![](https://assets.isu.pub/document-structure/210720175544-9400d74163a071a02c99ffdf001b0319/v1/571bccf8511231da4d70c7b4a8895cf0.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
14 minute read
Skulpturenmekka Schweiz – von Andrin Schütz
Frantiček Klossner, „Melting Selves“, Werkreihe seit 1990, performative Skulpturen, Foto: Frantiček Klossner
Skulpturenmekka Schweiz
Monumente der Ewigkeit?
Der Schweizer Kunstsommer 2021 steht ganz im Zeichen der internationalen und schweizerischen Skulptur. So sind nebst der 8. Schweizerischen Triennale der Skulptur und der Skulpturenausstellung im Weiertal zwei weitere beachtenswerte Ausstellungen zu sehen.
Jean Tinguely (1925–1991), Niki de Saint Phalle (1930–2002), „Le Cyclop – La Tête“, 1970, Eisendraht und -blech, Gipsgaze, Farbe, 82 x 77 x 47 cm, Museum Tinguely, Basel, ein Kulturengagement von Roche, Donation Niki de Saint Phalle, Foto: Christian Baur © Niki Charitable Art Foundation / 2021, ProLitteris, Zürich
Das Kunstmuseum Winterthur widmet sich mit der Schau „Moment.Monument“ bis zum 15. August verschiedenen bedeutenden Positionen und Aspekten des aktuellen internationalen skulpturalen Schaffens. Die Ausstellung lotet in spannungsvoller Weise das Verhältnis zwischen dem klassischen Begriff der Skulptur im Sinne eines dauerhaften Monumentes bis hin zu Duchamps Readymades und dem spätestens seit den 1960erJahren zunehmend präsenten Moment zeitlicher Begrenzung in Skulptur und Rauminstallation aus. Das Wechselspiel von flüchtigem Augenblick und dauerhafter Präsenz wird bereits eingangs der Ausstellung sichtbar: Den Weg zum Zentralen der Ausstellung durch die permanente Sammlung weisen die „Miles and Moments“ der 1976 in Frankfurt am Main geborenen Bildhauerin Katinka Bock. Monumentale Ewigkeit, Zeitgeist und die Vergänglichkeit des Augenblicks kollidieren auch in der Installation „La Decollazione“ des Briten Simon Starling (* 1967) aus dem Jahre 2018. So bildet eine nebulös anmutende Röntgenaufnahme von Caravaggios monumentalem Gemälde „Die Enthauptung Johannes des Täufers“ (1608) die zwischen Gegenwart und Vergangenheit schwebende Kulisse für einen blauen Piaggio (einen Motorroller), der noch heute zum alltäglichen Straßenbild Italiens gehört. Zeitlos und dennoch berührend präsent wiederum mutet Mona Hatoums (* 1954) Installation „Quarters“ aus dem Jahre 2017 an, welche das ungute Gefühl längst verlassener Betten in Kriegs und Konzentrationslagern in die Gegenwart transportiert. Spuren der kollektiven und der persönlichen Erinnerung treten auch in den unzähligen filigranen Booten aus Riedgras der poetischen Installation „Boats“ der walisischen Künstlerin Bethan Huws (* 1961) zutage, während Roman Signers (* 1938) in einem blauen Ölfass positioniertes Kanu ständig Gefahr läuft, aus der Balance zu kippen. Gar selbst Teil der Skulptur und des performativkünstlerischen Geschehens werden die Betrachterinnen und Betrachter in einer Arbeit des 1954 geborenen Österreichers Erwin Wurm, die aus einem Sockel und einer Papiertüte besteht, die sich die Ausstellungsgäste getrost über den Kopf ziehen dürfen. In der Summe gelingt es dem Kuratorium unter Leitung von Konrad Bitterli anhand der insgesamt 17 vertretenen Positionen hervorragend, die Schwebe zwischen Moment und Monument anhand des aktuellen internationalen Skulpturenschaffens in abwechslungsreicher und qualitativ hochklassiger künstlerischer Besetzung sichtbar und spürbar zu vermitteln.
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210720175544-9400d74163a071a02c99ffdf001b0319/v1/29676fef0221294c5ecaf87eb309f110.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210720175544-9400d74163a071a02c99ffdf001b0319/v1/707ef5721c694a1ffb446e40ca9640ad.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
Davide Cascio (* 1976), „Be-building“, 2008, Acrylglas, Holz, Metall, 167 x 140 x 140 cm, Foto: Davide Cascio, © 2021, ProLitteris, Zürich
SCHWEIZER SKULPTUR? JA!
Wendet sich das Kunstmuseum Winterthur der internationalen Szene zu, liegt im Aargauer Kunsthaus das Schweizer Kunstschaffen im Fokus. Verteilt auf insgesamt zwölf Räume, die Dachterrasse, den Außenbereich sowie den Rathausplatz haben Gastkurator Peter Fischer und CoKuratorin Anouchka Panchard einen thematisch angelegten Parcours quer durch das schweizerische Skulpturenschaffen angelegt. Das grandiose Unterfangen bringt mit 230 Werken von 150 Künstlerinnen und Künstlern erstmals in der Geschichte des Landes die vielfältigen Positionen, Materialien und Perioden der Schweizer Skulptur unter ein Dach. Wobei man sich fragen mag: Gibt es überhaupt so etwas wie die „Schweizer Skulptur“? Die Antwort liegt mehr oder minder auf der Hand: Ja! Ein Umstand, der eigentlich kaum verwunderlich ist. Denn bereits aufgrund der geografischen Lage zwischen Norden und Süden, der verschiedenen kulturellen und sprachlichen Regionen innerhalb des Landes sowie der geringen territorialen Größe zeichnet sich der Status des a priori innovativen künstlerischen Schmelztiegels ab. Dies wiederum mag zur Folge haben, dass sich die kulturelle Innovationskraft nicht im Speziellen auf bestimmte Jahre oder Jahrzehnte konzentriert, sondern vielmehr in sämtlichen Perioden des 20. Jahrhunderts ihre nationale und internationale Ausstrahlung entwickelte. Hatte schon der Dadaismus in den Wirren des Ersten Weltkriegs eine Heimat in der kriegsverschonten Schweiz gefunden und künstlerische Ikonen wie Hans Arp (1886−1966) hervorgebracht, setzt sich der Reigen der internationalen Präsenz mit einzigartigen künstlerischen sowie zugleich konträren Konzepten und Positionen − unter anderem im Werk Alberto Giacomettis (1901−1966), in den Arbeiten der Zürcher Konkreten Max Bill (1908−1994), Fritz Glarner (1899−1972), Verena Loewensberg (1912−1986) und Richard Paul Lohse (1902−1988) − bis in die 1960erJahre hinein fort. Parallel zur Entwicklung der stringent abstrakten und nahezu dogmatisch ausgerichteten Ästhetik der Konkreten wiederum beginnt der Basler Künstler Jean Tinguely (1925−1991) in den 1960er und 1970erJahren mit seinen gewagten und verspielten Installationen sowie seinen gigantischen Kunstmaschinen den etablierten Kunstbegriff regelrecht in seine Einzelteile zu zerlegen und in kritischer Frische neu zusammenzubauen. Neben der kinetischen Kunst Tinguelys erlangen in jenen Jahren der Eisenplastiker Bernhard Lunginbühl (1929−2011) und Daniel Spörri (* 1930) internationale Anerkennung. Abgelöst wird die freie und inhaltsgeladene Bildsprache der großen Periode der Schweizer Eisenplastik und der Kinetik in der Folge unter anderem durch den Zürcher James Licini (* 1937), Josef Maria Odermatt (1934−2011) und den Bündner Matias Spescha (1925−2008), welche sich einer wieder zunehmend stringenten und kanonisierten Ästhetik zuwenden.
STILL UND ERNST, BUNT, POETISCH UND HUMORVOLL
Eng mit Tinguely verbunden waren wiederum Niki de Saint Phalle (1930−2002) und Eva Aeppli (1925−2015). Reflektieren Niki de Saint Phalles figurative Plastiken in fröhlicher und bunter Manier auf die in jenen Jahren beginnende Ablösung von bis anhin gesetzten gesellschaftlichen und künstlerischen Normativen, präsentieren sich Eva Aepplis beeindruckende Figuren in ruhigem Ernst und nahezu auratischer Stille. Der figurativen Bildsprache treu blieb auch der 2012 in Zürich verstorbene Bildhauer Hans Josephson, dessen Werk in diesen Tagen eine zunehmende Relevanz in der Geschichte der Schweizer Skulptur erlangt.
Mit poetischem Flair, einem reifen kunsthistorischen Bewusstsein und mit subtilem Humor lassen Peter Fischli (* 1952) und David Weiss (1946−2012) in den 1980er und 1990erJahren verstärkt den Alltag in die Kunst und die Kunstmuseen einziehen. War David Weiss nebst seinem plastischen Schaffen auch ein hervorragender Zeichner und Maler, vermochten die Gemeinschaftsarbeiten von Fischli und Weiss stets durch ihren verspielten und dennoch klugen philosophischen Kern zu überzeugen. Weiter zeigt in den 1980er und 1990erJahren mit Josef Felix Müller (* 1955) und Martin Disler (1949−1996) auch der Neoexpressionismus der „jungen Wilden“ Präsenz, während unter anderem Pipilotti Rists (* 1962) groß angelegte Installationen, Not Vitals (* 1948) reduktive, zugleich humorvollkritische und zuweilen interaktive Arbeiten sowie auch Isabelle Kriegs (* 1971), Davide Cascios (* 1976) oder Frantiček Klossners (*1960) Installationen und Medienräume um die Jahrtausendwende eine Zäsur in der Geschichte des „klassischen“ Schweizer Skulpturenschaffens darstellen.
UND HEUTE: FREIHEITSLIEBEND, EIGENSTÄNDIG UND KRITISCH
Was also ist die „Schweizer Skulptur“? In jedem Falle liebt sie − anders als zuweilen die Schweizer Bevölkerung − den Kompromiss überhaupt nicht. Sie war und ist in ihren vielfältigen parallelen Ausprägungen stets freiheitsliebend, eigenständig, konzentriert und kritisch eingestellt. Kritisch gegenüber dem Landes und Weltgeschehen und ebenso kritisch gegenüber sich selbst und dem Kunstbetrieb, befindet sie sich in einem permanenten Prozess des dialektischen Diskurses. Dem Aargauer Kunsthaus gelingt es hervorragend, diesen vitalen Diskurs in all seinen Widersprüchen, Brüchen und Kontinuitäten retrospektiv und anhand relevanter zeitgenössischer Positionen abzubilden und vor allem hautnah erlebbar zu gestalten. Wer also wissen will, was „Schweizer Skulptur“ ist oder sein kann, dem sei eine Reise nach Aarau wärmstens ans Herz gelegt.
ANDRIN SCHÜTZ
www.kmw.ch www.aargauerkunsthaus.ch
Simon Starling (* 1967), „La Decollazione“, 2018, Courtesy: Galleria Franco Noero, Turin, Foto: Sebastian Stadler © Simon Starling. All Rights Reserved / 2021, ProLitteris, Zürich
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210720175544-9400d74163a071a02c99ffdf001b0319/v1/8c29b6cf654cdb8a2ffe1a6e7b630934.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210720175544-9400d74163a071a02c99ffdf001b0319/v1/2972f193dbcf0c170e866c3157f8210d.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
Interview mit dem Kurator Luciano Fasciati
Kulturort Weiertal
„Der Ort ist eigentlich zu schön, um dort noch Kunst zu zeigen.“
Der Churer Galerist Luciano Fasciati ist ein Spezialist für Kunst im Außenraum. In diesem kuratiert er erstmals die Biennale Weiertal bei Winterthur. Das Gespräch mit ihm führte Alice Henkes.
ARTMAPP: Luciano Fasciati, Sie führen eine renommierte Galerie in Chur. Daneben sind Sie als freier Kurator für Kunstprojekte im öffentlichen Raum tätig. Wann haben Sie damit angefangen?
Luciano Fasciati: In den 1990erJahren. Von 2010 bis 2013 habe ich das Kunstprojekt „Arte Hotel Bregaglia“ in Promontogno kuratiert. Seit 2012 kuratiere ich Ausstellungen für den Verein ArtPublic Chur. Diese Ausstellungen sind vorwiegend im Stadtraum Chur angesiedelt. 2012 habe ich gemeinsam mit Nicole Rampa für ArtPublic Chur die Ausstellung „Säen, ernten, glücklich sein“ eingerichtet. Dafür haben wir den Churer Fontanapark in einen Kunstpark verwandelt. Wir haben mehrere Werke des St. Galler Künstlers Hans Josephson gezeigt – und wir haben zehn Kunstschaffende eingeladen, auf die Werke von Josephson und die Parksituation zu reagieren.
ARTMAPP: Die Ausstellungen von ArtPublic Chur sind aber nicht auf den Fontanapark begrenzt?
LF: Nein, keineswegs. Die Ausstellungen von ArtPublic Chur finden im ZweiJahresRhythmus statt, immer wieder an anderen Orten. 2014 haben wir unter dem Titel „Ortung“ Kunst in Schaufenstern, auf Plakatwänden und sogar in der regionalen Tageszeitung gezeigt. 18 Kunstschaffende haben Objekte und Interventionen erarbeitet, die die Grenzen zwischen öffentlichem, privatem und wirtschaftlich genutztem Raum thematisierten. ARTMAPP: Der Verein ArtPublic Chur ist auch immer noch aktiv?
LF: Ja, in diesem Jahr feiern wir das zehnjährige Bestehen des Vereins. Dafür haben wir den Genfer Künstler Florian Bach eingeladen. Er realisiert das Projekt „Horst“. Das besteht aus acht schwarzen Holzkabinen, die auf dem Dach eines Wohnhauses am Stadtrand von Chur installiert werden. Die Kabinen, die nicht zugänglich sind, wirken wie eine Erweiterung des Hauses und verweisen auf die ungewisse Weiterentwicklung und Formbarkeit der Stadt in ihren Grenzzonen. Neben der Ausstellung gibt es im September auch ein dreitägiges Festival mit Musik und Videoprojektionen.
ARTMAPP: Neben Ihrem Engagement für Art Public Chur haben Sie auch Ausstellungen für den Verein Progetti d’arte in Val Bregaglia kuratiert.
LF: Ja, ich habe zum Beispiel 2018 „Arte Castasegna“ mitkuratiert. Ein Kunstprojekt im Dorf Castasegna, das an der Schweizer Grenze zu Italien liegt. Und 2020 die erste „Biennale Bregaglia“ auf Nossa Dona / Lan Müraia bei Promontogno. Orte, an denen sich wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Stränge gekreuzt haben und noch heute kreuzen. Derzeit bin ich daran, im Bergell ein neues Ausstellungsformat zu lancieren. Ausgangslage für den Ausstellungsraum bildet die Räumlichkeit des bestehenden Pavillongebäudes des Architekten Bruno Giacometti (1907–2012), als ehemaliges Zollgebäude gebaut (Bauzeit 1958/59), der heutigen Sala viaggiatori. Der Raum bleibt weiterhin und ohne Einschränkung als Warteraum der Postbushaltestelle bestehen. Das neu entstehende Ausstellungsformat soll mittels thematischen Ausstellungen zweimal jährlich bespielt werden, die sich zeit und disziplinenübergreifend der Alltagskultur, der bildenden Kunst und dem Design widmen.
linke Seite: Sandro Steudler, „Lichttrichter“, 2021, 7. Biennale „VORÜBER_GEHEND, Idylle und Künstlichkeit“, Kulturort Weiertal, Foto: Maja von Meiss
ARTMAPP: In diesem Jahr sind Sie erstmals als Kurator für die Biennale im Kulturort Weiertal tätig. Das Weiertal liegt etwas oberhalb des Stadtteils Wülfingen in Winterthur. Die Biennale wird seit 2009 vom Verein der Biennale Kulturort Weiertal ausgerichtet. Welches Konzept haben Sie für diese Ausstellung?
LF: Ich möchte mich von den vorangegangenen Ausgaben der Biennale im Kulturort Weiertal absetzen. Ich habe die Ausstellungen gesehen, die 2017 von Kathleen Bühler und 2019 von Christoph Doswald kuratiert wurden, und ich möchte einiges anders machen, als meine Vorgängerinnen und Vorgänger. In meinem Konzept setze ich auf weniger Positionen und mehr Freiräume oder Leerstellen. Also Orte, an denen keine Kunst steht. Solche Freiräume finde ich sehr wichtig. ARTMAPP: Was ist an diesen Leerstellen so wichtig?
LF: Eine große Ausstellung ist nicht unbedingt eine gute Ausstellung. Leerstellen ermöglichen es, innezuhalten, auch mal die Landschaft zu sehen. Und das Weiertal ist ein sehr spezieller Ort, vor allem wenn alles blüht und wächst. Es ist gar nicht einfach, so einen Ort zu bespielen. Es ist eigentlich viel zu schön, um dort noch Kunst zu zeigen. Neben den Leerstellen finde ich auch stille Positionen wichtig, also Arbeiten, die nicht gleich ins Auge fallen, ja, die man vielleicht sogar übersieht. Mir gefällt es, wenn Besucherinnen und Besucher Arbeiten erst im Katalog entdecken und dann sagen: Ach, das habe ich ja vor Ort gar nicht gesehen!
ARTMAPP: Wie entsteht so eine Ausstellung im Außenraum mit 20 Positionen?
LF: Es beginnt mit einer Ortsbegehung mit den Künstlerinnen und Künstlern. Alle können frei wählen, wo sie ihre Arbeit zeigen wollen. Natürlich stehe ich beratend zur Seite und manchmal führt man eine Künstlerin oder einen Künstler auch an einen Ort heran. Eigentlich geht das recht unkompliziert. Man hat am Anfang das Gefühl, alle wollen ihre Arbeit am Seerosenteich zeigen, aber so ist es gar nicht.
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210720175544-9400d74163a071a02c99ffdf001b0319/v1/7d5b0741022b3692ee5305b0e086d473.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210720175544-9400d74163a071a02c99ffdf001b0319/v1/2b185a98309526ee68d1ddaed55182ea.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
Luciano Fasciati in seinen Galerieräumen in Chur, Mai 2021, Foto: Reiner Brouwer
ARTMAPP: Sind alle Arbeiten für den Ort entstanden?
LF: Außer einer Arbeit von Not Vital sind alle Werke für den Ort entstanden. Ach ja, und Roman Signers Arbeit, die stand bereits fertig im Atelier, war aber noch nie in einer Ausstellung gezeigt worden. Sonst sind alle Arbeiten für das Weiertal entstanden. Und ich diskutiere auch viel mit den Kunstschaffenden. Dabei geht es viel um technische Fragen. Wie kann ein Projekt umgesetzt werden? Wie kann es finanziert werden? Projekte im Außenraum brauchen viel Begleitung.
ARTMAPP: Was bedeutet Künstlerinnen und Künstlern so eine Ausstellung im Außenraum? Die Arbeiten, die dort gezeigt werden, sind ja nicht unbedingt verkäuflich.
LF: Es ist eine Art Werbung für die Kunstschaffenden. Sie verdienen nicht viel daran. Oft müssen sie selbst noch Gelder akquirieren, um ihre Projekte finanzieren zu können. Aber diese Ausstellungen im Außenraum sind beliebt und ziehen viele Besucherinnen und Besucher an. Die Biennale im Kulturort Weiertal besuchen jeweils bis zu 7.000 Menschen. Das macht Ausstellungen im Außenraum für Kunstschaffende attraktiv. ARTMAPP: Die Ausstellung heißt „VORÜBER_ GEHEND IDYLLE UND KÜNSTLICHKEIT“. Das klingt etwas rätselhaft.
LF: Das ist bewusst so gewählt. Der Titel soll verschiedene Lesarten ermöglichen. Das Temporäre der Ausstellung soll anklingen: Die Kunstwerke sind da, sie sind wieder weg, doch im Kopf bleibt etwas hängen. Auch die Bewegung der Besucherinnen und Besucher der Ausstellung steckt darin. Und der Wechsel der Jahreszeiten, der ewige Wandel. Viele Arbeiten, die in der Ausstellung zu sehen sind, greifen Themen auf, die im Titel anklingen.
ARTMAPP: Und der Nachsatz „IDYLLE UND KÜNSTLICHKEIT“?
LF: Der bezieht sich direkt auf den Ort, das Weiertal. Das war ja früher ein Feuchtgebiet, das trockengelegt wurde. Heute wird dort Obst angebaut. Die Natur, die man dort sieht, ist einerseits erschlagend schön und andererseits künstlich, also vom Menschen geformt.
Bis 12. September 2021 7. Biennale „VORÜBER_GEHEND IDYLLE UND KÜNSTLICHKEIT“ Kulturort Weiertal www.skulpturen-biennale.ch
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210720175544-9400d74163a071a02c99ffdf001b0319/v1/dcd7907f95ad4989695ec49828ab7b29.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
Kompetenz, Charme und international
Dass es in der Vielzahl der Schweizer Täler ebenso viele verschwiegene wie zugleich lauschige und interessante Dörfer gibt, ist gemeinhin bekannt. Als eines der schönsten dieser Täler gilt das traumhafte Tessiner Vallemaggia mit dem Dorf Peccia. Die Reise dorthin lohnt sich aber nicht nur der beeindruckenden Landschaft wegen, sondern vielmehr auch aus Gründen der Kunst und der Kultur, namentlich wegen des CENTRO INTERNAZIONALE DI SCULTURA und der „Scuola di Scultura“. Natürliche Grundlage für die rege künstlerische Tätigkeit bildet der imposante 1946 erschlossene Marmorsteinbruch, welcher inzwischen als einziger Marmorsteinbruch in der Schweiz noch aktiv betrieben wird. Dass sich der dort vorhandene „CristallinaMarmor“ nicht nur für architektonische Zwecke, sondern ebenso hervorragend für die Bildhauerei eignet, war dem 1954 geborenen Rheintaler Skulpteur Alex Naef sogleich klar, als er in den frühen
CENTRO INTERNAZIONALE DI SCULTURA in Peccia, Foto: Thierry B. Burgherr
1980erJahren zum ersten Mal im Vallemaggia weilte. Bereits 1987 nahm er gemeinsam mit seiner Frau den Aufbau der „Scuola di Scultura“ in Angriff, wo bis heute in den Bereichen Steinbildhauerei, Modellieren, Holzbildhauerei und Keramik gearbeitet wird. Das große Interesse der Studierenden und Lernenden ließ alsbald den Wunsch aufkommen, Infrastrukturen für ein internationales „Artists in Residence“Programm zu schaffen.
EIN KREATIVER ORT DER KÜNSTLERISCHEN ENTWICKLUNG UND DES DISKURSES
Mit Unterstützung eines Mäzenatenpaares und der öffentlichen Hand konnten im Jahre 2019 die lange geplanten Wohn, Atelier und Werkstatträumlichkeiten realisiert werden. „Ziel ist es“, so Thierry B. Burgherr, Geschäftsführer des CENTRO INTERNAZIONALE DI SCULTURA, „in jedem Jahr in Peccia fünf ausgewählte junge Künstlerinnen und Künstler zu beherbergen“. Und weiter: „Wir wünschen uns einen Ort der künstlerischen Entwicklung, der unseren ‚Artists in Residence‘ den Raum für die konstruktive kritische Diskussion eröffnet und ihnen zugleich dabei hilft, ein internationales Netzwerk zu schaffen, um so nachhaltig in der Kunstszene Fuß fassen zu können.“ Wird im CENTRO INTERNAZIONALE DI SCULTURA künstlerisch intensiv gearbeitet, bietet die Institution zugleich die Gelegenheit, im großzügigen Neubau hochkarätige Wechselausstellungen zu realisieren. Den Auftakt hierzu macht in diesem ersten Betriebsjahr der bekannte mexikanische Künstler Jose Dávila mit der Schau „Las piedras saben esperar“, die noch bis zum 31. Oktober gezeigt wird. Als „Artists in Residence“ sind in diesem Jahr die Berlinerin Marie Strauss, der Japaner Shinroku Shimokawa, der Inder Jenson Anto, die in Deutschland lebende slowenische Künstlerin Zora Janković sowie die Düsseldorferin Marina Bochert zu Gast. Hervorragende Gründe also, sich eine ebenso spannende wie entspannende Auszeit zu nehmen und einen inspirierenden Ausflug ins herbromantische Vallemaggia und ins CENTRO INTERNAZIONALE DI SCULTURA zu machen!
ANDRIN SCHÜTZ
www.centroscultura.ch
![](https://assets.isu.pub/document-structure/210720175544-9400d74163a071a02c99ffdf001b0319/v1/2963d177d4ec10a72e4060aca696d0a3.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
CENTRO INTERNAZIONALE DI SCULTURA in Peccia, Foto: Thierry B. Burgherr