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EIN JAHRHUNDERT FÜR DIE MUSIK

100 EIN JAHRHUNDERT FÜR DIE MUSIK

Elisabeth Pottmann ist weit gereist, in Raum und Zeit. Geboren vor mehr als hundert Jahren, hat die Pianistin in vielen Ländern gelebt und die Welt gesehen. Heute sieht man sie in Bad Reichenhall auf ihrem Elektromobil, mal in der Stadt, mal bei den Konzerten der Bad Reichenhaller Philharmoniker im Publikum ganz vorne.

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„Da bin glücklich“, sagt die 101-Jährige und denkt wehmütig an den vergangenen Sommer, als das Orchester fast jeden Tag spielen konnte. „Da lebe ich da oben“, ergänzt sie und zeigt dabei mit dem Finger gen Himmel. Doch seit November ist es wieder still in der Kurstadt. „Das macht mich seelisch krank“ sagt sie und kann nicht verstehen, dass es wegen Corona keine Konzerte geben darf. Kultur ist kein Luxus, sondern lebensnotwendig. Diese Einsicht hat Elisabeth Pottmann ganz vorne in das Album mit den Bildern ihres Lebens geschrieben.

Dort ist auch ihr erstes Klavier verewigt. Ihre Mutter kaufte es 1928, nachdem Elisabeth schon zwei Jahre bei Nachbarn gespielt hatte. Der Klavierlehrer hatte ihr Talent erkannt und den Eltern zur Investition in das Instrument geraten. Sie waren beide Tschechen und aus Wien nach Budapest gezogen, weil der Vater dorthin versetzt wurde. Elisabeth wurde 1920 in Budapest als tschechoslowakische Staatsbürgerin geboren, doch sie war ein Kind der untergegangenen K. u. K.-Monarchie, „ein kleines vereintes Europa“, wie ihre Mutter sagte. CHRISTINE DORRER

Foto: B. Krstulovic / E. Pottmann Als Europäerin im Geiste ist Elisabeth Pottmann aufgewachsen. Bei der Aufnahmeprüfung der Akademie in Budapest spielte sie ein Stück von Claude Debussy. Eine mutige Wahl in jener Zeit, denn der Franzose wurde erst später zum Konzertliebling auf der ganzen Welt, wie sie heute erzählt. Mut brauchte sie oft in ihrem Leben. „Ich war oft in Gefahr, in den zwei Diktaturen“, sagt sie. Das Ende des Zweiten Weltkriegs feierte sie in Prag, an ihrem Geburtstag. „Da haben wir uns fast betrunken“, gesteht die damals 25-Jährige. Im Nachkriegschaos fuhr sie auf dem Dach eines überfüllten Zugs nach Hause und musste ihr Hab und Gut verteidigen. Sie setzte sich auf ihren Koffer, der trotzdem immer dünner wurde: Soldaten der Roten Armee hatten ihn von unten aufgeschlitzt.

Nach dem Krieg lebte Pottmann in der Tschechoslowakei, der Heimat ihrer Eltern. Sie heiratete, gab Klavierunterricht und arbeitete als Buchhalterin. Als sie sich weigerte, in die Kommunistische Partei einzutreten, hielt ihr Chef, ein ungarischer Graf, seine schützende Hand über sie.

Unvergessen die erste Reise mit ihrem Mann in den Westen, im Campingwagen nach Italien. Jeden Morgen deckten die Italiener ihnen den Frühstückstisch, so warm wurden die Gäste aus dem Ostblock empfangen. Während der Rückreise dann die nächste dramatische Wende in ihrem Leben: Sowjetische Panzer setzen dem Prager Frühling ein Ende. Wieder zu Hause, bereiten die Pottmanns ihre Flucht vor.

Auf getrennten Wegen versuchen sie, nach Wien zu gelangen. Elisabeth fährt das neue Auto, das sie zu diesem Zweck für teure Devisen kaufte. Doch vor der Grenze bleibt der schöne Simca stehen. Ihr wird geholfen, sie gelangt zur Grenze bei Bratislava. Sie hat Glück, dass nicht Russen, sondern ein junger Slowake sie kontrolliert. „Der hat es gewusst, aber er ließ mich fahren“, ist sie sich sicher. Auf der anderen Seite wirft sie die Skier aus dem Wagen, die sie zur Tarnung mitgenommen hatte. Sie war in Österreich, wo sie in Wien erwartet wurde. Kurz darauf der erlösende Anruf ihres Mannes: auch er hat es durch den Eisernen Vorhang geschafft. „Wenn man jung ist, dann geht das gut“, blickt sie auf dieses Schlüsselereignis ihres Lebens zurück. 49 war sie damals. Um Kinder zu bekommen waren diese Zeiten zu unruhig, sagt sie. „Dafür haben wir viel erlebt und die ganze Welt bereist. Man wird ein anderer Mensch, wenn man die Welt so sieht“, sagt sie und bereut nichts. Seit acht Jahren ist sie in Bad Reichenhall zufrieden. Mit ihren „Auto“, wie sie ihr Elektromobil nennt, kommt sie überall hin. „Nur Treppen steigen kann er nicht“, scherzt sie. Von Beginn an ist sie Abonnentin der Philharmonischen Konzerte und ist treuer Gast der Kurmusik: nachmittags und abends, „immer, immer“, betont sie.

Treu ist Pottmann auch dem Klavier geblieben. „Die Finger sind noch normal, sie bewegen sich gut“, sagt sie kurz vor ihrem 101. Geburtstag. Die Noten kann sie nicht mehr lesen, sie spielt aus dem Gedächtnis, was ihr so einfällt. Lieder oder alte Schlager. Wie im vergangenen Sommer, als sie vor hunderten Menschen auf dem Salzburger Mozartplatz spielte und ihr Lieblingsstück darbot, Frank Sinatras „My Way“. Danach genoss sie das Nachtleben „mit Sekt und lieben Menschen“. Auch dieses Jahr will sie dort auftreten, die Pläne für den 8. August sind schon fix. Denn der letzte Vorhang ist noch nicht gefallen.

Bojan Krstulovic

#ConcertTime

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