga der
sten Jahrhunderts beginnt eine neue
großartige solistische Leistungen vor dem Back-
Jazzgrößen mit. Im Nachkriegsdeutschland und in
Ära in der Jazzgeschichte, es entsteht
ground der Bigbands ein (Benny Goodman / Klari-
der Weimarer Repubik ist Berlin ein Zentrum des
der Swing. Musikalisch und rhythmisch liegt jetzt
nette; Louis Armstrong und seine Trompete usw.).
europäischen Jazz. Deutsche und deutsch-ameri-
der Fokus auf den Four Beat Jazz (vier Schläge
Mit Django Reinhardt (1910-1953; namhafter belg.
kanische Jazzbands formieren sich und spielen.
des Metrums werden gleichmäßig durchgeschla-
Gitarrist, Komponist und Bandleader; Begründer
1929/1930 ist auch Sidney Bechet mit Studioband
gen; vorher Two Beat) Das ist jedoch eine recht
des europäischen Jazz) und seinem berühmten
in Berlin.
formale Einordnung. Swing generell ist ein rhyth-
“Quintett du Hot Club de France” spielt seit
misches Element, das in allen Phasen und Spielweisen dazugehört. Doch das Wort und der Stil werden zu einem Synonym für die wohl erfolgreichste Zeit des Jazz. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte, spielen auch hier wieder die gesellschaftlichen Verhältnisse eine entscheidende Rolle. Nach dem Börsenkrach, dem sogenannten „Schwarzen Freitag“ in den USA und den sich dramatisch verschlechternden sozialen Bedingungen während der Wirtschaftsdepression, gingen auch die Verkaufszahlen der Schallplatten zurück. Ihre Rolle übernahm mehr und mehr das Medium Radio und die Swing Musik der großen Orchester in den unterschiedlichsten Ausprägungen (Kansas City Jazz, Rhythm & B lue…) wurde zur vorherrschenden Populär- und Unterhaltungsmusik jener Zeit. Bandleader wie Benny Goodman, Count Basie, Duke Ellington, um nur einige berühmte Namen zu nennen, ziehen ein riesiges Publikum an und große
“I don’t care if a dude is purple with green breath as long as he can swing.” Miles Davis
1940 – 1970
24 Jazztimes
Modern Jazz Z
1940
um Ende der dreißiger Jahre wird eine
ments und eine „coole“ Ästhetik aus, die zum
aufnimmt. Fast ein Jahrzehnt war der Hardbop der
neue Stilrichtung kreiert: Der Bebop
Namensgeber dieser Stilrichtung wurde. Wichtige
im Jazz dominierende Stil.
(Synonym auch für hastig, nervös, Fet-
Vertreter sind neben Miles Davis der blinde Pianist
zen). Im Slang junger amerikanischer Halbstarker
Lennie Tristano sowie der Komponist und Arran-
In Deutschland gab es mit Beginn des Zweiten
bedeutete das Wort auch soviel wie Schlägerei,
geur Tadd Dameron.
Weltkrieges ein Verbot von englischer Musik, u.a.
Messerstecherei. Im musikalischen Sinne bestim-
auch des Swing. Doch es gab kein Jazzverbot per
mte Melodiensprünge; wobei alle Erklärungen
Gleichzeitig stehen die fünfziger Jahre auch für das
Gesetz, so dass es zu Beginn der 40er Jahre sogar
für das Wort Bebop fraglich sind). Jazzhistor-
Spannungsverhältnis von einen Jazzklassizismus,
zu einem Swing-Revival
iker sehen ihn aber als eine Antwort auf die im-
der sich an der Musik von Count Basies und Lester
ab 1941, wobei anfangs noch zu Spitzenorchester
mer stärker gewordenen Kommerzialisierung des
Young der dreißiger Jahre orientiert und dem Hard-
besetzter Länder Jazz und Swing mit deutschen
Swing und wird als Abkehr von der allgemeinen
Bop, der in der Tradition des Bebop steht, sich aber
Titeln spielten. Erst 1943/1944 kam das endgültige
Swingmode, weil die Musik immer formelhafter
durch eine einfachere Rhythmik und Melodik aus-
aus.
wurde, gewertet. Diese Unzufriedenheit führte
zeichnet und Elemente des Blues und des Gospel
kreative, besonders schwarze Musiker zusammen. Mit dem Bebop beginnt der Modern Jazz. Berühmte Namen, die u.a. für den Bebop stehen sind der Altsaxopon Charlie Parker, der Trompeter Dizzy Gillespie, der Pianist Thelonious Monk und der Schlagzeuger Kenny Clarke. Wichtig war diesen Musikern die Abgrenzung vom Jazz als Tanz und Unterhaltungsmusik und eine erweiterte Harmonik. Daraus resultierten dann die verschiedensten Strömungen, so u.a. die Aufnahme von lateinamerikanischen Elementen (AfroCubanJazz).
Wichtiger Kristallisationspunkt für den Bob war Minton‘s, wie 4 Jahrzehnte zuvor New Orleans. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung begann auch eine
Rückbesinnung
in
den
verschiedensten
Schattierungen auf die Quellen des Jazz.
Mit der Geburtsstunde des Cool Jazz ist der Name des ehemaligen Trompeters im Charlie Parker Quintett Miles Davis verknüpft. Die Musik seines Orchesters (Miles Davis-Capitol-Orchester) zeichnet sich durch komplexe
vielstimmige Arrange-
kam. Das änderte sich
“Records used to be documents, but now record companies want product.� Stan Getz
26 Jazztimes
Free Jazz
1960 U
ngefähr 1960 gibt es mit dem Free Jazz wiederum eine neue Phase in der Jazzgeschichte. Nach J.-E Berendt ist der Free Jazz u.a. im Wesentlichen gekennzeichnet durch eine neue
rhythmische Konzeption und durch die Einbeziehung der Weltmusik in den Jazz, der sich nun plötzlich allen großen Musikkulturen von Indien bis Afrika und von Japan bis Arabien öffnete. Wie immer an Wendepunkten war es die junge Musikergeneration, die nach neuen Formen suchte und oft auf dem Wege dahin die in ihren Augen „akademische Schulmusik” ablehnte.
Im Einzelnen darauf einzugehen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Nur so viel sei aus musikalischer Sicht dazu gesagt, dass der Free Jazz eine Abkehr von den Elementen der Jazzrhythmik - Metrik und Beats - vollzieht. An die Stelle des Beat trat der Puls, und das Metrum wurde ersetzt durch große rhythmische Spannungsbögen. Kurz gesagt, das freie, von ungeheurer Intensität gekennzeichnete Schlagzeugspiel ersetzte die traditionelle Schlagweise. Hinzu kam im Laufe der Zeit die Ausweitung der Musik in den Bereich der Geräusche und der Klänge. Bei vielen Musikern des Free Jazz klingen Saxophone wie ein intensiviertes „weißes“ elektronisches Rauschen. Trompeten wie unter atmosphärischen Überdruck zerplatzende Stahlkörper. Pianos wie zerspringende Drähte.
Innerhalb weniger Jahre gewann der Free Jazz seine Anhänger. Jazzhistoriker sind sich einig, dass mit ihm die Emanzipation des europäischen Jazz beginnt, wobei sich nationale und regionale Eigenheiten in den einzelnen Stilen mischen. Für die Die Avant-Garde der Free Jazzer war die Musik im modernen Technikzeitalter nicht mehr das Medium der Selbstbestätigung. Nicht die Musik folgt dem Hörer, sondern er muss ihr folgen und sich auf sie bedingungslos einlassen.
“Don’t play the saxophone. Let it play you.” Charlie Parker
1970 – 2000
30 Jazztimes
Fusion Z
1970
u Beginn der siebziger Jahre wird der Free Jazz durch den Jazzrock verdrängt. Ein Grund ist, dass die Rock- und
Soulmusik immer beliebter wird und exzellente Musiker wie Jimi Hendrix und James Brown schnell die Gunst des Publikums gewinnen. Durch die Kombination von Rock und Funkelementen und durch die immer stärkere Einbeziehung
elektrisch
verstärkter
Musikinstru-
mente wie E-Piano, Syntheziser oder E-Gitarre bildete sich ein Genre heraus, das unter dem Namen Jazz Fusion bekannt geworden ist.Kennzeichnend ist für das Jahrzehnt u.a. auch das Comeback des Swing und des Bebop. Selbstverständlich gibt es auch hier Überlappungen, Verzweigungen und Verbindungen zwischen allen Spielweisen.
Als Geburtsstunde des amerikanischen Rockjazz werden vielfach die Miles-Davis-Alben (u.a. „In a Silent Way”)genannt. Der Rockjazz brachte vielen Musikern, sowohl in Amerika als auch in Europa, große kommerzielle Erfolge. Diese Stilrichtung sprach vor allem junges Publikum an. Ein weiterer Zweig des Fusion-Stil war der Jazzfunk.
Aber schon Mitte der 70ziger Jahre setzte eine Rückbesinnung ein; gekonnt arrangierte Musik, gekennzeichnet durch vitale Jazzimprovisationen (Ornette Colemann, Dave Douglas..) gewannen die Oberhand.
“Music washes away the dust of every day life.” Art Blakey
32 Jazztimes
Neobop
1980
D
ie Jazzszene ab 1980 ist äußerst vielge-
Jazz-Rap usw.
staltig. Es gibt keinen klar umrissenen
Bewährtes aus der Vergangenheit aufgreifen wie
Mainstream. Selbst die Abgrenzung des
den Retro-Swing oder den Pop-Jazz (z. B. Sängerin
Jazz zu anderen Stilrichtungen und der Weltmusik
Daneben gibt es Spielarten, die
Norah Jones).
wird unscharf. In den frühen 1980er Jahren wird häufig auf die Zeit der Stile der 1950er und 1960er
Gleichzeitig gibt es eine Szenerie des Avant-Garde
Jahre zurückgegriffen. Viele Subgenres des Jazz
Jazz im Modern Creative Jazz, eine zeitgenös-
gibt es; Soul Jazz steht neben Hip Hop Jazz und
sische Variante des Free Jazz. Diese vertritt einen
hohen Kunstanspruch und eine anti-kommerzielle Haltung.
“Jazz was born out of the whiskey bottle, was raised on marijiana, and will expire on cocaine.� Artie Shaw
34 Jazztimes
Ausklang D
er Jazz hat in seiner über 150jährigen Geschichte
eine
große
Entwicklung
durchlaufen, und die unterschiedlichsten
Stile und Strömungen hervorgebracht, die stets in einem kreativen Mischungsverhältnis standen und immer einem bestimmten Zeitgeist entsprachen. Die unbeschwerte Zeit des Dixieland entspricht der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Im Chigaco-Stil lebt die Unruhe der roaring twenties. Der SwingStil verkörpert die Sicherheit und die massierte Standardisierung des Lebens vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Bebop ist die unruhige Nervos-
ität der der vierziger Jahre eingefangen. Im Cool gibt es viel von der Resignation der Menschen, die gut leben und doch wissen, daß die Wasserstoffbombe gebaut wird. Der HardBop ist voller Protest, der aber sofort von der Mode der Funkund Soul Musik konform gemacht wird, worauf im Free Jazz die oft zornige Heftigkeit gewinnt, die für die Zeit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der Studentenrevolten bestimmend war. Im Jazz der siebziger Jahre setzte erneut eine Phase der Konsolidierung ein. Dagegen umfaßt der Jazz der achtziger Jahre viel von der Skepsis der Menschen, die in Wohlstand leben, aber auch wissen, wohin sie ein permanenter, unhinterfragter Fortschritt gebracht hat.
36 Jazztimes
Dieter Gützkow
Ein Berufsmusiker auf Umwegen Herr Gützkow, Sie wurden 1935 in Berlin ge-
In der Nacht vom 12. zum 13. August 1961 spielte
in denen es üblich war, dass viele Jazzclubs eine
boren und sind in der Stadt auch aufgewach-
ich auf einer Hochzeit in West-Berlin. Da ich mein-
eigenes „Haustrio“ hatten, meist bestehend aus
sen. Musik bestimmte schon in der Kindheit
en Kontrabass und einen Smoking bei mir hatte,
Piano, Schlagzeug und Kontrabass und die interna-
ihren Tagesablauf mit. Bei wem erhielten sie
blieb ich nach dem Bau der Mauer gleich in West-
tionalen Jazzgrößen manchmal zu mehrwöchigen
zuerst Unterricht?
Berlin.
Engagements anreisten. Die Liste der Top-Jazzer
„Genaugenommen bin ich „erblich“ vorbelastet,
Mein Leben als Musiker verlief rückblickend, so
ist lang, und die Namen kennen oftmals nur Einge-
wie man landläufig so sagt. Meine Mutter war Kla-
kann ich sagen, von 1961 bis Mitte der 1980er
weihte. Stellvertretend möchte ich nur, dass ich
vierlehrerin, mein Vater Geiger. Da lag es natürlich
Jahre in mehreren Phasen. In meiner „Theater-
besonders nette Erinnerungen an ART FARMER,
nahe, dass ich schon früh Unterricht bekam. Zu-
phase“ war ich zum Beispiel mehrere Jahre freier
DEXTER GORDON und DON BYAS habe.
erst kam das Klavierspielen, später lernte ich dann
Mitarbeiter an Theatern, hauptsächlich in Berlin.
Geige, Akkordeon, Tuba.
Ich spielte u.a. am Schillertheater, im Theater des
Haben sie eine Stilrichtung, die sie besonders
Westens, im Schloßparktheater und im Hebbelthe-
bevorzugen bzw. besondere spezielle Vorbilder ?
Trotz dieser intensiven Berührung mit der
ater.
Ich habe in allen Stilen, einschließlich Freejazz, Er-
Musik in der Kindheit nahm ihre berufliche
Danach lockte mich die weite Welt. Ich ging.auf
fahrung sammeln können. Ganz spezielle Vorbilder
Entwicklung nach dem erst einmal einen ganz
Tourneen durch Italien, Schweiz, Deutschland.
habe und hatte ich nicht. Am meisten interessi-
anderen Verlauf.
Eine ganz besondere Erfahrung für mich war auch
erten mich die Piano-Trios, egal, welcher Bassist
Ja, zunächst wollte ich nach dem Abitur Chemie
mein Musikerdasein auf „Kreuzfahrten“. Es war
dort spielte. Daraus resultiert auch meine unge-
an der Humboldt-Universität studieren. Doch nach
anstrengend, aber ich habe auch viel gesehen. Eu-
brochene Vorliebe mit Trio-oder Duo-Jazz in den
zweimaliger Ablehnung - meine Eltern gehörten
ropa, Südostasien, Nord-, Mittel-, und Südameri-
moderneren Richtungen zu spielen.
ja nicht zur Arbeiterklasse - ging ich nach West-
ka. Es war schon eine unruhige Zeit, die dann
Berlin. An der Sophie-Scholl Schule in Schöneberg
durch eine sogenannte „Studiophase“ abgelöst
Sie sind 1935 geboren, geht es musikalisch
holte ich das 13. Schuljahr nach, machte also noch
wurde. Fast 10 Jahre dauerte diese Zeit, in der ich
jetzt „ruhiger“ zu?
ein West-Abitur und begann ein Chemiestudium
als Musiker für Schallplattenaufnahmen, für Fern-
Ja natürlich meine bewegte „Reisezeit“ mündete
an der Freien Universität Berlin. Da ich mein Studi-
sehproduktionen bzw. Werbeproduktionen unter
in die freiberufliche Tätigkeit als Lehrer für Klavier,
um finanzieren musste, arbeitete ich nebenbei als
Vertrag stand und Geld verdiente.
Gitarre, Akkordeon und Kontrabass, sozusagen
Musiker, vornehmlich als Pianist und Gitarrist und
mein „Broterwerb“. Meine eigene Musikertätig-
ging auch Mitte der Fünfziger Jahre mit dem Ber-
Wann wurde der Jazz für sie das bestimmende
keit ist jetzt mehr mein Hobby, dem ich gerne, aber
lin-Jazz- Quintett auf Tournee durch Westdeutsch-
Element ?
auch wesentlich eingeschränkter nachgehe. Dazu
land. Das Studium hängte ich nach dem Vordiplom
Nach meiner sogenannten Studiophase war ich
gehören Auftritte in Berlin und - sehr selten noch
an den „Nagel“ und war von diesem Zeitpunkt an
fast ausschließlich als „Jazzmusiker“ tätig, ob-
- nehme ich auch Engagements außerhalb Berlins
„nur“ noch als freiberuflicher Musiker tätig, zuerst
wohl ich mit dieser Bezeichnung immer sehr
an. So bleibt auch mehr Zeit für die Familie.
hauptsächlich als Tanz -und Orchestermusiker.
zurückhaltend umgehe. Ich hatte vor wiegend Engagements in Jazzclubs, spielte auf Jazzkonzerten
Was zeichnet Ihrer Meinung nach einen guten
Wann gehörte der Bass zu ihrem Begleiter ?
- dann nur Kontrabass. Das war eine sehr kreative
Jazzmusiker aus ?
Schon alsbald, da ich nach Gehör sofort bestimmte
Zeit, zumal ich das Glück hatte, Engagements und
Das absolut Notwendige ist für mich die Fähigkeit
Stücke nachspielen konnte, war es mir möglich,
Konzerte mit vielen der ganz großen Jazzmusiker,
zum Improvisieren. Charakterlich sollte er nicht
mein Übungspensum relativ gering zu halten. Also
überwiegend aus den USA, zu haben.
nur Solist sein, sondern sich im Team, in der Band
ein Quentchen Faulheit war mit im Spiel.
auch einfügen können. Welche Begegnungen und Auftritte sind Ihnen
Wie verlief Ihr Berufsweg als Musiker ?
in besonderer Erinnerung ?
Ein wichtiger Einschnitt war sicher das Jahr 1961.
Besonders haben mich die Jahre intensiv geprägt,
“Das absolut Notwendigste ist für mich die Fähigkeit zu Improvisieren” Dieter Gützkow
“Jazz is not dead, it just smells funny.� Frank Zappa