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Transformation. Eine Reise ins Innere – von Christina Körner

Marina Abramović in der Kunsthalle Tübingen

Transformation Eine Reise ins Innere

Weltweit faszinieren ihre Performances, Videos und andere Projekte ein Millionenpublikum.

Marina Abramović gilt als Pionierin der PerformanceArt. Die Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen beleuchtet eine neue Seite der Ausnahmekünstlerin. Sie zeigt, wie Abramović die Entwicklung am „eigenen Selbst“ mittels unterschiedlichster Medien und Werke in die Sprache der Kunst übersetzt hat, und ihre Bezüge zu Tübingen seit den 1970erJahren. „Mich fasziniert, wie sie mit der eigenen Transformation so offen umgeht. Sie hat das in ihrer Biografie getan und auch als wir vor mehr als zwei Jahren begannen, die Ausstellung zu planen, war Marina Abramović diejenige, die von sich aus vorgeschlagen hat, für die Auslegung und Neuinterpretation ihres Werkes verschiedene Autorinnen und Autoren einzuladen, die ihr Werk neu beleuchtet haben“, sagt Nicole Fritz, Direktorin der Kunsthalle Tübingen. „In mir stecken drei Marinas – die Kriegerin, die Jammertante und die Spirituelle“, steht in ihrer Biografie „Durch Mauern gehen“. Die Ausstellung „Jenes Selbst / Unser Selbst“ stellt den spirituellen Aspekt in Leben und Werk der Künstlerin, die 1946 in Belgrad geboren wurde, in den Mittelpunkt. Sie studierte an der Kunstakademie Belgrad und beginnt in den 1970er und 1980erJahren, performativ, also mit ihrem Körper, Kunst zu machen, und gibt das Malen und Zeichnen auf. „Wir zeigen in Tübingen ein Gesamtkunstwerk, den Menschen und die Künstlerin Marina Abramović, der Parcours an Werken ist sowohl chronologisch als auch thematisch angelegt“, betont Nicole Fritz. Die „Reise ins eigene Innere“ der Künstlerin wird anhand von ausgewählten Hauptwerken gezeigt, aber auch die Frühphase ist mit bisher unveröffentlichtem Archivmaterial dokumentiert. Ergänzt wird die Ausstellung durch einen umfangreichen Katalog mit interdisziplinären Beiträgen, die das Œuvre unter psychoanalytischem, theologischem, mythologischem, kunst und kulturwissenschaftlichem Blickwinkel analysieren. Wenig bekannt ist bislang die Verbindung von Marina Abramović zu der Galerie Ingrid Dacić aus Tübingen. Hier war die Künstlerin von 1975 bis 2000 mehrfach zu Gast. „Wir machten fünf Ausstellungen mit Marina und eine mit Marina und Ulay. Wir haben Marina 1974 in Belgrad im studentischen Kulturzentrum kennengelernt. Dort haben wir ihre Performance ‚Rhythm 5‘ gesehen und mein Mann hat sie, zusammen mit einem anderen Zuschauer, aus dem brennenden Stern geholt, als sie ohnmächtig wurde“, erinnert sich Ingrid Dacić, die ehemalige Tübinger Galeristin. „Generell hat sie ihre politische Haltung künstlerisch sehr gut umgesetzt. Der fünfzackige Stern war das politische Symbol der kommunistisch und sozialistisch regierten Länder und des ehemaligen Jugoslawiens“, ergänzt sie. „Wir hatten ab 1983 bis 2000 die Galerie, davor haben wir uns die Kunst ins Haus geholt und Performances sowie Rauminstallationen gezeigt“, sagt Ingrid Dacić, deren Galerie gut 1.300 Meter von der Kunsthalle Tübingen entfernt war und neben Marina Abramović Künstlerinnen und Künstler unterschiedlicher Richtungen gezeigt hat wie Julije Knifer, Radomir Damnjan, Braco Dimitrijević, aber auch Reiner Ruthenbeck, Luigi Ontani, Martin Kippenberger, Albert Oehlen, Georg Ettl und viele andere.

„Die Zusammenarbeit mit Marina Abramović und ihrem Studio war großartig und sehr eng“, so Nicole Fritz begeistert. „Marina Abramović hat eigenes Archivmaterial beigesteuert und wir haben die Ausstellung im Vorfeld – da wir aufgrund der Pandemie nicht reisen konnten − gemeinsam virtuell aufgebaut“, beschreibt die Kunsthallendirektorin. Zahlreiche Fotos sowie Videos werden erstmals der Öffentlichkeit in der Ausstellung und im Katalog vorgestellt und weitere wichtige Werke dieser frühen Phase, etwa das Video „Freeing the Memory“ von 1975 sowie die Performance „Talking about Similarity“ von 1976, belegen diese Zeit. Marina Abramović lernte den deutschen Künstler Ulay 1975 kennen und lieben − aus der zwölfjährigen Zusammenarbeit ging die titelgebende Arbeit „That Self“ von 1980 hervor. Bereits im Jahr 1972 lernte Marina Abramović Joseph Beuys kennen, und er hat sie nachhaltig beeinflusst. „Es gab immer schon zahlreiche Künstlerinnen und Künstler des 20. Jahrhunderts, die sich mit der Suche nach dem eigenen Inneren auseinandergesetzt haben“, sagt Kunsthistorikerin Nicole Fritz, die über Beuys promoviert hat. Alchemie war stets – mal mehr oder weniger − ein Teil der Kunst. Und sie ergänzt: „Beuys hat weniger seinen autobiografischen Körper benutzt. Er hat sich auf die Anthroposophie bezogen und seine Werke verweisen oft auf diese Metaerzählungen.“ Marina Abramović dagegen ist viel körperhafter, ihre Lebenssicht leitet sie aus radikalen Körperbefragungen ab. Ihre frühen Performances wie „Rhythm 0“ von 1974 loten auf fast schon selbstzerstörerische Art und Weise die Grenzen des Körpers und des Bewusstseins aus. Während die große Performance „The Artist Is Present“ von 2010, bei der sie 90 Tage im New Yorker MoMA bewegungslos, ohne Unterbrechung Besucherinnen und Besuchern gegenübersitzt und ihre Aufmerksamkeit auf sie richtet, dann mehr einen „Energiedialog“ mit dem Publikum darstellt. Der spirituelle Aspekt zeigt sich darüber hinaus auch in den Arbeiten, die von den Spuren ihrer serbischorthodoxen Erziehung geprägt sind. So nutzt sie beispielsweise ihren Körper in der Tradition christlicher Bußrituale als Tor, um einen erweiterten Bewusstseinszustand zu erlangen. „Sie findet neue Bilder für den Dialog mit dem inneren ‚Selbst‘ wie das ‚Portrait with White Lamb‘ von 2010“, erklärt Nicole Fritz. Im Lauf ihres Lebens hat sie einen ganz individuellen Zugang zum Transzendenten entwickelt, der auf diese Art und Weise Elemente der europäischen Mystik, etwa von Teresa von Ávila, des südamerikanischen Schamanismus und des Buddhismus vereint. Am Ende der Entwicklung dieses Dialogs mit dem „eigenen Selbst“ steht eine selbstbewusste Künstlerin. Die Essenz ihres Werkes als Impulsgeberin sowie ihre Erfahrungen gibt sie heute in Workshops und in dem von ihr gegründeten Marina Abramović Institute (MAI) weiter. Erstmals werden in Tübingen auch die Arbeit „The Life“ in einem musealen Kontext zu sehen sein, eine der jüngsten Arbeiten, in der diese dem Publikum im Ausstellungsraum mittels MixedRealityTechnik virtuell erscheint, sowie das Video „Boat Emptying, Stream Entering 2“ von 2001.

CHRISTINA KÖRNER

Marina und Ulay bei Familie Dacić, Tübingen, 1976, Courtesy: Ingrid Dacić Archive 24. Juli 2021 bis 13. Februar 2022 Marina Abramović Jenes Selbst / Unser Selbst www.kunsthalle-tuebingen.de

Ulay / Marina Abramović, „Point of Contact“, Januar/August 1980, Performance, 60 Min., De Appel Gallery, Amsterdam, Courtesy: Marina Abramović Archives, © Ulay und Marina Abramović / VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Marina Abramović Bundeskunsthalle Bonn, 2018

Im Lockdown erinnert sich auch die „KunstArztPraxis“ gern an glücklichere Zeiten. An vergangene „Operationen“, zum Beispiel das aufregende Fotoshooting in der Bonner Bundeskunsthalle mit Marina Abramović , die in diesem Jahr ja 75 wird. Und an zwei irritierend unterschiedliche Seiten einer Künstlerin. Wir von der „KunstArztPraxis“ werden oft gefragt: „Ist es schwer, die Reichen und Schönen des Kunstbetriebs zu fotografieren?“ Wir antworten dann immer: „Eigentlich nicht.“ Überhaupt ist das erste Foto oft das beste. Die Sekunde vorm letzten Strich durchs Haar. Der Moment beim Versenken eines Schmierpapiers in der Jackentasche. Der entscheidende Augenblick vor dem fast unvermeindlichen Posieren also. Bei Ai Weiwei, bei Erwin Wurm, teils auch bei Katharina Grosse. Bei Marina Abramović war das vollkommen anders.

SICH BEIM BLICK INS LEERE SAMMELN

Im April 2018 war das, im Auftrag des WDR und im Vorfeld der großen Retrospektive „The Cleaner“ in der Bundeskunsthalle Bonn. Daran erinnern wir uns, als sei es gestern gewesen. Marina Abramović hatte sich fürs Fotoshooting viel Zeit genommen: ungewöhnlich in all dem Aufbaurummel. Wir gehen zusammen ins lichte Foyer, einen von Abramovićs erklärten Lieblingsorten im Museum. Das hauseigene Kamerateam folgt hinterdrein. Abramović setzt sich auf eine der Bänke, den Rücken an der Lehne. Sie schaut uns nicht an. Schaut gar nichts an. Wir können erkennen, wie sie sich sammelt. Wie sie die ganze Konzentration in das fließen lässt, was kommen wird. Wir gehen derweil (zum Fotografieren) in die Knie.

DIE KAMERA ALS SCHUTZWALL

Dann dreht Abramović sich zu uns um – und wir blicken in etwas seltsam Starres. Ein Gesicht zwischen Physiognomie und Maske, das wir von vielen offiziellen Fotos der Künstlerin längst kennen. Ein ikonisches Gesicht, das immer noch befremdet. Ein Gesicht, das augenblicklich zeigt, worum es geht – hier wie in Abramovićs Aktionen: Blicke fast wie Schmerzen aushalten, den eigenen Blick bei aller Verletzlichkeit unbedingt kontrollieren wollen. Durchdringen. Und dabei undurchdringlich bleiben. So ist das Shooting wie eine Art PrivatPerformance. Im Grunde könnten wir auch mitten in Abramovićs Aktion „The Artist Is Present“ (2010) im New Yorker MoMA sein, bei der die Künstlerin drei Monate lang täglich während der Öffnungszeiten schweigend im Atrium auf einem Stuhl saß. Und ihr rund 1.500 gegenübersitzende Besucherinnen und Besucher nacheinander in die Augen blickten. Nur nicht mit einem Tisch, sondern mit der Kamera als Schutzwall dazwischen.

Alle Fotos: © KunstArztPraxis

AUS DER MARKE WIRD DER MENSCH

Und dann passiert etwas ganz Zauberhaftes: Abramović nimmt ihren Kopf in die Hände, senkt den Blick, hebt den Kopf wieder, öffnet die Hände – und ist plötzlich aufgewacht. Wir blicken in ein gelöstes Gesicht, das lächelt. Alles Maskierende ist abgefallen. Aus der Marke, denken wir zumindest, wird der Mensch. Seitdem fragen wir uns: Wer ist Marina Abramović? Ist sie jene Kunstfigur, die ihre Rolle im MoMA auch nach Monaten und sichtlich gezeichnet von den Strapazen teils krampfhaft aufrechtzuerhalten sucht – und in dieser Emotionslosigkeit manche der Besucherinnen und Besucher zum Lachen oder Weinen rührt? Oder ist sie jene „Privatperson“, die weinend aus der Rolle fällt, als sie erkennt, dass sie, angeblich erstmals nach Jahren des Schweigens, ihrem Expartner Ulay gegenübersitzt – selbst wieder eine der ergreifendsten Szenen der Kunstgeschichte?

TRÄUMT ABRAMOVIĆ IN PERFORMANCES?

Wie man Marina Abramović wird, hat die Künstlerin 2016 in ihrer Autobiografie „Walk Through Walls: A Memoir. Becoming Marina Abramović“ hinlänglich beschrieben. Aber: Wie ist man Marina Abramović? Und wann ist man Marina Abramović? In der Performance? Im privaten Raum? Oder ist das gar nicht mehr zu trennen bei jemandem, der so stark in der eigenen Kunst versunken, mit ihr verbunden ist? Wir jedenfalls haben in zwei ganz unterschiedliche Gesichter geschaut. Zwei völlig verschiedene Blicke erhascht. Und es natürlich nicht herausgefunden. Am Ende des Shootings, beim gemeinsamen Betrachten der Fotos, hat uns Marina Abramović übrigens über den Unterarm gestreift. Eine unachtsame Geste? Eine emotionale Regung? Abschluss der privaten Performance? Vielleicht alles zusammen. Oder auch nichts davon. Die „besten“ Fotos waren auf jedem Fall die letzten drei.

KUNSTARZTPRAXIS

Kunst ist immer noch die beste Medizin. Deshalb präsentiert die „KunstArztPraxis“ in ihrer „Sprechstunde“ seit Mitte Januar 2021 Körperstärkendes und Seelentröstendes aus den Museen NRWs. Und das in einer Form, die den Blog zu einer echten Entdeckung macht. Gegründet wurde die „KunstArztPraxis“ mit dem erklärten Ziel, der Kunst in NRW nicht nur, aber auch in Zeiten von Corona zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen: Dafür haben die Museen sogar hin und wieder das Licht angeknipst und den Alarm abgeschaltet, sodass die „KunstArztPraxis“ in Text & Bild von Ausstellungen berichten konnte, die teils noch gar keine Besucherinnen und Besucher gesehen hatten. Formate (bisher): Ausstellungsbesprechungen („Operationen“), Ateliereinblicke („Hausbesuche“), Interviews, Quiz, Fotostrecken („Reine Bildgebung“). Und Erinnerungen an Treffen mit Künstlerinnen und Künstlern wie das mit Marina Abramović.

www.kunstarztpraxis.de

„Super Danke, diese KunstArztPraxis habe ich heute entdeckt – die Idee genial, einmalig, ungewöhnlich, herausragend, inspirierend – auch für den Süden interessant. Weiter so und bitte nehmt mich in Euren NewsletterVerteiler. In Beuys’scher Abwandlung ‚Kunst ist Medizin‘ Ihrer Idee verbunden grüßt herzlich.“

HELENA VAYHINGER,

Galeristin in Singen am Hohentwiel/Bodensee

Magdalena Jetelová im Forum Kunst Rottweil

Pacific Ring of Fire

Magdalena Jetelová, „Pacific Ring of Fire“, 2018, Leuchtkasten

Magdalena Jetelovás Projekt „Pacific Ring of Fire“ aus dem Jahr 2018 entstand in Patagonien an der Nahtstelle zwischen Antarktischer und Pazifischer Platte und beschäftigt sich mit dem Thema der Grenze − im geografischen und erdgeschichtlichen, im philosophischen und kulturellen Kontext. Mithilfe eines Laserstrahls wurden mathematische Berechnungen der geologischen Nahtstelle als Lichtlinien markiert und in Fotografien festgehalten. Jetelová beschreibt den Zustand einer Landschaft, die sich aufgrund des drastischen Klimawandels immer rascher und deutlich wahrnehmbar verändert. Die Fotografie hält dabei nur einen kurzen Augenblick eines Prozesses fest, der unaufhörlich voranschreitet und möglicherweise nicht mehr aufhaltbar erscheint. Die Künstlerin begab sich dabei selbst in Gefahr, denn um den richtigen Standort für das Fotografieren ausfindig zu machen, musste sie in ein kleines Boot steigen oder Eisberge erklimmen, um wiederum Bilder zu schießen, die von großer ästhetischer Wertigkeit sind. Gleichzeitig entsteht bei Betrachterinnen und Betrachtern aber das Gefühl massiver Bedrohung aufgrund sichtbarer klimatischer Veränderungen. Die unter großem technischem Aufwand fotografierten Eislandschaften sind in Lichtboxen montiert. Auf diese Weise können die Landschaftserfahrungen, die die Künstlerin vor Ort in Patagonien fotografisch festhielt, weit entfernt vom eigentlichen Geschehen eindrücklich vor Augen geführt werden. Jetelovás Werkzyklus „Pacific Ring of Fire“ ist ein Memento für einen Prozess, der unaufhaltsam zu sein scheint, aber gleichzeitig mit aller Kraft verhindert werden muss, will die Menschheit auf Dauer überleben.

JÜRGEN KNUBBEN

Bis 29. August 2021 Magdalena Jetelová „Pacific Ring of Fire“ www.forumkunstrottweil.de

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