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Interview von Alice Henkes mit dem Kurator Luciano Fasciati
Franziska John, „Köpfe“, 2020, Ton, 30–50 x 20–40 x 10–40 cm (H x B x T), Foto: Sara Foser, Foto Fetzer
Stefano Bombardieri, „Il peso del tempo sospeso – Rhino Monumental“, 2021, Fiberglas, Metall, 350 x 450 x 150 cm (H x B x T), Foto: Sara Foser, Foto Fetzer
„HIER BEGINNT MEIN DENKEN“
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Bereits während der ersten Minuten an der diesjährigen Schweizerischen Triennale der Skulptur wird klar: Die Ausstellung hat in der Tat so einiges zu bieten. Vor allem wird sogleich der lebendige internationale künstlerische und soziale Diskurs spürbar, der an der „Bad RagARTz“ omnipräsent ist. Die Ausstellung folgt keiner gestrengen musealen Ordnung, sondern inspiriert in ihrer Vielfalt bei jedem Schritt Jung und Alt zum angeregten Diskurs über das soeben Entdeckte. Lachen und weinen, philosophischer Ernst und verschmitzter Schalk sind hier ebenso nahe beieinander wie stringente Komposition und verspielte Interaktion. So steht man in respektvoller Stille vor dem auratischen, in grandioser bildhauerischer Technik realisierten Monument „Aus einem Stein“ des 1937 in Hiroshima geborenen und 2012 in Reinzabern (D) verstorbenen Japaners Hiromi Akiyama, während eine fröhliche Kinderschar auf und in der riesigen Stahlskulptur des Deutschen Künstlers Werner Bitzigeio herumkraxelt und erste Erfahrungen mit den Grenzen der Wahrnehmung sammelt.
Manolo Valdés, „Clio Blanca“, 2020, Aluminium und Edelstahl, 388 x 645 x 248 cm (H x B x T), Foto: Sara Foser, Foto Fetzer
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„Wenn Außen Innen wird, wenn Oben Unten wird, wenn Vorne Hinten wird, ist der Hohlraum Voraussetzung. Hier beginnt mein Denken“, so einst Hiromi Akiyama in einem Zitat. Eine Erfahrung, welche die spielenden Kinder in Bitzigeios Skulptur wohl auch gerade machen, mag man sich denken, wird sich aber sogleich dessen bewusst, welch tiefer Ernst im Satz des Japaners steckt, der sich mit Fülle und Leere und mit Ordnung und Unordnung befasste. Acht Jahre alt muss er gewesen sein, als die unvorstellbare Katastrophe über die Straßen, Plätze und Häuser seiner Geburtsstadt hereinbrach. Findet der Japaner in die Klarheit der stillen Schönheit zurück, ist die zerstörerische Kraft des Krieges in der Arbeit des 1966 in Bagdad geborenen Mahmoud Obaidi noch wesentlich präsenter: Rund neun Meter misst der Bomber „Mosquito Effect“, der, in Bronze und Cortenstahl realisiert, nicht nur zahlreiche Menschenleben, sondern auch die kulturellen Schätze vergangener Epochen mit sich fortträgt. Kritisch zu lesen sind auch die vordergründig ebenso surreal wie amüsant anmutenden Installationen „Marta & l’elefante“ und „Il peso del tempi sospeso – Rhino Monumental“ des Italieners Stefano Bombardieri, die bereits auf der letzten Biennale von Venedig zu sehen waren und auf das problematische Verhältnis zwischen Mensch und Tier und Mensch und Natur verweisen, zugleich aber auch als tragende Metaphern für zwischenmenschliches Verhalten dienen mögen. Spielerisch wiederum tritt das Menschliche an sich bei der in der Region heimischen Bildhauerin Franziska John zutage, deren begehbare Installation den Besucher ganz gemäß dem Motto „Erkenne dich selbst!“ über die je eigenen positiven und negativen Emotionen reflektieren lässt.
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Pascal Murer, „Segreto“, 2012, Nussbaum, 183 x 52 x 10 cm (H x B x T), Foto: Sara Foser, Foto Fetzer
Herbert Mehler, Serie „dedicato brancusi“, 2016–2019, Cortenstahl, Höhe 200–450 cm, Foto: Sara Foser, Foto Fetzer
VON MUSEN, KLANG UND WÖLFEN
Schlicht beeindruckend präsentiert sich in nächster Nähe die Skulptur „Clio Blanca“ des Spaniers Manolo Valdés. Während das Haupt der griechischen Muse für Heldendichtung und Geschichtsschreibung in erhabener bildhauerischer Zurückhaltung formuliert ist, scheint sich aus dem ausladenden Haarkranz der mythischen Tochter des Zeus und der Mnemosyne die ganze Menschheitsgeschichte in kreativer Dichtung und unerbittlicher Wahrheit über die Welt zu ergießen. Die Muse im Sinne des spannungsvollen Wohlklanges ist in der sphärischen Klanginstallation des 1957 in Zürich geborenen Künstlers Pius Morger präsent, welche durch ihre poetische Ruhe für Auge und Ohr zu überzeugen vermag. Wie sagt der Künstler selbst?: „Mit dem Klang bringe ich Euch die Stille.“ Und siehe da: Nahezu verzaubert scheinen die Besucher zwischen den roten, organisch geformten Klangkörpern umherzugehen und zu verweilen. Eine ebenso wirkungsmächtige wie stille Schönheit wird auch in der monumentalen Skulptur des bedeutenden Schweizer Stahlbauers James Licini erlebbar. Kaum einen Hauch spürt man und kaum einen Laut vernimmt man, wenn man sich im Inneren der mit
archaischer Kraft dem Himmel zustrebenden Stahlträgerkomposition befindet. Lautes Gebrüll hingegen vermeint der Besucher zu vernehmen, wenn er sich denn in die Nähe der monumentalen, uniform in Bronze gearbeiteten Affen des chinesischen Künstlers Liu Ruowang begibt. Die Installation mit dem Titel „Erbsünde“ steht in krassem Widerspruch zur ebenso von Ruowang stammenden Figur „Wenji Yang – Asking up“, deren gen Himmel gerichteter Blick uns ins Reich des individuellen Nachdenkens und der freien philosophischen und politischen Äußerung befördern will. Nicht weniger beeindruckend ist auch die Arbeit „Wolves Coming“ des 1977 in der Provinz Shanxi geborenen Chinesen, welche im lauschigen Giessenpark ihren Platz gefunden hat. „Homo hominis lupus“ – keine Frage. Die innere Ruhe bringen Pascal Murers in wundervoller Gusstechnik gearbeiteten „Grande Fleur“, „Origin“ und „Solea“ zurück, die in ihrer hohen Ästhetik sogleich eine meditative Stimmung und eine innige Verbundenheit mit der Welt und der Natur aufkommen lassen.
WE LIKE IT!
Nun wird es aber auch für uns bald Zeit für einen kühlen „Pinot Grigio“ aus den angrenzenden Rebbergen. Der Weg führt durch das faszinierende geometrische Form und Schattenspiel des in Fulda geborenen Künstlers Herbert Mehler sowie durch die mit den farbenfrohen „dislikes“ von Stephan Marienfeld bestückte Allee von Mammutbäumen. Ein kurzer Blick noch auf den Giessensee und das Skulpturenmeer von der knallroten Treppe von „Maboart“ aus und dann geht es zurück. „We like it!“
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Foto: © Hotel Restaurant Rössli
Hotel Restaurant Rössli
Freihofweg 3, 7310 Bad Ragaz T +41 81 302 32 32 www.roessliragaz.ch
Das Rössli ist ein kleines Hotel mit vorzüglichem Restaurant in Bad Ragaz. Haus, Zimmer und Suite sind umgebaut. Architektonisch anspruchsvoll und passend zum Ruf des 15-Punkte-Restaurants. Ueli Kellenbergers Küche ist überraschend, vielfältig und erfinderisch. Die Weinkarte führt über 500 Positionen aus aller Welt. So heißt der Geheimtipp: Speisen und ruhen im Rössli, Kunst erleben in dem über 11 km langen Skulpturenpark, Erholung in der Therme, ausfliegen in die Bündner Herrschaft oder auf den Pizol.
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Altes Bad Pfäfers, Foto: Bad Ragaz
FESTIVAL DER KLEINSKULPTUR
Wer zu Hause nicht über ausgedehnte Gartenanlagen verfügt und es somit etwas kleiner liebt, der kann auf der „Bad RagARTz“ die Nähe zur Kunst auch im Kleinformat entdecken. Ein Stück Weg durch die wildromantische Taminaschlucht mit ihren imposanten Felsformationen und den rauschenden Wasserfällen und man langt am „Alten Bad Pfäfers“ an. Die 1240 von einheimischen Jägern entdeckte Heilquelle, die im 16. Jahrhundert aufgrund eines Gutachtens des berühmten Arztes und Alchimisten Paracelsus ersten Ruhm erlangte, legte die Grundlage für den heutigen Kurbetrieb in Bad Ragaz. Dort, in den Mauern der alten aufgelassenen Benediktinerabtei, welche einst den Quellbetrieb betreute, eröffnet sich in diesen Monaten der Blick auf die Welt der Kleinskulptur. In der sorgsam kuratierten Ausstellung, welche gleichsam einen Mikrokosmos des globalen Skulpturenschaffens bildet, sind alle an der Triennale teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler mit einem oder mehreren kleineren Werken vertreten.
ANDRIN SCHÜTZ
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Jörg Plickat
Archaische Kraft und zeitlose Poesie
Manch einem Besucher der Schweizerischen Triennale der Skulptur 2018 wird die beeindruckende Szenerie in guter Erinnerung geblieben sein: Trotz ihres enormen Gewichtes schien die Skulptur „Move“, mit der Jörg Plickat bereits an der „Bad RagARTz“ 2018 vertreten war, über der stillen Wasserfläche des idyllisch gelegenen Giessensees in Bad Ragaz geradezu zu schweben.
In der Tat ist es eine wesentliche Eigenschaft der Werke des 1954 geborenen und in Hamburg und Bredenbek, SchleswigHolstein lebenden Künstlers, die archaische Kraft des Stahls und die zuweilen monumentale Größe mit dem tragenden Moment der zeitlosen Poesie zu vereinen. Das Werk Plickats, der in seinen früheren Jahren eine vornehmlich figurative Bildsprache verfolgte, zeichnet sich auch heute stets durch eine herausragende Konzentration und eine beachtliche Stringenz in Komposition und Handwerk aus. Dies mag unter anderem daran liegen, dass der ursprünglich an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel ausgebildete Bildhauer auch auf dem Wege in die zunehmende Abstraktion das Prinzip der Figuration und des inhaltsgeladenen eigentlichen Motives keineswegs aufgegeben, sondern vielmehr in die Konstanten gekonnter und konsequenter Körper und Raumanalyse in der Skulptur transformiert hat. Dies wiederum geschieht durch Fragmentierung und Reduktion der theoretischen Volumina sowie durch additives Vorgehen in der Komposition. Hierin wiederum lässt Plickat ein spannungsvolles Wechselspiel von treibender Dynamik und monumentaler Statik entstehen, welches den Betrachter sogleich in den Bann zu ziehen vermag.
Jörg Plickat, „Dialog“, 2006, Cortenstahl, Jakobkemenate, Braunschweig, Foto: © Jörg Plickat
EINE MONUMENTALE GESTE DES ZWISCHENMENSCHLICHEN BRÜCKENSCHLAGS
So vereint auch die Skulptur „Move“ in faszinierender Weise die Aspekte der vermeintlichen Bewegung und des Innehaltens sowie das poetische Spiel von träger Schwere und tänzerischer Leichtigkeit, um letztendlich in einer scheinbar zeitlosen Sphäre zu verharren. Stehen bei „Move“ die räumliche Analyse und die Manifestation von Statik und Dynamik im Vordergrund, werden Raum und Körper in „Quo vadis“ und „Fragmented Cube“ zum vorherrschenden Thema: Fülle und Leere verschränken sich hier in einem komplex angelegten geometrischen Diskurs und entfalten zugleich eine nahezu physisch spürbare Sogwirkung sowie eine monolithisch anmutende Aura, die zur vorsichtigen Distanz gemahnt. Geradezu körperlich erfahrbar wird die Präsenz auch in der Skulptur „Helping Hands“, welche sich an der diesjährigen Triennale als mächtige „Hommage an die Menschlichkeit“ aus dem Giessensee erhebt. In der 2017 mit dem großen NordArtPreis ausgezeichneten Skulptur türmen sich die voluminösen Stahlkörper gleich zweier kraftvoll ineinander verschränkter Hände zur monumentalen Geste des zwischenmenschlichen Brückenschlages auf.
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Jörg Plickat, „Move“, 2017, Cortenstahl, 480 x 480 x 460 cm (H x B x T), Foto: Sara Foser, Foto Fetzer
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Jörg Plickat, „Helping Hands – Hommage a Humanity“, 2017, Cortenstahl, 350 x 700 x 400 cm (H x B x T), Foto: Fabio Spadin
SENSIBLER DIALOG MIT HISTORISCHEN SUBSTANZEN
Weisen Jörg Plickats skulpturale Werke in freier Natur und in öffentlichen Anlagen stets eine raumbestimmende Autorität auf, gelingt es Plickat im Umgang mit bestehenden historischen Bausubstanzen wiederum, seine Arbeiten, die zuweilen auch eine konservatorische Funktion haben, sensibel in das Bestehende zu integrieren, ohne dabei die eigene inhaltliche und kompositorische Kraft zu verlieren. So geschehen beispielsweise 2006 im Kulturzentrum „Jakobskemenate“ in der historischen Altstadt von Braunschweig: Der im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstörte Bau mit mittelalterlichen Fresken und wertvollen erhaltenen Holzdecken gehört zu den ältesten weltlichen Bausubstanzen Braunschweigs. Zwei Cortenstahlplastiken, eine ebenso in patiniertem, rostgebremstem Cortenstahl gehaltene Fassadeninstallation sowie Dachelemente aus der Hand Plickats treten hier in einen anspruchsvollen künstlerischen und architektonischen Dialog mit der historischen Bausubstanz. Das ebenso tiefe wie vitale Verständnis des norddeutschen Bildhauers im Umgang mit historischen Sakralbauten und der Tradition der christlichen Ikonografie wurde auch im Frühjahr 2006 im Rahmen einer großen Einzelausstellung in der Martinikirche in Braunschweig in den beiden Skulpturen „Ambos Mundos“ sowie „Sehnsucht einer Erinnerung“ augenscheinlich, welche zum einen die gotische Bausubstanz in sich aufnahmen und zum anderen die kompositorische Tradition der PietàDarstellungen verarbeiteten. Einen beeindruckenden Ort der konzentrierten Stille wiederum schuf Jörg Plickat im Innenraum der Friedhofskapelle in Barmstedt mit den in Form und Material auf das Wesentliche reduzierten „Prinzipalstücken“. Nebst der bildhauerischen Tätigkeit geht Jörg Plickat zahlreichen Lehraufträgen an verschiedenen internationalen Universitäten nach.
ANDRIN SCHÜTZ
www.plickat-sculpture.de