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Interview: „Schritte setzen, Wege gehen
from ERKER 11 2020
by Der Erker
„Schritte setzen, Wege gehen“
Im Gespräch mit Waltraud Deeg über Frauen in Politik und Wirtschaft
Vor kurzem wurde Waltraud Deeg zur Landeshauptmann-Stellvertreterin gewählt. Zwar nicht gerade unter den günstigsten Umständen, da ihr Vorgänger Arnold Schuler sein Amt wegen des 600-Euro-Bonus-Skandals räumen musste – dennoch schmälert das nicht die Leistung der Landesrätin für Familie, Senioren, Soziales und Wohnbau, die als zweite Frau in der Südtiroler Geschichte nach Luisa Gnecchi in dieses Amt berufen wurde.
Erker: Frau Deeg, was möchten Sie als Stellvertreterin des
Landeshauptmannes bewegen?
Waltraud Deeg: Der größeren Aufmerksamkeit bin ich mir noch nicht so ganz bewusst. Grundsätzlich sollte eines nicht passieren, und zwar, dass mich das Amt verändert. Die Dinge, die mir vorher wichtig waren, wie Familie, Senioren, die Jugend, die Menschen an sich, sind mir in meiner neuen Funktion immer noch wichtig.
Was sind Ihre ersten Erfahrungen?
Es hat mich schon gewundert, wie sehr die Menschen die neue Funktion bereits wahrnehmen. Gegenüber vom Landhaus beispielsweise gibt es eine kleine Bar, die von einem italienisch sprechenden Herrn geführt wird, mit dem ich manchmal ein paar Worte gewechselt habe. Vor kurzem habe ich die Bar wieder besucht und wurde von diesem Herrn mit den Worten begrüßt: „Ho visto che ha fatto un passo in avanti!“ Da musste ich erst einige Sekunden überlegen, was er gemeint hat. Ich habe mich gewundert, aber auch gefreut und dann hat sich ein nettes Gespräch entwickelt. Es überrascht mich im positiven Sinne,
Waltraud Deeg: „Wenn man in einem Zuhause mit vielen politisch denkenden Menschen aufwächst, dann packt es einen irgendwann.“
dass die Leute meine neue Funktion wahrnehmen. Ich habe nämlich den Eindruck, dass die Politik zurzeit nicht die größte Sorge der Menschen ist.
Aus welchem Grund haben
Sie sich für die Politik entschieden?
Nach meinen Kindheitserfahrungen – ich wurde mit 15 Jahren Vollwaise – habe ich beschlossen, nicht in die Politik zu gehen. Wenn man aber in einem Zuhause mit vielen politisch denkenden Menschen aufwächst, dann packt es einen irgendwann, man sieht, dass man etwas verändern kann, und bekommt Lust darauf. Als ich diesen Schritt wagte, habe ich gleichzeitig beschlossen, mich nicht von diesem Amt abhängig zu machen. Politische Tätigkeit funktioniert nicht, wenn man immer Angst haben muss, ob man in fünf Jahren wiedergewählt wird. Mir ist wichtig, die Menschen im Entscheidungsprozess mitzunehmen – etwas, was in der heutigen Politik leider viel zu oft vernachlässigt wird. Deshalb nehme ich mir immer die Zeit, bei den verschiedenen Anlässen mit den Leuten zu reden. Der Zugang zu den Problemen der Menschen ist ein anderer, wenn man mit ihnen spricht, als wenn man sich nur darauf beschränkt, Berichte darüber zu lesen.
Vor kurzem waren Sie im Rahmen der Technikerinnen-Tour in Sterzing zu Gast. Aufgrund des Fachkräftemangels entdeckt die Wirtschaft das Potential der Frauen. Wie wichtig sind solche Projekte bzw. wie wichtig ist es, dass die Politik sie unterstützt?
Es ist sehr wichtig, Projekte und Organisationen wie Wnet zu unterstützen, weil sie die Basis sind, damit Frauen überhaupt in Führungspositionen aufsteigen können. Nicht nur die Kompetenz, sondern vor allem auch die Vernetzung spielt hier eine sehr große Rolle. Vielleicht unterschätzen das die Frauen zu oft. Ein Frauennetzwerk ist wichtig, aber mir gefallen gemischte Netzwerke noch besser. Auch auf Gemeindeebene ist eine Kommission für Chancengleichheit vorgesehen, wo mindestens eine Stelle von einem Mann besetzt sein muss. Wenn ich mich an meine Gemeindetätigkeit zurückerinnere, musste es immer ein Freiwilliger sein, der sich zur Verfügung gestellt und damit auch das Mitleid der Kollegen geerntet hat, sich zwischen den ganzen Frauen aber oft sehr wohlfühlte. Wichtig ist, Schritte zu setzen und Wege zu gehen.
Sollte die Politik mehr Einfluss auf die Schulbildung nehmen und sie dahingehend beeinflussen, dass den Mädchen verstärkt Chancen und Möglichkeiten einer technischen
Ausbildung aufgezeigt wird?
Wenn man erst in der Schule damit beginnt, ist es zu spät. Schule ist ein wichtiger Faktor, aber es muss viel früher beginnen – nämlich im Kleinkindalter und beim Spielzeug. Es wird vorausgesetzt, dass Mädchen Puppen bekommen, aber warum nicht einen Baukasten? Die Motivation muss im Elternhaus erfolgen, später in der Schule können es dann auch Lehrpersonen sein, die wesentlichen Einfluss auf die Berufswahl haben. Ich glaube aber nicht, dass man die Einstellung der Frauen zur Technik politisch, sozusagen von oben herab, beeinflussen oder verordnen kann, im Endeffekt liegt es an den Menschen, an der Gesellschaft.
Kürzlich feierte das Gleichstellungs- und Frauenförderungsgesetz des Landes seinen 10. Geburtstag. Hat sich seitdem etwas verändert?
Es war mit Sicherheit ein Meilenstein und für die damaligen Politikerinnen ein harter Kampf. Es ist schade, dass wir im Jahr 2020 noch Quoten brauchen, aber wir brauchen sie – nicht, weil Frauen nicht die gleiche Leistung wie ihre männlichen Kollegen erbringen können, sondern weil ihre Leistungen nicht wahrgenommen werden. Ich denke, dass es auch in der Politik weibliche Vorbilder braucht. Wir haben mit Ursula von der Leyen eine EU-Kommissionspräsidentin, mit Angela Merkel eine Bundeskanzlerin und mit Christine Lagarde eine Präsidentin der Europäischen Zentralbank – das tut gut und ebnet Wege. Natürlich ist es für Frauen immer noch um einiges schwieriger, in solche Positionen zu gelangen. Besonders leidvoll war es für mich, Theresa May zu beobachten, die in einer äußerst schwierigen Situation versucht hat, den Brexit zu händeln. Ich hatte den Eindruck, dass sie, wie man im Südtirolerischen sagt, „aufmarendet“ wurde.
Viele Parteien klagten im Vorfeld der Gemeinderatswahlen, dass sie kaum weibliche
Kandidaten fänden. Worin liegt Ihrer Meinung nach die
Ursache dafür?
Einerseits hat uns gerade die Corona-Pandemie gezeigt, dass Frauen in besonderer Weise betroffen und zwischen Arbeit und Erziehungstätigkeit eingespannt waren. Ich denke, dass viele Frauen Prioritäten setzen mussten und der Familie Vorrang gegenüber einer politischen Tätigkeit in der Gemeinde eingeräumt haben. Zum anderen liegt es ein wenig in der Natur der Frauen, dass sie sich nicht in die erste Reihe drängen und nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen möchten. Ein Wahlkampf verlangt, dass man Veranstaltungen besucht, den Kontakt sucht und beispielsweise Hausbesuche macht. Ich habe erlebt, dass viele Frauen, die zwar sehr engagiert und politisch interessiert sind, ihre Schwierigkeiten damit haben. Ich hatte beispielsweise am Beginn meiner politischen Laufbahn sehr große Schwierigkeiten, mich vorne hinzustellen und eine Rede zu halten oder auch nur in der ersten Reihe zu sitzen. Im Grunde repräsentieren wir ja nur die tollen Menschen, die meistens in der letzten Reihe stehen. Jene Menschen, die der Geschichte Leben einhauchen, stehen immer hinten, was aber so ausgelegt wird, als ob sie sich nicht trauen würden, nach vorne zu gehen.
Das eine ist, potentielle Kandidatinnen zu finden. Gibt es dann eine Liste mit rund der Hälfte oder einem Drittel
Frauen, werden trotzdem die
Männer gewählt ...
Das ist die Gretchenfrage! Warum werden Frauen weniger gewählt und, vor allem, warum werden Frauen nicht von Frauen gewählt? Ein Punkt ist, dass Frauen thematisch vor allem mit den Bereichen Familie und Soziales in Verbindung gebracht werden. Ich erlebe immer wieder, dass eine Umfahrung oder andere bauliche Maßnahmen wichtiger zu sein scheinen als ein sogenanntes Frauenthema. Es wäre für die Frauen gut, wenn sie sich breit aufstellen, das heißt, dass eine Frau genauso gut Wirtschaftsthemen besetzen kann. Es ist wichtig, dass sie eine breite Palette spielen und dass sie authentisch sind. Bis zu einem gewissen Grad ist das ein Kulturprozess. Wenn man bedenkt, dass das Frauenwahlrecht erst 1948 eingeführt wurde und wie jung die Geschichte des passiven Frauenwahlrechts ist, muss man sich bewusst werden, dass Gott die Welt auch nicht an einem Tag erschaffen hat. Es wird einfach noch Zeit brauchen, vor allem müssen aber Frauen weniger kritisch ihrem Geschlecht gegenüber sein.
Wie haben Sie den Wahlkampf-Modus erlebt?
Ich hatte immer sehr große Schwierigkeiten, bedingt durch die Tatsache, dass ich eine kleine Statur habe. Ich habe immer wieder Männer erlebt, die sich mit Genuss vor mir „hingepflanzt“ haben – auch bei offiziellen Fotos; es scheint vielen Männern offenbar wichtig zu sein, in der ersten Reihe zu stehen. Hier hört mein Verständnis auf, aber das ist nun einmal Politik, wo das Image eine große Rolle spielt. Es dreht sich alles darum, was man vermittelt und manche sind sehr geschickt in ihren großen Gesten. Das muss man lernen, weil es ein Teil des Spiels ist. Es sind Rollen, die man ausfüllt, und wenn man sie nicht ausfüllt, wird das negativ wahrgenommen. Deshalb bedeutet meine neue Funktion vielleicht auch ein „Hineinwachsen-Müssen“ in eine neue Rolle.
Quotenfrauen – notwendig
oder ein Übel, das sich letztendlich gegen die Frauen selbst richtet, weil sich Männer zurückgesetzt fühlen?
Das würde ich verstehen, wenn wir eine Frauenquote von 50:50 oder umgekehrt 80:20 hätten. Es kann sein, dass es manchmal ein Thema ist. Aber dafür hätte ich keinerlei Verständnis.
Was können Frauen in der
Politik besser als Männer?
Ich bin, das muss ich ganz ehrlich sagen, nicht für solche generellen Aussagen, weil sie immer zu kurz greifen. Aber eine Stärke der Frauen ist – ein Klassiker – die Kommunikation. Dahinter versteckt sich sicher bis zu einem bestimmten Grad ein Harmoniebedürfnis. In dieser Kombination versucht man im Zweifel, auf einen Nenner zu kommen, was wiederum dann oft auch als Schwäche ausgelegt wird. Gerade in unsicheren und turbulenten Zeiten wird der Ruf nach dem starken Mann laut. Was Frauen auch auszeichnet, ist ihre Hinwendung zum Sozialbereich. In den verschiedenen sozialen Diensten und Ämtern sind vorwiegend Frauen tätig sind, eine große Stärke liegt auch in ihrer Fähigkeit zur Teamarbeit. Männer sind zielstrebiger darin, dorthin zu kommen, wo sie hinwollen. Frauen dagegen sagen sich: Ich probier’s. Wenn’s geht, dann ist es okay, und wenn nicht, dann ist es auch okay.