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Zehn Jahre Kunsthalle Vogelmann Heilbronn – von Chris Gerbing

10 Jahre Kunsthalle Vogelmann Heilbronn

Joseph Beuys und der Süden

Kurz nach Kriegsende 1945 war Joseph Beuys zusammen mit zahlreichen weiteren Kriegsheimkehrern eines Gefangenentransports in der zerbombten Schalterhalle des Heilbronner Hauptbahnhofs angekommen. Um noch am Abend weiterreisen zu können, benötigte er seine Papiere, die ihm der zuständige Schalterbeamte nach einem Streit nicht aushändigen wollte. Kurzerhand schlug Beuys den Mann nieder und legte den Hauptstromhebel des Bahnhofs um, wodurch die komplette Energiezufuhr lahmgelegt wurde. Die Dunkelheit nutzte er dann, um mit seinen Papieren zu verschwinden. Erst einige Jahre später definierte Beuys diese Situation zur Aktion um. Wichtig ist sie insofern, als Beuys mit ihr einerseits den Grundstein für seine künstlerische Laufbahn legte, andererseits mit der „Aktion Hauptstrom (Happening Hauptbahnhof Heilbronn)“ erstmals die Einheit von Kunst und Leben herstellte, die programmatisch für seinen künstlerischen Werdegang werden sollte. Mit „Beuys für alle!“ kam Joseph Beuys 2001 zur Eröffnung der Kunsthalle Vogelmann in Form einer Ausstellung nach Heilbronn zurück, auf die 2016 „Beuys und Italien“ folgte. Zu seinem 100. Geburtstag haben sich Heilbronn und Ulm nun zusammengetan und würdigen den Ausnahmekünstler mit einer Ausstellung, die seine Vielfältigkeit, zugleich aber auch seinen Einfluss auf nachfolgende Generationen von Künstlerinnen und Künstlern würdigt. „Wir haben viele gleiche Exponate“, so die Heilbronner Kuratorin Barbara Martin. In Ulm wurde insbesondere auf die politische Person Beuys und seine spezielle Verbindung zum deutschen Südwesten fokussiert: Aus Giengen an der Brenz stammte der Filz für seine Objekte; in Wangen im Allgäu wurde 1977 das Herzstück der „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ hergestellt, die auf der „documenta 6“ zu sehen war; im Internationalen Kulturzentrum Achberg arbeitete Beuys alljährlich im Sinne seiner Idee der „Sozialen Plastik“; in Karlsruhe fand 1980 die Parteigründung der Grünen statt, an der Beuys ebenfalls beteiligt gewesen ist.

Johannes Stüttgen/Joseph Beuys, Plakat der Grünen zur Europawahl 1979, unter Verwendung des Motivs Der Unbesiegbare von Joseph Beuys, Plakat, Siebdruck, Museum Ulm, Foto: Oleg Kuchar © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Joseph Beuys, „Demokratie ist lustig“, 1973, Siebdruck auf Karton mit handschriftlichem Text, Privatsammlung Brugger, Foto: Oleg Kuchar, © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

In Heilbronn ist zudem ein ganzes Stockwerk für eine zeitgenössische Adaption der Performance „I like America and America likes me“ durch den mexikanischen Künstler Yoshua Okón reserviert. In „Coyoteria“ verlegt er das Geschehen an die mexikanischUSamerikanische Grenze, und indem er die Beuys’schen Requisiten durch trashige Objekte ersetzt, führt er die Referenz einerseits ad absurdum, zeigt andererseits, dass wir noch weit entfernt sind von einer humanen Gesellschaft. Der Kojote ist bei Okón sowohl Schleuser wie auch korrupter Betrüger. Die mexikanischen Ureinwohner bezeichnen die Spanier überdies als Kojoten. Mit Verweisen auf Flucht, Korruption und Kolonialismus berührt Okón zeitgenössische, ganz aktuelle Themen, mit denen Heilbronn die Aktualität von Joseph Beuys vor Augen führt und den Blick über Süddeutschland weitet. „Ein Woodstock der Ideen“ lautet der Titel der Wanderausstellung, innerhalb derer das Konvolut an BeuysMultiples und Grafiken, die als Dauerleihgabe der Franz Ernst VogelmannStiftung im Museum Vogelmann bewahrt werden, eine besondere Würdigung erfährt. Aus dem etwa 300 Kunstwerke umfassenden BeuysDepositum der Stiftung, „einem Schatz, aus dem geschöpft werden kann“ (Barbara Martin), werden rund 40 Objekte präsentiert; die hauseigene Sammlung zieht sich durch die verschiedenen Sektionen, die politischen und gesellschaftsreformerischen Aspekte kommen vor allem in den Multiples zum Ausdruck. Dabei handelt es sich um Auflagenwerke, die entsprechend der Beuys’schen Diktion, Kunst für alle schaffen zu wollen, eine deutlich größere Verbreitung erhalten haben und natürlich auch kostengünstiger zu erwerben waren als ein nur einmal geschaffenes Original. Der

Privatsammler Manfred Ballmann, ein Apotheker aus Seckach, hatte die in seinem Besitz befindlichen Werke, die er in den vorangegangenen 30 Jahren gesammelt hatte, 2007 an die VogelmannStiftung verkauft, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er ist dem Haus lange gut verbunden und fungierte für die aktuelle Ausstellung wieder als Leihgeber. „Mit dem Erwerb des BeuysKonvoluts konnten wir auf einen Schlag unseren Schwerpunkt Skulptur der Moderne bis in die Gegenwart durch eine der wichtigsten Positionen des 20. Jahrhunderts anreichern“, so Martin. Die Bildhauerei steht auch im Fokus des Ausstellungsprogramms der Kunsthalle Vogelmann, das nochmals mit dem im dreijährigen Turnus verliehenen „Ernst Franz VogelmannPreis“ für zeitgenössische Skulptur geschärft wird. Hinzu kommt inzwischen die Fotografie als Alleinstellungsmerkmal in der Region, die über das Programm des Museums im Deutschhof ausgreift, an dessen Veranstaltungsprogramm aber dennoch anknüpft. Marc Gundel, der seit 2004 die Städtischen Museen Heilbronn leitet, ist gleichzeitig Gründungsdirektor der Kunsthalle Vogelmann und Initiator des Skulpturenpreises, der seit 2008 zeitgenössische Bildhauerinnen und Bildhauer auszeichnet. Zuletzt ging er 2020 an die türkischstämmige Künstlerin Ayşe Erkmen, die 2017 bei den „Skulptur Projekten“ in Münster mit „On Water“ große Beachtung erfahren hatte.

CHRIS GERBING

28. August bis 28. November 2021 Ein Woodstock der Ideen. Joseph Beuys, Achberg und der deutsche Süden museen.heilbronn.de

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