5 minute read

IM LEBENSTRAUM GEFANGEN

Next Article
MEDIENTIPPS

MEDIENTIPPS

Die Alte Nationalgalerie in Berlin widmet sich in einer groß

angelegten Sonderausstellung der Kunst des belgischen Symbolismus.

In einem auffälligen Breitformat sieht man eine junge Frau mit langen roten Haaren und seltsam farblosen, träumerischverhangenen Augen, das blasse Gesicht auf die Arme gestützt. Das Bild steckt voll rätselhafter Symbole und Details, sodass man sich nicht sattsehen kann: Im Vordergrund verdorrte Lilien der Reinheit, links der Pfeil steht für Liebe oder Schmerz, Mohn und Büste des antiken Gottes Hypnos für Schlaf und Tod, rechts an der Rückwand wie ein „Bild im Bild“ ein klosterähnlicher Hof ... „I lock my door upon myself“ des belgischen Malers Fernand Khnopff ist eines der bedeutendsten Werke des Symbolismus, angeregt durch einen Vers der Dichterin Christina Rossetti, der Schwester Dante Gabriel Rossettis. Für Khnopff bedeutete das sich Insichselbst Versenken, sich seinen Träumen zu überlassen und die Tiefen des eigenen Ich auszuloten.

linke Seite:

Fernand Khnopff, „Porträt von Marguerite Khnopff“, 1887, Öl auf Leinwand, 96 x 74,5 cm,

Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Foto: Freya Maes, © RMFAB, Brussels

„Es dreht sich in dieser Ausstellung sehr viel um die psychologische Komponente des Ergründens der Seele, aber manchmal auch des Abgründigen, was das menschliche Leben ebenso beinhaltet“, sagt Ralph Gleis, Leiter der Alten Nationalgalerie. Die Vorliebe für Rätsel, morbide Fantasien und der lustvolle Blick in den Abgrund ist allen Exponaten der Schau gemein. Inspiriert durch die zeitgenössische Literatur kombinierten die Kunstschaffenden eine neue Mystik mit einem extravaganten Stil. Zentral ist dabei das Bild der Frau, mal Femme fatale, mal halbe Heilige. Immer ist es ein ästhetisiertes Wunschbild wie im Lebenstraum gefangen. 1887 malte Khnopff seine Schwester Marguerite in hochgeschlossenem weißen Kleid, gedankenverloren und von einem Türrahmen wie gefangengenommen − ein Sinnbild der unerreichbaren, unberührbaren Frau. Symbolismus ist kein einheitlicher Stil, sondern eine künstlerische Haltung. Die Ausstellung „Dekadenz und dunkle Träume“ zeigt eindrucksvoll den belgischen Symbolismus als Schmelztiegel verschiedenster Kunstströmungen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Brüssel kreuzten und die Hauptstadt des jungen belgischen Staates neben Paris zum einflussreichsten Zentrum des Symbolismus in Europa werden ließen. Belgien, 1830 unabhängig geworden, erfuhr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als erstes industrialisiertes Land auf dem europäischen Kontinent sowie prosperierende Kolonialmacht einen enormen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Die umfangreiche Berliner Schau präsentiert neben bekannten Künstlern wie Fernand Khnopff und James Ensor viele in Deutschland bisher kaum bekannte Positionen wie Léon Spilliaert, Félicien Rops oder Jean Delville. In 13 Kapitel werden zentrale Themen des belgischen Symbolismus von Erotik und Mystik, Wahn und Neurose bis zu Tod und Verfall aufgefächert. Ralf Gleis sieht in der symbolistischen Kunstströmung durchaus eine Parallele zu unserer heutigen gesellschaftlichen Realität: „Man war eigentlich an der Stelle, wo man glaubte, dass es so nicht weitergeht und dass man einer großen Krise gegenüber steht, einer Dekadenz, einem Abstieg, so wie wir es heute schon vor Corona wahrgenommen haben, aber wie es sich jetzt natürlich nochmal deutlicher zeigt.“

BETTINA GÖTZ

Bis 17. Januar 2021 Dekadenz und dunkle Träume Der Belgische Symbolismus Alte Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin www.freunde-der-nationalgalerie.de

Fernand Khnopff, „I lock my door upon myself“, 1891, Öl auf Leinwand, 72,7 x 141,0 cm © bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Nguyen Xuan Huy, „Excavation“, 2020, Öl auf Leinwand, 270 x 200 cm, Courtesy: Galerie Rothamel

Nguyen Xuan Huy in der Kunstsammlung Jena

Traum und Albtraum

Anmutige nackte Frauenkörper, die sich tänzerisch oder schwebend in erotischen Posen durch irreale Welten bewegen. Mit verträumten, selig lächelnden oder ekstatischen Gesichtern räkeln sich agile Jugendliche mal alleine auf Kissen, mal als Gruppe in stimmungsvoll erleuchteten fantastischen Landschaftsszenerien. Die in altmeisterlicher Manier gemalten, häufig großformatigen Ölbilder von Nguyen Xuan Huy, die die Kunstsammlung Jena ausstellt, überwältigen unmittelbar mit ihrer Schönheit. Und sie verstören. Denn rasch offenbart sich der trügerische Schein und lässt die Stimmung kippen: Verdrehte oder verkrüppelte Gliedmaßen fallen auf und überall lauern bedrohliche Details wie Maschinengewehre, Hähnchenflügel oder sozialistische Symbole. Die eindringlichen Inszenierungen des 1976 in Hanoi geborenen Vietnamesen sind wahrlich keine leichte Kost. Nguyen Xuan Huy lebt und arbeitet bereits seit 1994 in Deutschland. Ein Architekturstudium in Hanoi brach er ab zugunsten eines Studiums der Malerei an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule in Halle (Saale), das er mit Auszeichnung abschloss. Die Entscheidung, sein ständiges Leben hier zu verbringen, war folgenreich, indem sie den Sohn eines VietcongKämpfers damit konfrontierte, wie sehr seine eigene Identität mit dem Vietnamkrieg als dem fundamentalen Trauma seiner Herkunft verknüpft ist. Die Nachwirkungen des von der USArmy eingesetzten Entlaubungsmittels Agent Orange, das Schäden im Erbgut hinterlässt und bis heute unzählige Missbildungen bedingt, sind ebenso ein zentrales Thema seiner Werke wie die sozialistische Ideologie, mit der er in dem kommunistischen Land aufgewachsen ist. Die Perspektive von außen ermöglichte es ihm, sich künstlerisch mit jener Propaganda zu beschäftigen, die ihn selbst lange, wie er sagt, an ein naives Weltbild geteilt in gut und böse glauben ließ. Hinzukommt der interessierte Blick in die andere Richtung – auf die Traditionen Europas. Die westliche Kunstgeschichte inspirierte den Maler früh, was sich an seiner realistischsinnlichen Darstellungsweise des menschlichen Körpers sowie an vielen Zitaten und Anspielungen ablesen lässt. Hat sich sein eigener Stil mit hoher Wiedererkennbarkeit längst gefestigt, rufen die Kompositionen Erinnerungen an Schlüsselwerke aus unterschiedlichen Epochen wach, etwa an Michelangelos Deckenmalereien der Sixtinischen Kapelle, an Goyas „Caprichos“, an Matisses tanzende Frauen oder auch an den PornKitsch Jeff Koons. Die Vermischung der unterschiedlichen Hintergründe verleitete Nguyen Xuan Huy dazu, die Bilder in seinem Kopf allen Gegensätzen zum Trotz in groß angelegten Fiktionen visuell miteinander zu verflechten. Durch diverse Versatzstücke aus der Realität, vieldeutigrätselhafte Handlungsmomente und unheimliche, oft zwielichtige Atmosphären entstehen Welten, in der die Logik des Alltags ausgehebelt ist. Während gewohnte Grenzziehungen aufgehoben sind, verschmelzen Traum und Albtraum symbiotisch ineinander. Orgiastische Tanzreigen treffen auf Stürze ins Bodenlose, monströse Augäpfel oder sich auflösende Tiere und selbst schlichte Einzelporträts pendeln ambig zwischen elegischer Verträumtheit und einer depressiven Apathie, die den Betrachter auf sich selbst zurückwirft. Mit Nguyen Xuan Huy präsentiert die Kunstsammlung Jena faszinierend sinnliche Malerei, die zu emotionalen wie intellektuellen Reaktionen herausfordert und vorführt, wie sich das Anziehende und Abstoßende gegenseitig befruchten können.

HANNAH SACHSENMAIER

12. Dezember 2020 bis 7. März 2021 Nguyen Xuan Huy – Malerei www.kunstsammlung-jena.de

Nguyen Xuan Huy, „Silence 9“, 2020, Öl auf Leinwand, 90 x 70cm,

Courtesy: Galerie Rothamel

This article is from: