6 minute read

Michelangelo Pistoletto in Ascona – von Amrei Heyne

Michelangelo Pistoletto im Museo Comunale d’Arte Moderna Ascona

Eine Begegnung mit der Wahrheit

Nach über einem Jahr Pandemie − den Tragödien, Diagrammen, Diskussionen in Parlament, Labor, Wirtschaft und Familie − öffnen die Museen ihre Türen. Immer noch arbeiten Menschen kurz oder gar nicht, andere noch mehr. Wo ist die Ausstellung, die Antworten auf die gesamtgesellschaftliche weltweite Krise parat hat? Wir haben sie gefunden. Das Prinzip Hoffnung? Das „Dritte Paradies“! In der Schweiz, im Tessin, in Ascona. Ascona − was für ein magischer Ort, dieses Ascona am Lago Maggiore mit d e m Monte Verità! Auf dem Berg der Wahrheit wollten einst Menschen ihren Traum klassenloser Freiheit in der Natur leben … Das Museo Comunale d’Arte Moderna im BorgoViertel Asconas befindet sich in einem Stadtpalast aus dem 16. Jahrhundert und besitzt Werke von Alexej Jawlensky, Cuno Amiet, Paul Klee − gestiftet von der russischen Malerin Marianne von Werefkin (wir berichteten). Es gibt ein Aquarell von Hermann Hesse und eins von Alfred Kubin, eine Zeichnung von Franz Marc und vieles mehr. In diesem Jahr feiert das Museo Comunale d’Arte Moderna die bisher umfangreichste Einzelausstellung von Michelangelo Pistoletto in der Schweiz. Der Mitbegründer und Künstler der Arte Povera nahm vier Mal an der „documenta“ in Kassel und 13 Mal an der Biennale von Venedig teil (2003 erhielt er den „Goldenen Löwen“ für sein Lebenswerk). Unzählige Einzel und Gruppenausstellungen ermöglichen Menschen auf der ganzen Welt Zugang zu seiner Arbeit. Die von der Museumsdirektorin Maria Folini und dem Mailänder Kurator Alberto Fiz kuratierte Werkschau zeigt retrospektiv klug positionierte Arbeiten und Installationen von 1958 bis 2021 − bereit für den Publikumsdialog und sehr instagrammable. Da wären die ikonischen Spiegelbilder (zum Beispiel das 1968 entstandene „Padre e madre“ − Pistolettos Eltern nehmen die gleiche Position ein, wie die Betrachterinnen und Betrachter des Werks), legendäre Installationen, etwa „Labirinto“ von 1969 in raumfüllender Wellpappe, die „Venus in Lumpen“ von 1967, Video und Fotoarbeiten kollektiver Aktionen der Theatergruppe „Zoo“, die Segno ArteWerke, der „Kubikmeter Unendlichkeit“ von 1966 vor den WerefkinGemälden … 2003 schrieb er das Manifest des „Dritten Paradieses“ und entwarf ein Symbol hierfür, eine Weiterentwicklung des mathematischen Unendlichkeitszeichens: Die liegende Acht wird um einen Kreis erweitert, der Bezug zu Vergangenheit (die Einheit des Menschen mit der Natur), zu Phase zwei dieser Vergangenheit (meint die, in der wir heute leben, die künstliche, hochtechnisierte, umweltzerstörende). Der mittlere Kreis steht für eine neue Menschlichkeit in Selbstreflexion und verantwortungsvollem Umgang mit der Umwelt, den Ressourcen, Recycling … − ein Ideal vom Leben auf der Erde. Das Werk als Skulptur aus Steinen, das „Dritte Paradies“ am Monte Verità ergänzt die Ausstellung nachhaltig und führt diese Utopie nach Louvre, Raumstation, der Bucht von Havanna … auf den Berg der Wahrheit nach Ascona.

Michelangelo Pistoletto zeichnet das neue Symbol der Unendlichkeit „Il Terzo Paradiso (Das dritte Paradies)“ auf den Spiegel. Foto: J.E.S.

Pistoletto ist 88 Jahre jung und von einer ansteckenden Energie und Vitalität. Er wird nicht müde, von seiner Arbeit zu berichten. Schnell wird klar, was für ein ausgezeichneter Lehrer er uns ist. Es wird überdeutlich, welche Schlüsselwerke er in den 1960erJahren schuf, diese und vor allem die Beziehung zu den Kunstwerken zeitlich neu definiert und verortet hat. Seiner Auffassung nach wird das Kunstwerk selbst Beziehungsprinzip. Die Spiegelbilder beweisen das am direktesten, denn sie wirken erst mit den Betrachterinnen und Betrachtern. In Biella, seiner Heimatstadt, gründete er 1990 die Cittadellarte, Stiftung und Thinktank auf 20.000 Quadratmetern mit Schule, Werkstätten, Museum. Pistoletto arbeitet im Sinne eines Gesamtkunstwerks mit dem visionären wie simplen Ziel, unsere Welt zu einer besseren zu machen. Die Aktualität und Radikalität seiner Arbeit fasziniert und begeistert. Wir haben den von italienischen und schweizerischen Fernsehstationen, der Presse und Influencerinnen wie Influencern auf SelfieJagd umlagerten Maestro am Eröffnungstag begleitet und auf dem Monte Verità neben seiner SteinLandArtSkulptur des „Dritten Paradieses“ zwei Fragen gestellt:

ARTMAPP: Signore Pistoletto, wann haben Sie entschieden, Künstler zu sein? Gab es hierfür ein Schlüsselerlebnis?

Michelangelo Pistoletto: Durchaus! Meine Geburt. Meine Mutter entschied sich, mit meinem Vater ein Kind zu haben; meine Eltern erschufen mich.

ARTMAPP: Was raten Sie jungen Künstlerinnen und Künstlern heute zu tun?

MP: Sie sollen tun, was sie wollen; auch auf den Kunstmarkt zielen, dabei aber ihre Verantwortung für die Gesellschaft leben. Die Fähigkeit, Kunst zu schaffen, muss mit der humanen Weiterentwicklung dieser einhergehen, der Welt das geben, was sie am nötigsten braucht.

AMREI HEYNE

30. Mai bis 26. September 2021 La Verità di Michelangelo Pistoletto Dallo Specchio all Terzo Paradiso Museo Comunale d’Arte Moderna Ascona www.museoascona.ch

Ausstellungsansicht: „Le cose che esistono sanno di esistere? Si, sanno di esistere! (Do things that exist know they exist? Yes, they know they exist!)“, „Venere degli stracci (Venus in Lumpen)“, 1967, „Labirinto (Labyrinth)“, 1968, Saal Arte Povera im Museo Comunale d’Arte Moderna Ascona, Foto: Alexandre Zveiger

Landschaften vom Meister der Leerstellen

Albrecht Schnider

Albrecht Schnider reflektiert malend die Möglichkeiten der Kunst. Das Kunstmuseum Thun zeigt neue Arbeiten des Schweizer Künstlers.

Die Farbe Grün steht für Natur und Wachstum, ebenso wie für Entspannung und Geborgenheit. Grün sind sie ja durchaus, die Landschaften von Albrecht Schnider. Aber: Saftig? Natürlich? Beruhigend? Nein. Sie wirken so kühl und glatt als entstammten sie einem Computerspiel. Die Horizontlinien wie mit dem Lineal gezogen. Berge von erschreckender Regelmäßigkeit reihen sich aneinander. In den Tälern liegen sauber geschnittene Schatten. Und obwohl alles so grün ist, wächst kein Baum, kein Strauch. Kein Grashalm ist zu sehen. Von Tieren oder Menschen ganz zu schweigen. Schniders künstlerische Annäherungen an die Natur sind von höchst unnatürlicher Leere und Sauberkeit. Es sind keine Abbildungen realer Landschaften. Noch sind es Idyllen, in die man sich sanft hinein träumt. Diese Wiesen und Berge haben gerade dank ihrer Perfektion etwas Beunruhigendes. Die Farbflächen, aus denen sie locker zusammengesetzt sind, sehen aus, als könnten sie jeden Moment auseinanderdriften und nichts zurücklassen als die blanke Leere.

Albrecht Schnider, „Landschaft“, 2020, Öl auf Leinwand, 16,5 x 33 cm, Courtesy: der Künstler, Foto: Dominique Uldry, Bern

AB WANN IST EIN BILD EIN BILD?

Albrecht Schnider, 1958 in Luzern geboren, ist vor wenigen Jahren von Berlin in die Schweiz zurückgekehrt. Seither lebt und arbeitet er in Hilterfingen bei Thun. Schnider ist ein Meister der Leerstellen. Weithin bekannt sind seine Porträtbilder, die dort eine Leerstelle lassen, wo man bei einem Porträt gemeinhin die größte Informationsdichte erwartet: mitten im Gesicht. Dieses Auslassen, Ummalen, Umgehen ist weit mehr als ein Spiel mit der Wahrnehmung des Publikums oder ein Ausloten der Grenzen zwischen Abstraktion und Figuration. Albrecht Schnider gestaltet in seinen Bildern immer auch ein Nachdenken über die Mittel und Möglichkeiten der Malerei. Was braucht es, damit ein Bild Bild ist? Was, damit das Bild im Kopf sich auf der Leinwand manifestieren kann? Landschaften sind dabei ein Thema, das Schnider schon seit vielen Jahren immer wieder beschäftigt. Auch weil Landschaften – neben dem Porträt – zu den großen klassischen Sujets der Kunst gehören.

DROHENDE LEERE IN KÖRNIGEM GRAU

Die Ausstellung im Kunstmuseum Thun nimmt sich „Entwegte Landschaft“ in den Titel. Die abstrahierte Landschaft ist das Kernthema der Ausstellung, die allerdings auch zahlreiche weitere, gänzlich ungegenständliche Arbeiten zeigt. In diesen eleganten und leicht unterkühlten Kompositionen aus Acryllack auf Rohleinwand scheint bereits vollzogen, was sich in den glatten Landschaften drohend andeutet: Die Auflösung des Bildes zugunsten der Leere. Die Leere erscheint hier in Form der rohen Leinwand. Körniggrau und damit durchaus kraftvoll behauptet sie sich neben ornamentalen Farbelementen. Diese Leinwand ist alles andere als ein stiller Hintergrund, der sich geduldig bemalen lässt. Im Gegenteil! Ihre Leere scheint sich dem Malenden energisch entgegenzustellen. Der kreative Prozess erhält so eine fast kämpferische Dimension, die auch für den Betrachter, die Betrachterin fühlbar wird.

ALICE HENKES

Bis 15. August 2021 Albrecht Schnider. Entwegte Landschaft Kunstmuseum Thun www.kunstmuseumthun.ch

This article is from: