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Licht und Schatten sind mit Zeit Raum Kosmos verbunden

Vera Röhm

Vera Röhm, „Die Nacht ist der Schatten der Erde“, Installation mit 25 Textkuben, 1995/2021, Aluminium, Licht, je 100 x 100 x 100 cm, Bad RagARTz 2021, Foto: Wolfgang Lukowski © Vera Röhm / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Vera Röhm, „Die Nacht ist der Schatten der Erde“, „Textkubus (bengali)“, 1995/2009, Aluminium, Licht, 75 x 75 x 75 cm, „Erdschatten (polyglott)“, 2001/2005, Siebdruck, je 50 x 50 cm, Ausstellungsansicht, Foto: Wolfgang Lukowski © Vera Röhm / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

TEXTKUBEN

Die Textkuben von Vera Röhm sind thematisch eingebunden in die von ihr seit 1983 laufenden Untersuchungen über Schattenphasen, Schattenwandel und Schattenskulpturen, die im Zusammenhang von Geometrie, Astronomie, Philosophie und Poesie stehen. Ihre in mehreren Sprachen beschrifteten schwarzen Kuben erinnern an die bereits in den 70er Jahren einsetzende Beschäftigung der Künstlerin mit stereometrischen Körpern – zuerst mit dem Tetraeder, dann mit dem Kubus. Der nächste Schritt bestand darin, dass sie die stereometrischen Körper dem Sonnenlicht aussetzte und sich die durch die Rotation der Erde entstehenden Veränderungen des Schlagschattens wissenschaftlich notierte. Als Konkrete Künstlerin gab sie dem Schlagschatten massive Gestalt. Ihre Schattenreliefs in langen Reihen entsprechend sukzessiver Winkelgrade sind zu einzigartigen Ausstellungsobjekten geworden. Was die schwarzen Kuben, nachdem ihre geometrische und astronomische Herkunft wenigstens indirekt bewusst geworden ist, jetzt noch vermehrt ins Blickfeld rückt, sind die Texte, die auf ihnen erstrahlen. Vera Röhm zeigte Kuben mit Texten zum ersten Mal 1999, um sie im Erfurter Forum über „Licht und visuelle Texte“ in nächtlicher Verzauberung der Öffentlichkeit im Flüsschen Gera schwimmend vorzustellen. Es war nicht mehr der Schattenwurf, der faszinierte, sondern es waren die Texte. Hier wird eine weitere Ader der Künstlerin sichtbar. Sie schreibt, dass sie 1985 beim Studium einschlägiger Texte zum Themenkreis „Schatten, Schattenbewegung“ im „Deutschen Wörterbuch“ von Jacob und Wilhelm Grimm auf den lapidaren, aber großartigen Satz von Johann Leonhard Frisch (16661743) stieß: „Die Nacht ist der Schatten der Erden“. Sie muss den Fund fast mit Bestürzung als treffend für ihre Schattenuntersuchungen begrüßt haben. Ebenso kam es ihr nun aber auch zugute, dass sie polyglotter Natur ist. Der deutsche Satz wurde also – im Jahr 1995, vor dem Erfurter Forum – übertragen in bekannte Idiome, aber auch in solche, deren Schrift allein als solche besticht. Sie hat mit ihren Kuben einen ganzen Völkerbund zusammengetragen. Der große Satz in mehreren Idiomen fügt sich ausgezeichnet in das Werk von Vera Röhm, deren Kunst selbst von stiller Größe ist. Die Künstlerin hat für Schattenreliefs, Schattenwanderungen zuerst den Tetraeder, dann für das Thema der „Topographie der Zeit“ den Kubus als Gnomon eingesetzt. Die schwarzen Kuben der Ausstellung spielen als nachtdunkle Körper eine interessante Doppelrolle. Vera Röhm weiß um die Bedeutung des Kubus als platonischer Körper, nämlich in der Bedeutung der Erde. Somit fallen hier Nacht, Schatten und Erde in einer Einheit zusammen. Es geht der Künstlerin aber auch um die Gleichwertigkeit von Licht und Schatten. Sie ging bei diesem Thema auf die Gegenüberstellung von schwarz und weiß ein. Mit makellosen weißen Formenkörpern bezieht sie den Schatten nicht nur als Schlagschatten, sondern vor allem als Schatten am Objekt mit ein. Es entsteht ein dichter Dialog von Plastizität der weißen Form und ihrem Schatten. Durch unterschiedliche Gestaltformen wird dieser Dialog zu einem Schattenlabyrinth.

EUGEN GOMRINGER

Auszug aus „Shadow Play“, Ausstellungskatalog Odense, Kiel, Linz, Kehrer Verlag, Heidelberg 2005, S. 219f.

„Die Nacht ist der Schatten der Erde“, 25 Sprachen der 25 Textkuben von Vera Röhm für die Installation in Bad Ragaz, Bad RagARTz 2021

„Ich finde die Vielfalt der Sprachen und der Schriften auf diesem Globus staunenswert. ‚Die Nacht ist der Schatten der Erde‘ ist ein lapidarer Satz von Johann Leonhard Frisch, denn jeder sehende Mensch kann die gleiche Beobachtung machen: Abends wird es dunkel und die Nacht bricht ein. Mit dieser kurzen Aussage habe ich 1985 diese neue Serie begonnen. Es ist ein Work in Progress, am Anfang hatte ich 73 Übersetzungen, 1995 entstanden Siebdrucke, Leinwände und die ersten Textkuben, – mittlerweile sind es 887 Sprachen. Ich möchte diesen Text in allen Sprachen der Welt typographisch darstellen. Es fehlen also noch 1113 Sprachen, um 2000 der weltweit 7000 gesprochenen Sprachen gesammelt zu haben. Die Variationen der Schriftzeichen und die andersartige Grammatik der europäischen und außereuropäischen Sprachen, alle diese Schriften und übersetzten Sentenzen, die man nicht verstehen kann, werden zum Bild und die gesprochenen Sprachen, zum Klang.“

VERA RÖHM SOMMER 2021 — PORTRÄT

Vera Röhm, „Erdschatten (polyglott) I-IV“, „Die Nacht ist der Schatten der Erde“ in 15 Sprachen, 2001/2005/2006, 4 Mappen mit jeweils 17 Siebdrucken, je 50 x 50 cm, Auflage 25, Foto: Octavian Beldiman, © Vera Röhm / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Wenn der Schatten alle Sprachen spricht

Seit 1983 beschäftigt sich die 1943 in Landsberg am Lech geborene und in Genf und Darmstadt aufgewachsene Künstlerin Vera Röhm intensiv mit dem Themenfeld der Schattenwanderungen. In akribischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Arbeit lotet sie in ihrem Werk diskursiv die statischen und dynamischen Relationen zwischen platonischen Körpern und dem astronomischen Licht- und Schattenlauf aus. An der diesjährigen Bad RagARTz ist sie mit der ebenso raumgreifenden wie beeindruckenden Installation „Die Nacht ist der Schatten der Erde“ präsent.

Nähert man sich den in nachtschwarz gehaltenen fünfundzwanzig Textkuben von Vera Röhm, in welche in verschiedenen Sprachen die Inschrift „Die Nacht ist der Schatten der Erde“ eingelassen ist, sieht man sich sogleich von ihrer stillen, auratischen Kraft in den Bann gezogen. Der poetisch anmutende, ursprünglich in Deutsch und Latein von dem barocken Gelehrten Johann Leonhard Frisch (1666–1743) überlieferte Satz, umreisst in prägnanter und anschaulicher Weise die Perspektiven und die Wahrnehmungsmöglichkeiten des irdischen und des astronomischen Sonnengangs. Mutet der inzwischen in rund 900 Sprachen übersetzte Ausspruch zum einen auf eine nahezu mystische Weise schicksalshaft konsequent an, eröffnet er zum anderen in der Installation von Vera Röhm ungeahnte gedankliche und skulpturale Freiräume: Birgt ein jeder Kubus für sich alleine betrachtet bereits die physikalische Möglichkeit, den Schattenverlauf eines Erdentages im Schattenwurf umfassend nachzuvollziehen, kann er gleichzeitig als Metapher für eine spezifische geographische und kulturelle Region der Erde gelesen werden. Hat der kubische Körper an sich wiederum einen in sich geschlossenen, monolithischen Charakter, entfaltet er seine plastische und seine diskursive Kraft in Röhms installativer Anlage weit über seine eigentlichen Grenzen hinaus. In wirkungsmächtiger Symbolik erweitert sich der skulpturale Körper in seinem sich stets wandelnden Schattenwurf über sich selbst hinaus und lässt Sprachen, geographische Regionen, Nationen und Kulturen modellhaft in einen beständig dynamischen und von Ferne und Nähe sowie von Fremde und Vertrautheit zugleich getragenen Dialog treten.

DAS LABYRINTH ALS WEG ZUR ERKENNTNIS

Führt uns die Installation „Die Nacht ist der Schatten der Erde“ im Jahr 2021 in Realitäten, die weit über unsere unmittelbare Lebenswirklichkeit hinausgehen, ermöglicht das seit 1987 entstehende und 1998 erstmals realisierte „Schattenlabyrinth“, 2012 auf der Bad RagARTz zu sehen, dem Betrachter eine vertiefte geometrische, ästhetische sowie philosophische Analyse des Prinzips der Licht und Schattenwandlung in der je eigenen Lebenswelt. Bildet der Würfel im Sinne des platonischen Hexaeders analog dem Zyklus „Die Nacht ist der Schatten der Erde“ auch die geometrische und plastische Grundlage dieser Werkgruppe aus dem Zyklus „Einschnitte im Würfelsystem“, tritt er hier in der komplexeren Anlage von Ergänzungen und Reduktionen zu Tage, woraus sich wiederum die vermeintlich labyrinthische Ordnung ergibt. In seiner Referenz auf die antiken LabyrinthMythologien (zum Beispiel „Minos“) und die Labyrinthe in der antiken Baukultur sowie das platonische Höhlengleichnis wird Röhms „Schattenlabyrinth“ zu einem faszinierenden ästhetischen und erkenntnistheoretischen Erfahrungsmodell. Stehen der Schatten und das Dunkel seit jeher für die Unkenntnis und den archaischen Status der Unwissenheit, gemahnt das Labyrinth an Verlorenheit sowie die endlose Suche nach gangbaren Wegen und Auswegen in der Welt und im menschlichen Dasein. Anders als in Platons Höhle allerdings, wo das Schattenspiel in trügerischer Weise den Blick auf die Wirklichkeit versperrt und im Gegensatz zum Mythos der Ausweglosigkeit sind es in Vera Röhms Installation der Schattenlauf und das Labyrinth selbst, welches dem Menschen die Erkenntnis zutragen: So es denn dem Betrachter gelingt, dem komplexen Wechselspiel von Körperordnung in Reduktion und Addition sowie von Licht und Schattenwurf zu folgen und die darin angelegten Regularitäten zu erkennen, gelangt er zu Verständnis und Erkenntnis seiner Lebenswelt und wird in der labyrinthischen Skulptur selbst der übergeordneten Prinzipien und deren exemplarisch ins Werk gesetzter Schönheit gewahr.

DIE TRANSZENDENZ DER MATHEMATIK

In einer weiteren spannungsvollen und konzentrierten Variation manifestiert sich der Röhm’sche Gedankenkomplex rund um die Mathematik der Körper sowie der Licht und Schattenwelten in den „Binomen“, deren Idee zu einer Installation mit 25 Stelen 1994 geboren wurde und die sie 2003 erstmals in Berlin ausstellte, bevor sie 2006 in Bad Ragaz zu bewundern war. Sind die insgesamt 25 Stelen im unteren Bereich im archaischen, prägnant elementaren Material des Cortenstahls gehalten und scheinen unmittelbar organisch aus dem irdenen Grund zu erwachsen, gehen sie in scharfem Schnitt in transluzides Plexiglas über. In ihrer Spitze markieren sie die filigrane und zugleich absolute Grenze zwischen Erde und Kosmos, was dem Werk wiederum eine beinahe transzendentale Schönheit verleiht. Vera Röhm ist mit ihren Skulpturen und Arbeiten in zahlreichen institutionellen Sammlungen, mit bedeutenden Werken in Kunst am Bau sowie im öffentlichen Raum vertreten.

ANDRIN SCHÜTZ

Vera Röhm, „Binome“, Installation mit 25 Stelen, 1994/2003, Cortenstahl, Plexiglas, je 355 x 13,5 x 13,5 cm, Bad RagARTz 2006, Foto: Octavian Beldiman, © Vera Röhm / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

BINOME

Die Installation von Vera Röhm lässt vielschichtige, ambivalente Wahrnehmungen zu. Stahl und Plexiglas als Materialien industrieller Prägung stehen in Kontrast zu der sie umgebenden Landschaft. Natur wirkt als Raum, in dem die Vertikalen wie architektonische Elemente diesen gliedern. Zugleich stellt sich die Empfindung von Lebendigkeit und Wachstum ein, als würden die statischen Stelen – getrieben von innerer Dynamik – wie Pflanzen dem Licht entgegenstreben, obwohl sie durch ihre strenge geometrische Formensprache und ihr Material nicht primär auf Organisches verweisen. Die durchsichtigen, das Licht reflektierenden Plexiglasbereiche eröffnen die Sicht auf den Umraum. Auf diese Art und Weise gehen installative Skulptur, Architektur und Natur eine sowohl kontrastierende als auch verbindende Beziehung ein, die Denkanstöße in verschiedene Richtungen zu geben vermag.

SCHATTENLABYRINTH

Aus den Werkserien der „Schattenreliefs“ und der „Schattenwürfel“ hat Vera Röhm im weiteren Verlauf ihrer Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Schattens die konzeptuelle Idee der „Schattenlabyrinthe“ entwickelt. Die jahrtausendlang tradierte LichtSchattenDialektik, nach der das Licht gut und das Dunkle böse ist, hat sich im europäischen Kulturkreis erst durch die omnipräsente Verfügbarkeit von künstlichen Lichtquellen im 20. Jahrhundert begonnen aufzulösen. Während das Licht biologisch betrachtet für Wärme und pflanzliches Wachstum sorgt und damit die Grundlage aller menschlichen Existenz ist und aus philosophischer Sicht als Medium der Erkenntnis gilt – nicht von Ungefähr wird das Zeitalter der Aufklärung im Angelsächsischen als enlightenment bezeichnet –, wird der Schatten und in weiterer Konsequenz die nächtliche Dunkelheit, die ja nichts anderes ist als der Schatten der Erde, aufgrund der Absenz des positiv konnotierten Lichtes überwiegend mit negativen Aspekten und Erfahrungen in Zusammenhang gebracht. Denkt man an Platons Höhlengleichnis, so steht der Schatten für Halbwissen und Teilwahrheiten; wenn jemand auf der sprichwörtlichen Schattenseite des Lebens steht, ist es nicht gut um ihn bestellt. Zahllose weitere Beispiele ließen sich hier anfügen. Und doch gehört der Schatten zu unserer und aller Dinge Existenz dazu, und natürlich auch zur Kunst. Victor Stoichita weist in seinem Buch „Eine kurze Geschichte des Schattens“ allerdings darauf hin, dass trotz des Wissens um die Relevanz des Schattens für die Malerei die Darstellung realistischer Schatten jedoch nur zurückhaltend umgesetzt worden ist. Wenn Vera Röhm ihre große skulpturale Installationsserie „Schattenlabyrinth“ nennt, so klingen gleich zwei negative Konnotationen an: neben dem Dunkelheit und Angst evozierenden Schatten auch die mit dem Labyrinth verbundene Vorstellung von Verlorensein oder Hilflosigkeit. Dieses auf der Ebene des Titels verankerte negative Konnotationsfeld lichtet sich allerdings in Anbetracht des Werkes,

Portrait Vera Röhm, Foto: © Wolfram Eder

www.veraroehm.com

das Vera Röhm ab 1987 entwickelt hat, denn es besteht aus vierzehn mit unterschiedlichen Einschnitten versehenen Kuben aus weißlackiertem Aluminium mit einer Kantenlänge von jeweils 170 cm. Farbe und Größe wirken also einem negativen Eindruck entgegen. Nun entfaltet sich die Schattenwirkung abhängig vom Ausstellungsort, der außen (wie in der Aschaffenburger Ausstellung StadtLandschaftFluss, 2001), oder innen (wie im Institut Mathildenhöhe in Darmstadt, 199899) sein kann, unterschiedlich. Einerseits wird das unmittelbare Ausstellungsareal von einem scharf abgegrenzten dynamischen Schattenspiel der unterschiedlichen Formen überzogen, andererseits werden durch diese künstlichen Gnomone Halb und Kernschatten mit diffuser Begrenzung auf den Boden des Ausstellungsraumes sowie auf die Körper selbst geworfen.

ANDREAS BEITIN, Kunstmuseum Wolfsburg SOMMER 2021 — PORTRÄT

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