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WIE WOLLEN WIR IN ZUKUNFT ARBEITEN
Nie haben so viele Menschen die Großstadt verlassen und einen Neuanfang im ländlichen Raum gewagt. Doch was braucht es, damit das Zusammenspiel von Job, Familie, Freizeit dort auch gelingt? Text: Tatjana Krieger
Ein Blick auf die Zukunft der Arbeit beginnt zwangsläufig mit einer Reise zurück in das Jahr 2020, in eine Zeit, in der das Coronavirus noch als „neuartig“ beschrieben wurde. Wer damals von ortsunabhängigem Arbeiten, freier Zeiteinteilung und virtuellen Konferenzen schwärmte, wurde belächelt. New Work? Das war bestenfalls etwas für Startups. Dann ging die Welt in den kollektiven Lockdown.
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Drei Jahre später sitzen Angestellte und Selbstständige in Irland oder Spanien, wo sie für ein halbes Jahr ein Ferienhaus gemietet haben, um dort zu arbeiten. Unternehmen buhlen in Stellenanzeigen mit dem Hinweis „100 Prozent remote möglich“ um Bewerber, und digitale Tools zur Zusammenarbeit werden inzwischen so souverän wie das Angebot im Onlineshop genutzt. Sogar Betriebe der typischen Old Economy bieten ihren Beschäftigten nun an, den Aufenthalt am Urlaubsort zu verlängern, um auf der Ferieninsel oder in den Bergen wieder loszulegen. Einer Untersuchung der Jobbörse Indeed zufolge haben Jobs, die sich teilweise oder ganz im Homeoffice erledigen lassen, zwischen Januar 2019 und September 2022 bis zu 1.200 Prozent zugelegt. Sprich: Über das Arbeiten an selbst gewählten Orten, wann immer man sie erledigen mag, sogar über unterschiedliche Zeitzonen hinweg, lacht niemand mehr.
Der Arbeitswelt haben der pandemiebedingte Stillstand und die damit einhergehenden Isolationspflichten einen gehörigen Schub Richtung Zukunft verpasst. Viele Unternehmen haben gelernt, dass Arbeiten auf Distanz funktioniert. Nur wenige trauen sich, diese Errungenschaften wieder rückgängig zu machen und ihre Belegschaft vollständig ins Büro zurückzupfeifen. Gleichzeitig hatten Beschäftigte noch nie zuvor so gute Chancen, für ihre Wunscharbeitsbedingungen einzutreten: „Die Demografie sorgt für gewaltige Verschiebungen in der Arbeitswelt“, erklärt Philipp Staab, Professor für Soziologie der Zukunft der Arbeit an der Humboldt Universität zu Berlin. „Der heute schon zu beobachtende Fachkräftemangel spielt den Beschäftigten in die Hände. In einem Arbeitnehmermarkt werden sie sich künftig noch besser aussuchen können, für welche Unternehmen sie an welchem Ort arbeiten“, prognostiziert er. Firmen sind heute also gezwungen, ihren Angestellten und Bewerbern entgegenzukommen: Sei es mit Arbeitszeitmodellen in Teilzeit, RemoteJobs oder einem persönlichen Zuschnitt der Aufgaben je nach Stärke und Talent. Spätestens wenn sich die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in wenigen Jahren in den Ruhestand verabschieden, werden sich die Betriebe der Macht der Arbeitnehmer*innen endgültig unterwerfen müssen. Die große Freiheit hat gerade erst begonnen.
Eine, die die Zeitenwende für sich genutzt hat, ist die Kommunikationsmanagerin Andrea Rothäusler. Trotz ihres Jobs am Flughafen München packte sie im Sommer 2021 ihre Sachen und zog mit ihrer Familie ins Allgäu – rund 180 Kilometer entfernt von ihrem Arbeitsplatz. „Nach der Geburt unseres zweiten Kindes war die Dreizimmerwohnung in München zu klein“, erzählt die 39Jährige. „Dass wir in der Stadt nicht finden würden, was wir suchten, war schnell klar.“ In der Gemeinde Kißlegg mit rund 9.000 Einwohner*innen, zwischen Alpen und Bodensee gelegen, hat die Familie am Ortsrand ein Haus bezogen: mit Arbeitszimmer im Dachgeschoß für die Eltern und Garten für die Kinder. An den Flughafen fährt Rothäusler bestenfalls alle zwei Wochen, die übrige Zeit verbringt sie im Homeoffice. An Kernarbeitszeiten ist sie nicht mehr gebunden. Was zählt, ist, dass sie ihre Aufgaben erledigt – wo und wann entscheidet sie in Eigenregie.
Mit ihrem Entschluss, der Großstadt den Rücken zu kehren, steht die Flughafenmitarbeiterin gleich für mehrere Trends: räumlich wie zeitlich selbstbestimmtes Arbeiten sowie einen Lebensmittelpunkt abseits eines Ballungsraums. Schließlich führen jüngste Wanderungsbewegungen weg von den Metropolen. Wie eine Erhebung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) zeigt, sind allein im Jahr 2021 über 100.000 Menschen aus deutschen Großstädten weggezogen – die größte Abwanderungswelle seit 1994. Umgekehrt hat sich das Wachstum der Metropolen verlangsamt. „Vor allem gut angebundene kleine und mittelgroße Städte profitieren davon, dass Menschen sich dort mehr Lebensqualität versprechen“, sagt auch Soziologe Staab. Und so waren es bayernweit zwischen 2018 und 2020 ausgerechnet bislang blinde Flecken auf der Landkarte, die Wachstumsraten von teilweise über vier Prozent verbuchen konnten, darunter Adelsdorf im Landkreis ErlangenHöchstadt, Oberschneiding im Kreis Straubing oder Brannenburg bei Rosenheim.
Cordelia Polinna zufolge haben die Menschen vor allem den permanenten Kampf satt, der mit dem Leben in der Großstadt einhergeht. Die Berlinerin ist Stadtplanerin, zuletzt gehörte sie dem Stadtplanungsbüro Urban Catalyst an. Sie sagt: „Mittlerweile sind Städte so teuer geworden, dass man um alles kämpfen muss: um eine bezahlbare Wohnung, um jeden Parkplatz, um Freiräume für Künstler und Musiker.“ Gemeinsam mit dem Architekten Simon Breth hat sie daher das Institut für Resilienz im ländlichen Raum (IRLR) gegründet, das sich mit den Schnittstellen von Architektur, Stadtplanung und Zukunftsforschung mit nachhaltigen Raumentwicklungsprojekten beschäftigt.
Neustart im ländlichen Raum, das gilt auch für das Leben der beiden Gründer: Simon Breth ist bereits in die Lausitz übergesiedelt, wo er auf einer riesigen Fläche Werkstätten eingerichtet hat, eine Pension und Räume, in denen Bands ihre Songs aufnehmen können. Cordelia Polinna ist gerade dabei, mit Freunden ein Haus auf dem Land zu kaufen. Schon heute stimmen sie ihre Zusammenarbeit hauptsächlich über das Telefon oder digitale Tools ab. „Viele merken, dass sie sich im ländlichen Raum ganz anders entfalten und ein Leben mit mehr Selbstwirksamkeit führen können.“ Ein Umstand, den auch Kommunikationsmanagerin Andrea Rothäusler nicht mehr missen will: Zurück in die Stadt? Das kommt für sie nicht mehr infrage. „Mein Leben ist hier so viel besser geworden.“
Gemeinden, die infolge dieses Bewusstseinswandels auf dem Radar der Stadtflüchtlinge auftauchen, bietet diese Entwicklung gewaltige Chancen. Der ländliche Raum, dem vor wenigen Jahren noch sorgenvoll eine dahinsiechende Zukunft vorhergesagt wurde, blüht wieder auf. Ein Trend, den auch Andreas Hügerich beobachtet, seit 2014 Bürgermeister in Lichtenfels: „Noch vor wenigen Jahren klang unsere Bevölkerungsprognose dramatisch. Stattdessen haben wir unsere Einwohnerzahl konstant bei rund 20.000 halten können“, erzählt er. Die Neuansiedlung von Technologie und Gewerbe habe die Stadt revolutioniert. Spürbar sei das beim Handel, in der Gastronomie und im Wohnungsbau. „Die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt ist enorm gestiegen.“ Auch sei die Vielfalt an Restaurants, Einkaufsmöglichkeiten und Freizeitangeboten deutlich größer. Schließlich profitiert der ganze Ort davon, wenn junge Leute gar nicht erst wegziehen oder später immerhin zurückkehren; sein Ziel also: die Bevölkerungszahl konstant halten. Um die Bedürfnisse von Familien mit minderjährigen Kindern zu erfüllen, hat Lichtenfels die bestehenden Einrichtungen für die Kinderbetreuung erweitert und neue gebaut. In den kommenden Jahren will Hügerich die Kapazitäten weiter ausbauen.
Zudem ist Lichtenfels seit Oktober 2022 Hochschulstandort. In Kooperation mit der Hochschule Coburg können Studierende dort ihren Master in Additive Manufacturing and Lightweight Design machen. Das neue Forschungs und Anwendungszentrum für digitale Zukunftstechnologien (FADZ) soll außerdem helfen, HightechThemen in der Region zu verankern, und weitere Firmen und damit Arbeitsplätze anzuziehen. Um all das möglich zu machen, ist auch neuer Wohnraum gefragt. „Allerdings wollen wir nicht neue Flächen versiegeln und als Bauland ausweisen“, so der Bürgermeister. Vielmehr will er Leerstände wiederbeleben, Brachflächen reaktivieren und den Fokus auf die Innenstadtentwicklung legen. Denn wie gut das Miteinander zwischen alten und neuen Bewohnern funktioniert, entscheidet sich seiner Meinung im öffentlichen Raum. „Wir versuchen, ein großes Kulturangebot zu schaffen“, so Hügerich. Gerade Veranstaltungen, zu denen alle eingeladen seien, unabhängig von Geldbeutel, Herkunft und Alter, seien ein wichtiger Beitrag zur Integration.
Daten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zeigen auch, dass es vor allem Familien sind, die den Trend zur Kleinstadt verfestigen. Damit eine Gemeinde für Eltern als Wohnort in Betracht kommt, sind laut Stadtplanerin Polinna zwei Faktoren entscheidend: „Wichtig ist eine gute, vielfältige und partizipative Bildungslandschaft. Aus der Großstadt kennen Familien bilinguale und freie Schulen sowie Einrichtungen, die viel Mitbestimmung der Eltern erlauben. Das erwarten sie auch an ihrem neuen Wohnort.“ Diese Ansprüche stellen die Kommunen vor Herausforderungen, die notfalls nur im Verbund mit Nachbargemeinden zu stemmen sind. „Gleichzeitig müssen sich Verwaltungen modernisieren“, so Polinna. Denn mit dem Zuzug steigt auch der Druck auf die Infrastruktur. „Probleme, die man aus boomenden Großstädten kennt, erreichen mit dem Bevölkerungswachstum auch ländliche Kreise.“ Behörden sind also gut beraten, wenn sie ihr Personal aufstocken und weiterbilden, damit Wohnraum nicht in Investorenhände fällt und für Einheimische unerschwinglich wird. Doch auch die neuen Bewohner sind gefragt, damit sie sich nicht in abgeschotteten Neubaugebieten am Ortsrand einigeln oder einsam fühlen. Gerade in Dörfern beruht das Zusammenleben oftmals auf einer Mitmachmentalität und ehrenamtlichem Engagement, auf das man Lust haben sollte – sei es bei der freiwilligen Feuerwehr, einem Verein für Kindernotbetreuung oder dem Weihnachtsmarkt. Zudem ist ein gewisses Maß an kultureller Sensibilität hilfreich. Nackte Yogis, die auf den Dorfstraßen herumtanzen: Was sich anhört wie eine überspitzte Szene aus einem StadtgegenLandRoman, hat es so schon gegeben, erzählt die Berliner Stadtplanerin. Andersherum bringen Neuankömmlinge oftmals auch gute neue Ideen mit. So entstehen im ländlichen Raum zunehmend CoWorkingSpaces, wie man sie aus der Stadt kennt. Ortsungebundene Selbstständige oder auch Festangestellte mieten sich dort stunden oder tageweise einen Büroplatz, um ihrer Arbeit nachzugehen, Meetings abzuhalten oder Kunden zu empfangen. Ein Blick auf die Webseite von CoWorkLand etwa gibt einen Einblick, wie abwechslungsreich die neue Arbeitswelt in der Provinz aussehen kann: sei es in einer Jurte, in einem Container oder in einem Tiny House. Ein weiterer Vorteil: „Anders als in Berlin Mitte oder am Hamburger Gänsemarkt arbeiten bei uns nicht nur die typischen Vertreter der digitalen Boheme“, erklärt CoWorkLandGeschäftsführer Ulrich Bähr. „Auch Steuerberater, Pädagogen oder Handwerker nutzen die Räume. Die Durchmischung auf dem Land ist viel größer.“ Das beziehe sich auch auf die Altersstruktur.
Für viele Berufstätige bedeutet die neue Unabhängigkeit, dass das Diktat der Arbeit über das Leben schwindet. Zog man früher dem Job in die Ballungsräume hinterher, wenn auch nicht immer freiwillig, so kann man heute und in Zukunft wohnen, wo man sich das größte Lebensglück verspricht. Familie, Freizeitgestaltung und Wohnsituation der Arbeit unterordnen? Kommt für viele heute immer weniger infrage. Gut möglich, dass auch persönliche Begegnungen künftig zwischen lebensechten und alterslosen Avataren im Metaverse stattfinden werden, wenn eines Tages eine künstliche Intelligenz in einer naturgetreuen Kopie unsere Persönlichkeit in Verhandlungen ersetzt. Damit sich erfüllt, was technisch möglich wäre, bleibt die fortschreitende Digitalisierung auf dem Land entscheidend. Erst wenn überall ein schneller Datentransfer gewährleistet ist, wird der moderne Arbeitnehmer*innen tatsächlich komplett frei sein, sich dort niederzulassen, wo sie möchten.
Kontrast aus Tradition und Moderne: Im Zenntal westlich von Nürnberg liegt der Hammerhof. In der dazugehörigen Macherscheune entstehen Zukunftsideen.