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M ic hel a n g elo P i st ole t t o i m Mu s e o C omu n a le d ’A r t e M o de r n a A s c on a
Eine Begegnung mit der Wahrheit Nach über einem Jahr Pandemie − den Tragödien, Diagram men, Diskussionen in Parlament, Labor, Wirtschaft und Familie − öffnen die Museen ihre Türen. Immer noch arbeiten Menschen kurz oder gar nicht, andere noch mehr. Wo ist die Ausstellung, die Antworten auf die gesamtgesellschaftliche weltweite Krise parat hat? Wir haben sie gefunden. Das Prinzip Hoffnung? Das „Dritte Paradies“! In der Schweiz, im Tessin, in Ascona. A scona − was für ein magischer Ort, dieses Ascona am Lago Maggiore mit d e m Monte Verità! Auf dem Berg der Wahrheit wollten einst Menschen ihren Traum klassenloser Freiheit in der Natur leben … Das Museo Comunale d’Arte Moderna im Borgo-Vier tel Asconas befindet sich in einem Stadtpalast aus dem 16. Jahrhundert und besitzt Werke von Alexej Jawlensky, Cuno Amiet, Paul Klee − gestiftet von der russischen Malerin Mari anne von Werefkin (wir berichteten). Es gibt ein Aquarell von Hermann Hesse und eins von Alfred Kubin, eine Zeichnung von Franz Marc und vieles mehr. In diesem Jahr feiert das Museo Comunale d’Arte Moderna die bisher umfangreichste Einzelausstellung von Michelangelo Pistoletto in der Schweiz. Der Mitbegründer und Künstler der Arte Povera nahm vier Mal an der „docu menta“ in Kassel und 13 Mal an der Biennale von Venedig teil (2003 erhielt er den „Goldenen Löwen“ für sein Lebenswerk). Unzählige Einzel- und Gruppenausstellungen ermöglichen Menschen auf der ganzen Welt Zugang zu seiner Arbeit.
Die von der Museumsdirektorin Maria Folini und dem M ailänder Kurator Alberto Fiz kuratierte Werkschau zeigt retrospektiv klug positionierte Arbeiten und Installationen von 1958 bis 2021 − bereit für den Publikumsdialog und sehr instagrammable. Da wären die ikonischen Spiegelbilder (zum Beispiel das 1968 entstandene „Padre e madre“ − Pistolettos Eltern nehmen die gleiche Position ein, wie die Betrachte rinnen und Betrachter des Werks), legendäre Installationen, etwa „Labirinto“ von 1969 in raumfüllender Wellpappe, die „Venus in Lumpen“ von 1967, Video- und Fotoarbeiten kollektiver Aktionen der Theatergruppe „Zoo“, die Segno- Arte-Werke, der „Kubikmeter Unendlichkeit“ von 1966 vor den Werefkin-Gemälden … 2003 schrieb er das Manifest des „Dritten Paradieses“ und entwarf ein Symbol hierfür, eine Weiterentwicklung des mathematischen Unendlichkeitszeichens: Die liegende Acht wird um einen Kreis erweitert, der Bezug zu Vergangenheit (die Einheit des Menschen mit der Natur), zu Phase zwei dieser Vergangenheit (meint die, in der wir heute leben, die künst liche, hochtechnisierte, umweltzerstörende). Der mittlere Kreis steht für eine neue Menschlichkeit in Selbstreflexion und verantwortungsvollem Umgang mit der Umwelt, den Ressourcen, Recycling … − ein Ideal vom Leben auf der Erde. Das Werk als Skulptur aus Steinen, das „Dritte Paradies“ am Monte Verità ergänzt die Ausstellung nachhaltig und führt diese Utopie nach Louvre, Raumstation, der Bucht von Havanna … auf den Berg der Wahrheit nach Ascona.