Den Binnenmarkt zum Wachstumsmotor der EU machen

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POSITION | EU-BINNENMARKT | HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN

Europas Zukunft sichern Den Binnenmarkt zum Wachstumsmotor der EU machen

Dezember 2021

Vorwort Neben der Wahrung dauerhaften Friedens in Europa ist der Binnenmarkt die größte Errungenschaft des europäischen Integrationsprojekts. Zugleich ist er zentrale Grundlage für die Zukunft der Europäischen Union. Denn nur ein gut integrierter Markt ist wettbewerbsfähig, schafft Wohlstand und Arbeitsplätze, gewährleistet Stabilität und sichert Europas politischen Einfluss in der Welt. Die stetige Vertiefung des Binnenmarktes in allen Bereichen ist daher zwingend, um unsere europäische Souveränität und unsere Normen und Werte global weiterhin kraftvoll verteidigen und einfordern zu können. Das vorliegende Papier konkretisiert die Kernforderung der deutschen Industrie, die Vollendung des Binnenmarktes wieder zu einem übergreifenden politischen Leitmotiv nationaler und europäischer Politik zu machen. Die vorgeschlagenen Handlungsempfehlungen sollen dabei helfen, den gegenwärtigen politischen Stillstand bei der Vertiefung des Binnenmarktes auf nationaler und europäischer Ebene zu überwinden. Ein vollständig integrierter Binnenmarkt brächte der EU bis zu 1,1 Billionen Euro oder bis zu 8,6 Prozent des EU-BIP – ein wirtschaftliches Potential, das Europa in Zeiten anhaltender wirtschaftlicher Turbulenzen und geopolitischer Verschiebungen nicht mehr unerschlossen lassen kann. Nationale und europäische Entscheidungsträger sind eindringlich dazu aufgerufen, ihre wiederholten Versprechen für „mehr Europa“ endlich in die Tat umzusetzen.


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Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................................................................. 1 Einführung: Der Binnenmarkt – Motor der europäischen Integration ........................................... 4 Die ökonomische Bedeutung des Binnenmarktes: Zahlen und Fakten ................................................ 4 Die Bedeutung des Binnenmarktes für die deutsche Industrie ............................................................. 4 Trotz Erfolgsstory: Der Binnenmarkt bleibt Europas größte Baustelle ................................................. 5 Wachstumspotential des Binnenmarkts bleibt unerschlossen .............................................................. 5 Die Vollendung des Binnenmarktes als zentrales Zukunftsprojekt der EU .................................. 6 Fehlende Vision und Protektionismus ................................................................................................... 6 Forderungen des BDI ............................................................................................................................ 7 Hybride Wertschöpfung: Die Bedeutung industrienaher Dienstleistungen ................................. 8 Barrieren im Dienstleistungsbinnenmarkt und ihre Folgen ................................................................... 8 Mangelhafte Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie als lästiges Problem ................................... 9 Forderungen des BDI ............................................................................................................................ 9 Chancen der Digitalisierung für Europa: Ein digitaler EU-Binnenmarkt ..................................... 10 Einheitlicher Regulierungsrahmen und Rechtsicherheit ..................................................................... 11 Digitale Souveränität durch Standortpolitik ......................................................................................... 11 Künstliche Intelligenz innovationsfreundlich regulieren ...................................................................... 11 Digitale Geschäftsmodelle „made in Europe“ durch smarte Digitalpolitik unterstützen ...................... 12 Cyberresilienz als Fundament der digitalen Transformation ............................................................... 12 Forderungen des BDI .......................................................................................................................... 13 Wiederbelebung des „New Legislative Framework“ (NLF) forcieren .......................................... 14 Das NLF – ein Erfolgsmodell „Made in Europe“ .................................................................................. 14 Weltmarktstellung europäischer Industrieunternehmen gefährdet ..................................................... 14 Forderungen des BDI .......................................................................................................................... 15 Ein Binnenmarkt für die europäische Kreislaufwirtschaft ............................................................ 15 Forderungen des BDI .......................................................................................................................... 15 Ein modernes vernetztes Europa – Transport und Mobilität im EU-Binnenmarkt ..................... 16 Die Bedeutung des Transportsektors für den EU-Binnenmarkt .......................................................... 16 Transport und Klimaneutralität ............................................................................................................ 16 Verkehrsinfrastruktur für alle Verkehrsträger ...................................................................................... 16 2


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Ein Binnenmarkt für Transportdienstleistungen .................................................................................. 17 Forderungen des BDI .......................................................................................................................... 17 Öffentliches Auftragswesen – EU-Regeln zur Marktöffnung weiter essenziell .......................... 18 EU-Vergaberichtlinien weiterhin erforderlich, Schwellenwerterhöhung wäre kontraproduktiv ........... 19 Zugang zu Beschaffungsmärkten in Drittstaaten verbesserungsbedürftig ......................................... 20 Nennenswerte Wettbewerbsverzerrungen durch subventionierte Angebote aus Drittstaaten ........... 20 Forderungen des BDI .......................................................................................................................... 21 Ein modernes Steuersystem für grenzüberschreitende Tätigkeit ............................................... 21 Steuerliche Hindernisse im Binnenmarkt abbauen ............................................................................. 21 Forderungen des BDI .......................................................................................................................... 22 „Governance“ des Binnenmarktes und bessere Rechtsetzung stärken ..................................... 23 Mangelhafte Umsetzung von EU-Recht als systemisches Problem ................................................... 23 EU-Agenda für Bessere Rechtsetzung weiter ausbauen .................................................................... 23 Forderungen des BDI .......................................................................................................................... 24 Impressum ......................................................................................................................................... 25

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Einführung: Der Binnenmarkt – Motor der europäischen Integration Der Binnenmarkt ist die Grundlage für Erfolg, Wohlstand und Stabilität Europas. Mit 450 Millionen Bürgern und 22 Millionen Unternehmen aus 27 Mitgliedstaaten ist er der größte gemeinsame Markt der Welt. Der freie Verkehr von Menschen, Waren, Dienstleistungen, Kapital und Daten ist die Voraussetzung für Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union (EU). Der Binnenmarkt fördert das kontinuierliche Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten nicht nur in wirtschaftlicher und politischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Schließlich ist der Binnenmarkt ein entscheidender Faktor, um unsere europäischen Interessen, aber auch unsere Standards und Werte, weltweit zu verbreiten und einzufordern.

Die ökonomische Bedeutung des Binnenmarktes: Zahlen und Fakten Der EU-Binnenmarkt ist der größte gemeinsame Markt der Welt. Mit einer Wirtschaftsleistung von knapp 16 Billionen US-Dollar ist er der global zweitgrößte Wirtschaftsraum. Nur die USA liegen mit 21 Billionen US-Dollar noch vor Europa. Auf Platz drei folgt China mit 14 Billionen US-Dollar1. Der gemeinsame Markt trägt 8,5 Prozent zum EU-BIP bei und hat seit seinem Inkrafttreten 1993 das BIP seiner Mitgliedstaaten zwischen zwölf und 22 Prozent erhöht 2. Der Anteil des Intra-EU-Warenverkehrs liegt in allen EU-Staaten mit Ausnahme Irlands über dem Anteil des Extra-EU-Warenverkehrs.3 Nimmt man Ein- und Ausfuhren zusammen, entfällt bei allen EU-Staaten mehr als die Hälfte des Außenhandelsumsatzes auf den Handel mit den anderen EU-27-Staaten4. Insgesamt beläuft sich der Warenverkehr unter den EU-27-Staaten auf 235 Milliarden Euro5. Außerdem hat der Binnenmarkt seit seiner Gründung über 2,7 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen und erwirtschaftet für seine Bürgerinnen und Bürger einen jährlichen Wohlfahrtsgewinn von etwa 840 Euro6. In Deutschland sind es sogar 1.046 Euro pro Jahr7.

Die Bedeutung des Binnenmarktes für die deutsche Industrie Die deutsche Industrie gehört zu den größten Profiteuren des Binnenmarktes: Rund zwei Drittel der deutschen Warenexporte und -importe gehen auf den Handel innerhalb der EU-27 zurück. Deutschland erwirtschaftet knapp die Hälfte (48,4 %) seines Außenwirtschaftsüberschusses (Exporte minus Importe) innerhalb des Binnenmarktes. Allein nach Frankreich exportieren deutsche Unternehmen mehr als nach China. 44,8 Prozent der Importe nach Deutschland wiederum kommen aus anderen EU-Ländern; zum Vergleich: aus China sind es 11,3 Prozent und aus den USA 6,6 Prozent 8 .

1

Weltbank: https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.CD?locations=EU

2

Europäische Zentralbank: Baldwin vs. Cecchini revisited: The growth impact of the European Single Market. Working Paper Series. April 2020. https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpwps/ecb.wp2392~83000b6b14.en.pdf 3

Stand 2020

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Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB): https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70552/binnenhandel-der-eu 5

Stand: Dezember 2020, Europäische Kommission/Eurostat: https://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2013/december/tradoc_151969.pdf 6

Bertelsmann Stiftung: Estimating economic benefits of the Single Market for European countries and regions. May 2019. http://passthrough.fw-notify.net/download/621587/http://aei.pitt.edu/102495/1/2019.pdf 7

Idem Fußnote 12

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Europäische Kommission: https://europa.eu/european-union/about-eu/countries/member-countries/germany_en

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Frankreich allein exportiert rund doppelt so viel nach Deutschland wie in die USA. Insgesamt ist Deutschland für fast ein Viertel aller Exporte (22,8 %) und Importe (23,3 %) innerhalb der EU-27 verantwortlich9. Auch in puncto Einkommensgewinne steht Deutschland an der Spitze der Binnenmarkt-Gewinner. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2019 erzielt Deutschland mit 86 Milliarden Euro pro Jahr die höchsten Einkommensgewinne im europäischen Ländervergleich10. Stark industrialisierte Regionen mit hoher Exportorientierung weisen dabei die größten per capita-Gewinne auf. Dasselbe gilt laut Bertelsmann-Studie für Regionen mit starkem Mittelstand und Zuliefererbetrieben, die viel in den Binnenmarkt exportieren.

Trotz Erfolgsstory: Der Binnenmarkt bleibt Europas größte Baustelle Trotz seiner enormen Erfolgsgeschichte bleibt der Binnenmarkt Europas größte Baustelle. Die Grenzschließungen in Folge der Covid-19-Pandemie und die daraus resultierenden Disruptionen in den grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten haben die enorme Bedeutung eines funktionierenden Binnenmarkts in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Gleichzeitig hat die Krise gezeigt, wie schnell Protektionismus und mangelnde Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten die Grundprinzipien des Binnenmarkts aushebeln und die stark vernetzte und interdependente europäische Wirtschaft zum Erliegen bringen können. Der Binnenmarkt ist allerdings nicht erst seit Covid-19 segmentiert. Besonders KMU konnten bereits vor der Krise das Potential des Binnenmarktes nicht voll nutzen. Europäisch tätige Unternehmen sind mit einer Vielzahl von Barrieren konfrontiert: Divergierende nationale Rechtsrahmen, komplizierte Verwaltungsverfahren, fehlender Zugang zu Informationen bis hin zur Marktabschottung. Die Bewältigung dieser Probleme übersteigt oft die Kapazitäten der Firmen bzw. den antizipierten Nutzen der Expansion. Es wundert daher nicht, dass derzeit nur 17 Prozent aller KMU im verarbeitenden Gewerbe in andere EU-Länder exportieren.11

Wachstumspotential des Binnenmarkts bleibt unerschlossen Der EU entgeht durch diese Barrieren ein Potenzial von bis zu 1,1 Billionen Euro oder bis zu 8,6 Prozent EU-BIP. Allein im Dienstleistungsbereich beträgt das Potential jährlich mehr als 330 Milliarden Euro oder 2,4 Prozent EU-BIP. Im Bereich des grenzüberschreitenden Warenverkehrs wird das Potential auf bis zu 269 Milliarden Euro oder bis zu 1,8 Prozent EU-BIP geschätzt. Schließlich würde ein vollständig implementierter digitaler Binnenmarkt zusätzlich rund 110 Milliarden Euro pro Jahr an europäischer Wirtschaftskraft generieren. 12

9

Eurostat: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/International_trade_in_goods/de

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Idem Fußnote 12

Europäische Kommission: „Eine KMU-Strategie für ein nachhaltiges und digitales Europa“. COM(2020)103 final. https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2020/DE/COM-2020-103-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF 11

12

Die genannten Zahlen entstammen: European Parliament Research Service (EPRS): Coronavirus and the Cost of Non-Europe. An analysis of the economic benefits of common European action. May 2020: https://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document.html?reference=EPRS_IDA(2020)642837

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Die Vollendung des Binnenmarktes als zentrales Zukunftsprojekt der EU Vor fast vierzig Jahren (Juni 1985) präsentierte die EU-Kommission unter Jacques Delors ihr legendäres „Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes“13. Dieses enthielt einen detaillierten Gesetzesplan mit über 280 Maßnahmen, die den Abbau aller physischen, technischen und fiskalischen, nicht-tarifären Handelshindernisse innerhalb der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zum Ziel hatten14. Die Umsetzung dieser Maßnahmen mündete schließlich in der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes 1993.

Fehlende Vision und Protektionismus Eine vergleichbare Vision fehlt heute. Zwar hat die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen die Stärkung der „Governance“ des Binnenmarktes zu einem Schwerpunkt ihrer Agenda gemacht15. Doch Governance ist nur ein Teil der Antwort. Weiterführende Initiativen bleibt die EU-Kommission in ihrem Arbeitsprogramm bisher schuldig. Neben einer fehlenden Strategie scheitert die Vertiefung des Binnenmarktes vor allem am Widerstand der Mitgliedstaaten. Häufig werden sinnvolle Initiativen der EU-Kommission von diesen aus protektionistischen Beweggründen blockiert. Wie die EU-Kommission erklärt: „Wir sind allzu oft mit einer Situation konfrontiert, [wo] es […] am politischen Willen mangelt, die von der Kommission vorgeschlagenen konkreten Maßnahmen anzunehmen […]. Selbst wenn die Mitgliedstaaten eine weitergehende Marktintegration oder eine tiefere Harmonisierung befürworten, so vertreten sie häufig den Standpunkt, nur ihre eigenen Konzepte sollten als Grundlage für europäische Vorschriften dienen“ 16. Die deutsche Industrie weist seit Langem auf diese Problematik hin. Von der Politik fordern wir, die wiederholten Bekenntnisse zur Vertiefung des Binnenmarkts endlich auch in der Praxis umzusetzen. Der massive Schock der Covid-19-Pandemie für die europäischen Volkswirtschaften und die nach wie vor schwierige Erholung fordern sofortiges Handeln. Nationale Blockadehaltungen sind nicht länger vertretbar und gefährden Erholung und Wachstum – sowie über kurz oder lang auch Europas Position in der Welt.

13

Europäische Kommission: https://eur-lex.europa.eu/legal-co tent/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:51985DC0310&from=DE

14

Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB): https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-europalexikon/176716/binnenmarkt 15

Als Teil der EU-Industriestrategie aus März 2020. Das Governance-Paket der EU-Kommission besteht aus einem Bericht über Hindernisse im Binnenmarkt (Europäische Kommission: Hindernisse für den Binnenmarkt ermitteln und abbauen. COM(2020) 93 final. https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2020/DE/COM-2020-93-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF) sowie einem Aktionsplan zur Durchsetzung des Binnenmarkts (Europäische Kommission: Langfristiger Aktionsplan zur besseren Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften. COM(2020) 94 final. https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/communication-eu-single-market-barriers-march-2020_de.pdf) 16

Europäische Kommission: Der Binnenmarkt in einer Welt im Wandel - Ein wertvoller Aktivposten braucht neues politisches Engagement. COM(2018) 772 final. https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:04220bf2-ee4e-11e8-b69001aa75ed71a1.0002.02/DOC_1&format=PDF

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Forderungen des BDI

▪ Die Vollendung des Binnenmarktes in allen Bereichen muss zu einem zentralen Zukunftsprojekt der EU mit höchster politischer Priorität werden. ▪ Die EU-Kommission sollte eine ambitionierte Zukunftsvision für die Vollendung des Binnenmarkts ausarbeiten, die die individuellen Politikstrategien ressortübergreifend zusammenschließt. Der Binnenmarkt darf dabei nicht künstlich in “analog” und “digital” getrennt werden. Ein holistischer Ansatz ist notwendig, der auch der steigenden Bedeutung der „Servitisierung“ der Industrie (d.h. der Kombination aus Produktion und Dienstleistungen) Rechnung trägt. ▪ Die Priorisierung auf den Binnenmarkt muss sich auch im Aufbau und in den Arbeitsweisen der EUKommission widerspiegeln. Binnenmarktpolitik darf nicht die Aufgabe einer einzelnen Generaldirektion sein, sondern muss ein zentrales Policy-Prinzip aller Kommissionsdienste werden. ▪ Die Vollendung des Binnenmarktes muss Kerngedanke im Bestreben nach strategischer Autonomie der EU werden. Der Binnenmarkt ist Europas größtes Asset und maßgebliche Bedingung für Europas Souveränität und internationalen Einfluss. ▪ Auf Basis der neuen Zukunftsvision sollten die EU-Institutionen einen gemeinsamen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen, genauen Zielsetzungen und einem klar definierten Zeitrahmen für die weitere Integration des Binnenmarkts erarbeiten. ▪ Die EU sollte sich neben dem Klimaziel auch ein Binnenmarktziel bis 2030 setzen. Dieses sollte vorsehen, durch die Vertiefung des Binnenmarkts in allen Bereichen, bis 2030 ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von mindestens zwei Prozent EU-BIP zu generieren. ▪ Die Mitgliedsstaaten dürfen (vermeintliche) nationale Befindlichkeiten in ihren Märkten nicht länger als Vorwand nutzen, die Vertiefung des Binnenmarkts zu blockieren. Die wiederholten politischen Bekenntnisse im Rat zur Öffnung nationaler Märkte müssen endlich auch auf Arbeitsebene in die Tat umgesetzt werden. ▪ Für die Öffnung und Reform der nationalen Märkte sollten die länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission als Grundlage dienen. Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen sind auf optimal harmonisierte Regeln angewiesen, um eine faire Behandlung innerhalb des Binnenmarktes zu garantieren. Wo eine vollständige Harmonisierung nicht möglich ist, muss das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gelten. ▪ Begleitend muss die EU-Kommission stärker gegen mangelhafte Umsetzung von EU-Recht in den Mitgliedstaaten vorgehen. Politische Erwägungen sollten dabei keine Rolle spielen. Zur Bekämpfung von EU-Rechtsverstößen sollte die Kommission Vertragsverletzungsverfahren weiter konsequent nutzen.

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Hybride Wertschöpfung: Die Bedeutung industrienaher Dienstleistungen Dienstleistungen sind der größte und am schnellsten wachsende Sektor der europäischen Wirtschaft. Sie tragen bereits 73 Prozent zum EU-BIP und 74 Prozent zur Beschäftigung in der EU bei. Neun von zehn neuen Arbeitsplätzen entstehen im Dienstleistungsgewerbe 17. Bereits 25 bis 60 Prozent der Arbeitsplätze in Industrieunternehmen gehen auf dienstleistungsbezogene Funktionen zurück (u.a. Forschung und Entwicklung, IT, Logistik, Marketing, Verkauf und After-Sales-Management, Wartung etc.); rund 14 Millionen Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor sind direkt an den Export von EU-Gütern gebunden 18 . Insgesamt arbeiten mehr Menschen in außenhandelsbezogenen Arbeitsplätzen im EUDienstleistungsgewerbe als in der Industrie. 19 Die EU-Kommission hat das Potential eines vertieften Dienstleistungsbinnenmarktes bereits 2012 auf bis zu 2,6 Prozent EU-BIP geschätzt.20 In Anbetracht der seitdem rasant fortgeschrittenen „Servitisierung“ der Industrie muss diese Schätzung als konservativ gelten.

Barrieren im Dienstleistungsbinnenmarkt und ihre Folgen Trotz seiner enormen Bedeutung beträgt der Anteil des Dienstleistungssektors am Intra-EU-Handel nur 20 Prozent (oder 6,5 % des EU-BIP)21. Während die Kosten für den Warenaustausch in der EU seit Inkrafttreten des Binnenmarktes um durchschnittlich 20 Prozent gesunken sind, waren es für Dienstleistungen nur sieben Prozent.22 Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 ist zudem eine Asymmetrie bei der Entwicklung der Produktivität in der Industrie und bei Dienstleistungen festzustellen. Wie eine Studie von Copenhagen Economics aus dem Jahr 2018 zeigt, erzielte die Industrie im letzten Jahrzehnt eine drei Mal höhere Produktivitätssteigerung als der Dienstleistungssektor. 23 Die Herstellung eines modernen Industrieproduktes ist heute ohne Dienstleistungen nicht mehr denkbar. Sie sind daher ein immer wesentlicherer Bestandteil für die Schaffung und das Funktionieren erfolgreicher Wertschöpfungsketten: IT- und Beratungsdienste, Logistik, Marketing, Verkauf, After-Sales-Dienstleistungen usw. Die Fragmentierung des Sektors hat daher dramatische Folgen für Unternehmen und Wirtschaft. Zum einen erschwert sie die Entstehung neuer Wertschöpfungsverbünde und hindert Unternehmen daran zu expandieren und zu wachsen. Viele der mit Dienstleistungen verbundenen sog. „knock-on-effects“ für die Wirtschaft gehen dadurch verloren. Zum anderen werden innovative Start-ups an der Skalierung gehindert und weichen daher oft in andere Märkte aus, vor allem in die USA. Die EU verliert dadurch gleich mehrfach: Innovationsabwanderung, weniger Forschung und Entwicklung, weniger neue Arbeitsplätze, weniger internationale Wettbewerbsfähigkeit.

17

Europäisches Parlament: https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20201126IPR92530/meps-want-to-improvefree-movement-of-services 18

Copenhagen Economics: Making EU Trade in Services Work for All. Enhancing innovation and competitiveness throughout the EU economy. November 2018. https://www.copenhageneconomics.com/publications/publication/making-eu-trade-in-services-work-for-all 19

Idem

20

Siehe Fußnote 26

21

Europäisches Parlament: https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20201126IPR92530/meps-want-to-improvefree-movement-of-services 22

Siehe FN 17

23

Idem FN 18

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Mangelhafte Umsetzung der EU-Dienstleistungsrichtlinie als lästiges Problem Die EU-Dienstleistungsrichtlinie ist das zentrale legislative Rahmenwerk für Dienstleistungen in der EU. Sie gilt branchenübergreifend und erfasst grundsätzlich alle selbstständig erbrachten Dienstleistungen: Unternehmensdienstleistungen, Groß- und Einzelhandel sowie das Bau- und Baunebengewerbe. Von der Richtlinie explizit ausgeschlossen sind unter anderem nichtwirtschaftliche Dienstleistungen, die vom Staat oder im staatlichen Auftrag erbracht werden, Finanzdienstleistungen, Verkehrsdienstleistungen und Gesundheitsdienstleistungen. Obwohl die EU-Dienstleistungsrichtlinie bereits Ende 2009 von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden musste, bleibt ihre Implementierung unvollständig und mangelhaft. Die EU-Kommission hat in ihrer letzten umfassenden Analyse zum Umsetzungsstand der Richtlinie (2012) große Defizite in Grad und Art der Implementierung sowie große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten festgestellt. 24 Ein zentrales Problem ist der große Ermessensspielraum, den die Richtlinie den Mitgliedstaaten einräumt. Wie die EU-Kommission erklärt: „There is a great deal of variation in the extent to which Member States have used this discretion. Often they have chosen to preserve the status quo instead of being more ambitious in opening up their services markets. Even if these options may not always constitute a violation of the Directive, these requirements are liable to hamper economic growth”. 25 Das Resultat ist eine massive Fragmentierung des Rechtsrahmens in der EU.

Forderungen des BDI

▪ Industrie- und Dienstleistungspolitik dürfen nicht getrennt voneinander, sondern müssen als zwei Seiten derselben wirtschaftspolitischen Medaille betrachtet werden. Die industriepolitische Strategie der EU-Kommission muss angesichts der rasant fortschreitenden Servitisierung der Industrie auch stets die Verbindungen der Industrie zur Dienstleistungswirtschaft berücksichtigen. ▪ Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, die EU-Dienstleistungsrichtlinie endlich vollständig umsetzen und ordnungsgemäß anzuwenden. ▪ Die EU-Kommission ist aufgefordert, gemäß Artikel 41 der EU-Dienstleistungsrichtlinie, ihren Anwendungsbericht über die Richtlinie, der für Dezember 2020 vorgesehen war, ohne weitere Verzögerung vorzulegen. Die Ergebnisse des Berichts sollten als Anlass genutzt werden, gegebenenfalls neue Initiativen zur Anpassung der Richtlinie im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen zu lancieren. ▪ Die „Einheitlichen Ansprechpartner“ (EA) in den Mitgliedstaaten müssen Unternehmen als kompetente Auskunftsstellen dienen. Nationale Behörden müssen sicherstellen, dass ihre EA alle Informationen zu nationalen Regelungen übersichtlich, vollständig und nutzerorientiert zur Verfügung stellen. Anfragen müssen zügig beantwortet werden. Alle Dokumente sind zumindest auch in englischer Sprache zur Verfügung zu stellen.

24

Europäische Kommission: Mitteilung. On the implementation of the Services Directive. A partnership for new growth in services 2012-2015. COM(2012) 261 final. https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2012/EN/1-2012-261-EN-F1-1.Pdf 25

Idem. S. 5

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▪ Mitgliedstaaten müssen ihren SOLVIT-Service verbessern. Gemäß dem Binnenmarktanzeiger der EU-Kommission bestehen nach wie vor große Defizite im SOLVIT-System26. Mitgliedstaaten müssen dafür sorgen, dass ihre SOLVIT-Zentren adäquat personell ausgestattet sind, dass sich nationale Behörden angemessen an SOLVIT beteiligen und dass Fälle schnell und mit der notwendigen Expertise bearbeitet werden. ▪ Das Notifizierungsverfahren für dienstleistungsbezogene Maßnahmen muss reformiert werden. Nach wie vor erlassen nationale Behörden Maßnahmen, ohne dass diese notifiziert bzw. durch die EU-Kommission und andere Mitgliedstaaten geprüft werden können. Dies trägt erheblich zur Schaffung neuer Barrieren bei. Da der letzte Versuch einer Reform des Notifizierungsverfahren am Widerstand einiger Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, scheiterte, ist ein neuer Anlauf notwendig. ▪ Die Anwendung des Proportionalitätstests für dienstleistungsbezogene Maßnahmen muss gestärkt werden. Die EU-Kommission sollte nationalen Behörden eine Orientierungshilfe (Guidance) gemäß der Richtlinie über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen (2018/958) zur Verfügung stellen. Außerdem müssen Interessenträger systematisch in die Prüfung eingebunden werden. ▪ Die Entsendung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über EU-Ländergrenzen hinweg muss erleichtert werden. Zurzeit können Unternehmen aufgrund der EU-Entsenderichtlinie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur unter Einhaltung immer komplizierterer bürokratischer Nachweispflichten ins Ausland entsenden. Dies gilt insbesondere für die sog. „A1-Bescheinigung“. Bei der Wiederaufnahme der Verhandlungen zur Änderung der zugrundeliegenden EU-Verordnungen sollte unter anderem auf eine zeitliche Schwelle hingearbeitet werden, unterhalb derer generell keine A1-Bescheinigung erforderlich ist.

Chancen der Digitalisierung für Europa: Ein digitaler EU-Binnenmarkt Deutschland und Europa werden im globalen Wettbewerb nur mit einer klaren Ausrichtung auf die Entwicklung und das Betreiben von Digitalinnovationen sowie weiterer Zukunftstechnologien bestehen können. Schon jetzt bietet die digitale Transformation für deutsche Unternehmen riesige Chancen. Rund 59 Prozent der Industrieunternehmen mit mehr als 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Deutschland nutzen bereits Industrie 4.0-Anwendungen.27 Auch hat die Coronapandemie als Digitalisierungsbooster in zahlreichen Unternehmen gewirkt 28. Nun gilt es, die positiven Erfahrungen mit digitalen Technologien, die Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen überall in Europa während der Corona-Pandemie gesammelt haben, in einen langfristigen Technologie- und Digitalisierungsmotor zu übersetzen. Während Europa vielfach die erste Welle der Digitalisierung der Wirtschaft nicht kraftvoll genug vorangetrieben hat, sind deutsche Unternehmen – vom Start-up über KMU bis hin zu multinationalen Konzernen – führend im Bereich der Plattformökonomie. So tragen aktuell vier der 14 weltweit führenden Industrial-Internet-of-Thing-(IIoT)-Plattformen das Prädikat „Made in Germany“. Wenngleich sie nicht an die Reichweite und den Benutzerzahlen der großen B2C-Plattformen herankommen, leisten diese B2B-Plattformen einen entscheidenden Beitrag zur dualen Transition: Zum einen unterstützen sie die

26

https://ec.europa.eu/internal_market/scoreboard/performance_by_governance_tool/solvit/index_en.htm

27

Bitkom: https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Industrie-40-so-digital-sind-Deutschlands-Fabriken (2020)

28

Bitkom. 2021. https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Corona-Unternehmen-spueren-wirtschaftlichen-Nutzen-derDigitalisierung

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Entwicklung hin zur Industrie 4.0, also einer immer enger vernetzten Wirtschaftsweise. Zum anderen tragen sie zu signifikanten CO2-Emissionsreduktionen bei gleichzeitigen Produktivitätsgewinnen bei.

Einheitlicher Regulierungsrahmen und Rechtsicherheit Ein innovationsfreundlicher und möglichst einheitlicher regulatorischer Rahmen ist insbesondere für die Skalierbarkeit von datengetriebenen Geschäftsmodellen unverzichtbar. Studien zeigen: Eine Vollendung des digitalen Binnenmarktes würde ein Wachstumspotenzial von ca. 110 Mrd. Euro pro Jahr freisetzen.29 Deshalb sollten sich die EU-Kommission, das Europäische Parlament sowie die Mitgliedsstaaten für einheitliche, innovationsfördernde, technologieoffene und industriefreundliche regulatorische Rahmenbedingungen in der Digitalpolitik einsetzen. Beispielsweise bezeichnen aktuell drei von vier Unternehmen Rechtsunsicherheit bei der Anonymisierung von Daten als konkretes Hemmnis. 30 Auch Bürokratieabbau und europaweit effiziente Verwaltungsverfahren durch Verwaltungsmodernisierung sind wichtige Eckpfeiler zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa.

Digitale Souveränität durch Standortpolitik Europa muss auf eine aktive Standortpolitik setzen, um die Digitale Souveränität auf allen Ebenen zu stärken. Dieses Ziel erreicht man nicht einseitig durch Protektionismus und Autarkie, sondern nur durch einen starken Marktort mit klaren Regeln und einem ausgeprägten Innovationsfokus. Eine souveräne digitale Transformation erfordert eine nachhaltig höhere Innovations- und Investitionsfähigkeit. Europas Digitalpolitik muss eng mit der europäischen sowie den nationalen Innovations-, Forschungs-, Wirtschafts- und Industriepolitiken verzahnt werden, um Schlüsseltechnologien am Standort nachhaltig zu fördern und eigene Kompetenzen auszubauen. Ein hohes Maß an digitaler Souveränität ist eine elementare Säule für einen erfolgreichen EU-Binnenmarkt.

Künstliche Intelligenz innovationsfreundlich regulieren Künstliche Intelligenz (KI) zählt zu den wichtigsten Schlüsseltechnologien in der Industrie. Unbürokratische und innovationsfreundliche Rahmenbedingungen für den Einsatz von KI sind vor diesem Hintergrund eine zentrale Voraussetzung, um die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und europäischen Industrie langfristig zu sichern. Bei den laufenden Regulierungsbemühungen, die sich primär auf den Einsatz von Hochrisiko-KI-Systemen beziehen, kommt es darauf an, die industrielle Anwenderpraxis mitzudenken und eine Überregulierung industrieller Anwendungsbereiche von KI zu vermeiden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Entwicklung innovativer Anwendungen der Schlüsseltechnologie KI bereits im Ansatz geschwächt wird. Nur wenn der Rechtsrahmen für KI in Europa innovationsfreundlich ausgestaltet wird, können sich europäische Unternehmen in der Kombination ihrer industriellen Stärke mit den Möglichkeiten der KI im internationalen Wettbewerb einen entscheidenden Vorteil verschaffen.

29

European Parliament Research Service (EPRS): Coronavirus and the Cost of Non-Europe. An analysis of the economic benefits of common European action. May 2020. https://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document.html?reference=EPRS_IDA(2020)642837 30

IW Köln i.A.d. BDI: Datenwirtschaft in Deutschland: Datenwirtschaft in Deutschland (bdi.eu)

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Digitale Geschäftsmodelle „made in Europe“ durch smarte Digitalpolitik unterstützen Es gilt, das Momentum der Digitalisierungsbestrebungen der europäischen Unternehmen zu nutzen und die Kompetenzen Europas bei der digitalen Transformation weiter auszubauen. Die industrielle Plattformwirtschaft bietet dabei enorme Wachstumschancen. Bereits Ende 2018 hingen knapp sieben Prozent der Wertschöpfung in der Industrie und den industrienahen Dienstleistungen substanziell von der Nutzung von Plattformen ab.31 Für eine stärkere Skalierung dieser Plattformen fehlt es oft aber an einer Interoperabilität der Daten zwischen Plattformen und an de-Facto-Standards. Zur Realisierung von Industrie 4.0, also einer smarteren, d.h. besser vernetzten Industrie, fehlt es oft aber an einer Interoperabilität der Daten über Unternehmensgrenzen hinaus und an de-Facto-Standards. Eine smarte industrielle Datenpolitik ist ein wichtiger Eckpfeiler, die Skalierung von Plattformen “made in Europe” zu unterstützen. Daher begrüßt der BDI die Datenstrategie der EU-Kommission und die Schaffung von Datenräumen.32 In einer vom BDI beauftragten Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) konnten von etwa 500 befragten Unternehmen nur insgesamt 28 Prozent als „digital“ hinsichtlich des eigenen Datenmanagements eingestuft werden. Vielen Unternehmen – insbesondere kleinen und mittleren – fehlt es in Ermangelung eines strukturierten Datenmanagements an der Partizipationsfähigkeit in der Datenökonomie. Es gibt gleichzeitig eine Vielzahl an Unternehmen, die zwar eine große Datenteilungsbereitschaft zeigen, in der Praxis aber aufgrund zu großer (Rechts-)Unsicherheiten von einem Datenaustausch mit anderen Unternehmen Abstand nehmen. An dieser Stelle sollte die EU-Kommission mit ihrem geplanten Data Act ansetzen und Rechtsunsicherheiten, beispielsweise bei der Anonymisierung personenbezogener Daten, abbauen. Rechtssicherheit ist auch im Rahmen des Digital Services Acts wichtiges Anliegen der Wirtschaft. Richtigerweise hat die EU-Kommission in ihrem Verordnungsvorschlag auf den allgemeinen Grundprinzipen der E-Commerce-Richtlinie aufgebaut. Diese Grundsätze und dabei insbesondere das Herkunftslandprinzip sowie das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten haben wesentlich zur erfolgreichen Entwicklung der Internetwirtschaft beigetragen. Sie haben sich bewährt und sollten im weiteren Gesetzgebungsprozess jetzt nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Cyberresilienz als Fundament der digitalen Transformation Cyberresiliente Infrastrukturen, Behörden und Produkte sowie ein hohes Maß an CybersicherheitsKnow-how bei Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen und in staatlichen Institutionen sind die Grundvoraussetzung für eine langfristig sichere digitale Transformation. Ein regulatorischer Rahmen, der ein hohes Maß an EU-weiter Harmonisierung mit Blick auf die an Unternehmen gestellten Cybersicherheitsanforderungen stellt, ist insbesondere für die international ausgerichtete deutsche Industrie von herausgehobener Bedeutung. Der BDI begrüßt daher den Vorschlag der EU-Kommission für eine NIS 2-Richtlinie, sieht jedoch die Notwendigkeit für umfangreiche Anpassungen, die die Realitäten in der europäischen Wirtschaft sowie in Unternehmen besser abbildet. Zum anderen fordern wir die EUKommission auf, Cybersicherheitsanforderungen für vernetzbare Produkte im Rahmen einer produktbezogenen horizontalen NLF-basierten EU-Rechtsvorschrift zu veröffentlichen, anstatt einen regulatorischen Flickenteppich zu verursachen, indem Cybersicherheitsanforderungen in unterschiedliche Rechtsvorschriften aufgenommen werden.

Vbw (2019): Plattformen – Infrastruktur der Digitalisierung. https://www.vbw-bayern.de/Redaktion/Frei-zugaengliche-Medien/Abteilungen-GS/Wirtschaftspolitik/2019/Downloads/Plattformen-Infrastruktur-der-Digitalisierung_final_neu.pdf 31

Datenwirtschaft in Deutschland – Wo stehen die Unternehmen in der Datennutzung und was sind ihre größten Hemmnisse?“, IW-Studie im Auftrag des BDI, Februar 2021, abrufbar unter: https://bdi.eu/media/publikationen/?publicationtype=Studien#/publikation/news/datenwirtschaft-in-deutschland/. 32

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Forderungen des BDI

▪ Als aktive Standortpolitik muss die Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit Europas mit einem ausgeprägten Innovationsfokus gestärkt werden. Hierfür sollten zielgerichtet Technologien gefördert, Kompetenzen auf- und ausgebaut sowie ein ganzheitliches Ökosystem etabliert werden. ▪ Innovative Datennutzung muss gefördert werden. Die freiwillige Datenteilung und eine faire und kontrollierte Datennutzung sollten dabei im Vordergrund stehen. Hierfür müssen wirtschaftliche Anreize gesetzt und die rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen verbessert werden, die geeignete Grundlagen für eine freiwillige, sichere und eigenverantwortliche Bereitstellung von Daten durch Unternehmen schaffen. ▪ Europa muss die Verfügbarkeit öffentlicher Daten ausbauen und bei der Bereitstellung von „Open Data“ eine Vorreiterstellung einnehmen, indem öffentliche Daten über offene Datenportale besser verfügbar gemacht und privat-öffentliche Datenkooperationen unterstützt werden. ▪ GAIA-X ist ein wichtiges Projekt zum Aufbau einer leistungs- und wettbewerbsfähigen, sicheren und vertrauenswürdigen Dateninfrastruktur in Europa. Damit GAIA-X zur erhofften Erfolgsgeschichte werden kann, sollten Referenzprojekte in GAIA-X-Anwendungsbereichen europaweit gefördert werden. ▪ Sichere digitale Infrastrukturen müssen oberste Priorität haben und sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene gefördert werden. Es ist grundsätzlich richtig, "kritische Komponenten" nur von vertrauenswürdigen Herstellern für den Einsatz in Kritischen Infrastrukturen zuzulassen. Dabei müssen für alle Hersteller, unabhängig von Produkten, Angeboten und Herkunft, europaweit die gleichen produkt- und angebotsspezifischen technischen Prüfkriterien, Regeln und Verfahren gelten. ▪ B2B-Platformen sind essenziell zur Umsetzung einer Industrie 4.0. Die Entwicklung und Implementierung von sicheren und leistungsfähigen B2B-Plattformen sollte nicht im Rahmen von Plattformregulierungen eingeschränkt werden, sondern europaweit regulatorisch und politisch gefördert werden. Europa sollte stärker seine eigenen Kompetenzen betonen, als etwaige Schwächen hervorzuheben. ▪ Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz und Quantentechnologien müssen schnell in die industrielle Anwendungspraxis überführt werden. Die EU sollte ferner die Forschung in Zukunftstechnologien vor allem im Bereich Mikro- und Nanoelektronik stärken, um die Abhängigkeit von Amerika und Asien zu reduzieren. Die EU sollte hierzu strategische Partnerschaften, bestehend aus Forschung, Industrie und öffentlichem Sektor, fördern.

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▪ Die deutsche Industrie unterstützt ausdrücklich die aktuell seitens der Europäischen Kommission laufenden und durch den Europäischen Rat bekräftigten Überlegungen über die Einführung verpflichtender horizontaler Cybersicherheitsanforderungen nach den Grundsätzen des New Legislative Framework (NLF). Solche horizontalen Anforderungen sollten integraler Bestandteil des angekündigten Cyber-Resilience Acts sein. ▪ Eine europaweite Harmonisierung der Cybersicherheitsregulierung im Rahmen der NIS 2-Richtlinie begrüßen wir ausdrücklich. Nun gilt es, im Trilogverfahren eine anwenderorientierte Ausgestaltung sicherzustellen, die das Cybersicherheitsniveau von staatlichen Einrichtungen und Industrie gleichermaßen hebt, ohne insbesondere KMU zu überfordern oder einzelne Technologie vorzuschreiben.

Wiederbelebung des „New Legislative Framework“ (NLF) forcieren Der Hauptpfeiler unseres Binnenmarkts für Produkte ist das New Legislative Framework (NLF). Das NLF ist schlank und effizient konstruiert. Es sorgt für die Sicherheit von Produkten, einen schnellen EU-weiten Marktzugang insbesondere für KMU, mehr Innovationen und sichert die Wettbewerbsfähigkeit deutscher und europäischer Unternehmen – ein weltweit einzigartiges Erfolgsmodell. Das NLF hat das Potenzial, den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht zu werden und dabei gleichzeitig die Systemkohärenz für das Inverkehrbringen von Produkten zu erhalten.

Das NLF – ein Erfolgsmodell „Made in Europe“ Die Europäische Union und Deutschland stehen vor großen Herausforderungen, um auch in Zukunft ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und ihre technologische Souveränität auszubauen. Dafür ist das NLF ein idealer Hebel: EU-Institutionen legen Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen fest. Die inhaltlich-technische Ausgestaltung dieser Anforderungen wird den Expertinnen und Experten der Wirtschaft überlassen. Als Ergebnis entstehen europaweit harmonisierte Normen. Resultierend daraus verschafft das NLF den in der Europäischen Union produzierenden Unternehmen einen globalen Wettbewerbsvorteil. Gemäß dem Prinzip „one standard, one test, accepted everywhere“ können Produkte auf dem gesamten Binnenmarkt frei vermarktet werden.

Weltmarktstellung europäischer Industrieunternehmen gefährdet Durch das sogenannte James-Elliott-Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2016 ist das über Jahrzehnte bewährte und sehr erfolgreiche Modell des Inverkehrbringens von Produkten immer mehr in Frage gestellt worden. Basierend auf der Interpretation des Urteils, wonach harmonisierte Normen als Teil des Unionsrechts angesehen werden, unterzieht die Europäische Kommission den Inhalt der technischen Spezifikationen einer intensiven Prüfung und erlässt teilweise Vorgaben zu Normeninhalten. Für dieses Vorgehen steht der Kommission, auch gemäß einem vom BMWi in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten, keine Kompetenz zu. Das von der Kommission praktizierte Verfahren beschädigt das etablierte und erfolgreiche Konzept des NLF und zieht eine Reihe negativer Entwicklungen für die deutsche Industrie nach sich. Die deutsche Industrie beobachtet diese Entwicklungen mit großer Sorge. Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft der deutschen und europäischen Industrie zu sichern, sieht der BDI akuten Handlungsbedarf.

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Forderungen des BDI

▪ Der BDI unterstützt ausdrücklich die konkreten Vorschläge aus den „Joint Industry Recommendations for effective harmonised Standardisation“ vom Juli 2021 und setzt dabei auf die weitere Unterstützung von staatlicher Seite in Deutschland. ▪ Die Europäische Kommission muss zwingend eine kritische Überprüfung und Anpassung der Rahmenbedingungen für die Beauftragung, Bewertung und Zitierung europaweit harmonisierter Normen vornehmen. ▪ Die Europäische Kommission und die Bundesregierung müssen sich für eine konsequente Anwendung und Fortführung der Normung im Rahmen des NLF für neue Rechtsbereiche im Kontext Digitalisierung und Nachhaltigkeit einsetzen. ▪ Die Europäische Kommission muss zukünftige produktbezogene Regulierungsvorhaben in allen Rechtsbereichen nach den Prinzipien des NLF entwickeln. Harmonisierten Normen ist stets der Vorzug gegeben. ▪ Maßnahmen der Europäischen Kommission im Europäischen Normungssystem müssen eine Stärkung und Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft der europäischen Industrie zum Ziel haben und daran gemessen werden.

Ein Binnenmarkt für die europäische Kreislaufwirtschaft Im Jahr 2019 hat die Europäische Kommission mit dem „European Green Deal“ eine politische Agenda vorgelegt, bei deren Umsetzung ein tiefgreifender wirtschaftlicher Wandel mit erheblichen Auswirkungen auf die Gesellschaft zu erwarten ist. Gleichzeitig soll die EU ein dynamischer und global wettbewerbsfähiger Wirtschaftsraum sein, in dem das Wachstum von der Ressourcennutzung abgekoppelt ist. Eine zentrale Rolle muss dabei der Übergang zu einer zirkulären Wirtschaft spielen.

Forderungen des BDI

▪ Die neue Bundesregierung sollte sich auf europäischer Ebene für eine Binnenmarktregulierung einsetzen, die die Unternehmen auf dem Weg zu einer klimaneutralen zirkulären Wirtschaft unterstützt. ▪ Dazu bedarf es einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Rohstoffpolitik mit Instrumenten für das Schließen von Material- und Produktkreisläufen, Planungs- und Investitionssicherheit für Unternehmen, eines kohärenten, innovationsfreundlichen und sicheren Rechtsrahmens sowie Initiativen zur Gewährleistung der Wettbewerbsfähigkeit. ▪ Entscheidend sind dabei u. a. angemessene Regelungen für einen funktionierenden Binnenmarkt für Abfälle zur Verwertung und zum Einsatz von Rohstoffen aus der Circular Economy, ein einheitlicher Vollzug und eine einheitliche Marktüberwachung neuer Vorgaben zum nachhaltigen Produktdesign inklusive des "Designs for Circularity" sowie die EU-weite Beendigung der Deponierung unbehandelter Siedlungsabfälle.

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▪ Zudem muss die Industrie mit wettbewerbsfähigen Energie- und Rohstoffpreisen kalkulieren können. Dazu wird dringend eine Förderpolitik benötigt, die Transformationsschübe hin zur Circular Economy unterstützt und die auch die Belange von Kleinen und Mittleren Unternehmen (KMU) berücksichtigt.

Ein modernes vernetztes Europa – Transport und Mobilität im EU-Binnenmarkt Die Bedeutung des Transportsektors für den EU-Binnenmarkt Wie die COVID-19-Pandemie gezeigt hat, gehört der freie Personen- und Güterverkehr zu den fundamentalen Freiheitsrechten der Europäischen Union und des gemeinsamen Marktes. Der Transportsektor ermöglicht wirtschaftlichen Wohlstand, weil er für den Erhalt und die Ansiedlung von Industriestandorten an allen Orten der Europäischen Union sorgt. Damit ist er unentbehrlich für den Ausgleich regionaler Disparitäten sowie den reibungslosen Betrieb des europäischen Binnenmarktes. Auch in Krisenzeiten ist das Offenhalten der grenzüberschreitenden Transportwege z. B. durch Schaffung sog. Green Lanes für den freien Personen- und Güterverkehr unverzichtbar. Einer verlässlichen Infrastruktur und einem leistungsfähigen Transportsektor ist es zu verdanken, dass Industriestandorte in ganz Europa wettbewerbsfähig sind und sich nicht nur einzelne Cluster herausbilden, während andere Regionen wirtschaftlich im Abseits bleiben. Im Gegenteil: Jedem Beitrittsland der Europäischen Union wurde ein höheres Maß an wirtschaftlicher Teilhabe am gemeinsamen Markt ermöglicht und damit Wohlstand und Stabilität für die Bevölkerung geschaffen. Der Transportsektor ist das Bindeglied zwischen 27 Volkswirtschaften mit 450 Millionen Menschen, die tagtäglich Güter konsumieren und unterschiedlichste Wertschöpfungsbeiträge leisten. Vor dem Hintergrund des Ziels der Klimaneutralität muss es darum gehen, die Leistungsfähigkeit der europäischen Transportwirtschaft weiterhin auszubauen, wenn das Gesellschaftsmodell der sozialen Marktwirtschaft noch weitergetragen werden soll. Die Transportwirtschaft verbindet Menschen und Güter und bildet so Beziehungsgeflechte und Wertschöpfungsketten, die Grundlagen unserer arbeitsteiligen Wirtschaftsordnung mit ihren freiheitlichen Grundwerten sind.

Transport und Klimaneutralität Dank enormer technologischer Entwicklungen sind die Emissionen pro Tonnenkilometer bzw. Personenkilometer in den letzten Jahren weiter gesunken – dies gilt für alle Verkehrsträger gleichermaßen. Aufgrund der stetig wachsenden Vernetzung der Wirtschaftsstandorte und der Teilhabe immer größerer Bevölkerungsteile am Wohlstand sind die Emissionen jedoch in Summe gestiegen. Die eigentliche Herausforderung besteht nun darin, die wirtschaftliche, soziale und ökologische Stabilität im Sinne eines wirklichen Nachhaltigkeitsansatzes zu erhalten und auszubauen, während gleichzeitig Logistikund Lieferketten effizienter, umweltfreundlicher und klimaneutral werden.

Verkehrsinfrastruktur für alle Verkehrsträger Grundvoraussetzung für das Erreichen der Klimaschutzziele im Verkehr ist ein verstärkter und beschleunigter Auf- bzw. Ausbau von Infrastrukturen für alle Verkehrsträger: verbindlich, flächendeckend und durchlässig mit erforderlichen Lade- und Tankinfrastrukturen sowie digitalen Lösungen, wie European Train Control System (ETCS) und Single European Sky (SES). Der Gleichlauf von Lade- und 16


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Tankinfrastruktur in den EU-Mitgliedstaaten ist auch hinsichtlich der von der EU-Kommission vorgeschlagenen und äußerst ambitionierten CO2-Flottengrenzwerte ab 2030 für PKW und leichte Nutzfahrzeuge von großer Bedeutung. Eine direkte Verknüpfung der Flottenregulierung mit der künftigen Alternative Fuels Infrastructure Regulation (AFIR) ist sicherzustellen. Allein für das Laden der von der EUKommission avisierten 30 Millionen. emissionsfreien Pkw bis 2030 müssten drei Millionen öffentlich zugängliche Ladepunkte in der EU aufgebaut sein. Zum Vergleich: 2019 gab es in der EU knapp 200.000 öffentlich zugängliche Ladepunkte, wobei rund 75 Prozent der öffentlichen Ladepunkte in damals noch vier EU-Staaten Deutschland, Niederlande, Frankreich und dem Vereinigten Königreich konzentriert waren. Diese Anzahl müsste bis 2030 um den Faktor 15 zunehmen.

Ein Binnenmarkt für Transportdienstleistungen Derzeit existiert auf dem Markt für Transportdienstleistungen innerhalb der EU keine Dienstleistungsfreiheit: Die nationalen Märkte finden sich weitgehend unzugänglich für Wettbewerber aus anderen Mitgliedsstaaten. Einen eingeschränkten, teilweisen Zugang zu den rein nationalen Märkten gewährt jedoch das Regelwerk der sogenannten Kabotage. Mit zahlreichen Einschränkungen ist es Anbietern gestattet, rein nationale Transporte auch in einem Mitgliedsstaat durchzuführen, in dem dieser Anbieter nicht niedergelassen ist. Voraussetzung ist zunächst, dass diese sogenannten Kabotagefahrten nur im Anschluss an einen internationalen Transport stattfinden dürfen. Weiter eingeschränkt wird der Marktzugang durch eine Begrenzung der zulässigen Anzahl solcher Fahrten und die Begrenzung der Zeitspanne, in denen diese stattfinden dürfen. Hinzu kommt eine Pflicht zur Rückkehr des Fahrzeuges in das Stammland innerhalber bestimmter Fristen und eine sogenannte Cooling-off-Phase, in der keine weiteren Kabotagefahrten in demselben Mitgliedsstaat durchgeführt werden dürfen. Die Kabotage als Instrument zur Stärkung eines Binnenmarktes für den Straßengüterverkehr ist unverzichtbar, um Angebotsengpässe zu vermeiden und abzufedern. Vor allem aber macht sie Logistikprozesse in der EU insgesamt effizienter und leistungsfähiger, was ein entscheidender Punkt für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen auf den Weltmärken und zentral für die EU als Standortfaktor ist.

Forderungen des BDI

▪ Die EU-Kommission ist aufgefordert, die in ihrem „Fit-for-55“-Paket und “Efficient and Green Mobility Package” enthaltenen zentralen Weichenstellungen für den Verkehr in einem technologieoffenen, ganzheitlichen und wettbewerbsneutralen Ansatz umzusetzen. Ziel muss es sein, durch gezielte Anreize und Regulierungen den Hochlauf von alternativen Antrieben und Kraftstoffen, einschließlich der erforderlichen Infrastrukturen und Digitalisierung, in den Mitgliedstaaten sicherzustellen. ▪ Die Infrastrukturen der Mitgliedstaaten sind aufeinander abzustimmen und zu verknüpfen. Insbesondere ist der Ausbau von ETCS zu beschleunigen. Dafür erforderliche Förderprogramme sind bereitzustellen. ▪ Die zeitweise Schließung der europäischen Grenzen wie im Jahre 2020 aufgrund der COVID-19Pandemie darf sich im Falle einer vergleichbaren Situation in Zukunft nicht wiederholen. Vielmehr sind europäische Verkehrswege durch Einrichten sog. Green Lanes offenzuhalten, um den Warenverkehr zu gewährleisten und wirtschaftliche Nachteile auszuschließen.

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▪ Optimierungspotenziale, wie die Umsetzung des “Single European Sky” (SES), müssen zur Steigerung von Kapazitäten und Energie- und Klimaeffizienz im Luftverkehr genutzt werden. Ziel ist es, die Verwaltung des europäischen Luftraums moderner zu gestalten sowie nachhaltigere und effizientere Flugwege zu schaffen. Der BDI unterstützt die Vervollständigung des einheitlichen Europäischen Luftraumes. Ein rasches Voranbringen des Entscheidungsprozesses durch das Europäische Parlament und ein ambitionierterer Ansatz, der sich am Handlungsbedarf orientiert, sind dringend notwendig. ▪ Die EU-Kommission hat äußerst ambitionierte Vorgaben für C02-Flottengrenzwerte ab 2030 für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge vorgeschlagen. Diese Ziele sind nur bei passgenauen Rahmenbedingungen vor allem durch einen Gleichlauf mit einem verbindlichen, ambitionierten und flächendeckenden Aufbau der Ladeinfrastruktur in den EU-Mitgliedstaaten erreichbar. Die EU-Kommission ist aufgefordert, dafür eine direkte Verknüpfung der Flottenregulierung mit der künftigen AFIR sicherzustellen. ▪ Im Hinblick auf den erforderlichen raschen und flächendeckenden Aufbau von Lade- und Tankinfrastruktur in der EU begrüßt der BDI den von der EU-Kommission vorgeschlagenen Wechsel von einer Richtlinie zur Verordnung (AFIR) sowie den enthaltenen verkehrsträgerübergreifenden Ansatz. Die Vorgaben für Flughäfen und Häfen sind jedoch teilweise zu ambitioniert. ▪ Die Öffnung der abgeschotteten Märkte für rein nationale Fahrten mittels des bestehenden Kabotage-Regelwerks hat zahlreiche Vorteile. Diese positiven Effekte der Marktöffnung ließen sich durch eine weitere Liberalisierung steigern. Dies gilt, zumal die vor Kurzem im EU-Recht vollzogene Klärung der Kabotage- und Mindestlohnvorschriften sowie die absehbar deutlich besseren Fähigkeiten zur Kontrolle der Rechtstreue (digitaler Fahrtenschreiber, Zugriff auf Mautdaten), möglicher negativer Effekte einer weiteren Liberalisierung in Bezug auf Arbeits- und Sozialbedingungen sehr deutlich entgegenwirken. ▪ Wenngleich das Kabotageregime weiterentwickelt werden sollte, muss dies mit Augenmaß geschehen: Für die verladende Industrie und die Resilienz von Logistikprozessen und Versorgung ist von hoher Bedeutung, dass in allen Mitgliedstaaten weiterhin jeweils eine leistungsfähige Transportwirtschaft vor Ort ansässig ist. ▪ Negative Auswirkungen im internationalen Wettbewerb durch die Revision der Energiesteuerrichtlinie, welche bisher Ausnahmetatbestände in der Besteuerung von Kraftstoffen im Luft- und Seeverkehr vorsieht, sind zu vermeiden. Ein europäischer Alleingang einer Kerosinsteuer würde unweigerlich zu Wettbewerbsnachteilen europäischer Fluggesellschaften und Carbon Leakage mittels „Tankering“ führen. Eine Kerosinsteuer würde nur eine Verteuerung und Schlechterstellung des europäischen Luftverkehrs im internationalen Wettbewerb bedeuten – ohne klimaeffiziente Lenkungswirkung. ▪ Die EU-Kommission hat im Rahmen ihrer Initiative FuelEU Maritime sicherzustellen, dass Wettbewerbsverzerrungen und die Sicherstellung europäischer maritimer Wirtschaft und Lieferketten vermieden werden. Insbesondere sind der Ausbau und die Förderung der entsprechenden Infrastruktur und Landstromversorgung in den Häfen sicherzustellen.

Öffentliches Auftragswesen – EU-Regeln zur Marktöffnung weiter essenziell Das öffentliche Auftragswesen, d. h. die Gesamtheit aller Beschaffungen öffentlicher Auftraggeber bei der privaten Wirtschaft, zählt zu den bedeutendsten volkswirtschaftlichen Einflussgrößen in der EU. In vielen Staaten bildet es den zweitgrößten staatlichen Ausgabenposten nach den Ausgaben für die 18


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staatlichen Bediensteten. Die öffentliche Beschaffung hat daher erhebliche Auswirkungen auf weitere wichtige Aspekte, wie Geschäftschancen der anbietenden Wirtschaft, kleine und mittlere Unternehmen und Arbeitsplätze. Insgesamt erreicht das Volumen aller öffentlichen Aufträge auf zentraler, regionaler und lokaler Ebene einen Wert von mehr als 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU. 33 Angesichts dieses enormen Volumens kann die öffentliche Beschaffung beispielsweise auch Katalysatorwirkung für technische Innovationen oder Beiträge zum Umwelt- und Klimaschutz entfalten.

EU-Vergaberichtlinien weiterhin erforderlich, Schwellenwerterhöhung wäre kontraproduktiv Um Barrieren für einen grenzüberschreitenden Beschaffungsmarkt in ganz Europa abzubauen und den Wettbewerb um öffentliche Aufträge zu stärken, hat die EU über Jahre hinweg einen effektiven Rechtsrahmen für große, binnenmarktrelevante Vergaben ab bestimmten Mindestauftragswerten (Schwellenwerten) geschaffen.34 Durch die EU-Richtlinien für öffentliche Aufträge werden die Märkte für große Aufträge ab den Schwellenwerten EU-weit geöffnet. Zugleich wird dabei sichergestellt, dass bei der Vergabe die Prinzipien der Transparenz und Gleichbehandlung aller Bietenden zwingend zu beachten sind. Zudem ist für den Fall von Verfahrensfehlern vorgesehen, dass diese im Wege eines zügigen und effektiven Vergaberechtsschutzes beanstandet und gegebenenfalls korrigiert werden können. Dieser EU-Rechtsrahmen zum öffentlichen Auftragswesen bildet einen bedeutenden und weiterhin unverzichtbaren Pfeiler des Binnenmarktrechts. Aus dem politischen Raum ist zuletzt teilweise für eine Erhöhung der EU-Schwellenwerte plädiert worden. Hintergrund dafür ist, dass die Kommission aufgrund einer Evaluierungsklausel in der relevanten EU-Richtlinie für öffentliche Aufträge 35 fünf Jahre nach deren Inkrafttreten eine Überprüfung der Schwellenwerte vornehmen muss, die bereits bis April 2019 hätte erfolgen müssen. Der Rat der EU hat die Kommission im November 2020 aufgefordert, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Schwellenwerte auf den Binnenmarkt zu überprüfen und in Erwägung zu ziehen, bei einer nächsten Verhandlungsrunde eine Anhebung der geltenden Schwellenwerte vorzuschlagen, soweit dies möglich und angemessen ist.36 Angesichts der fortbestehenden Notwendigkeit der Marktöffnung innerhalb des EU-Binnenmarktes wäre eine Schwellenwerterhöhung höchst problematisch und kontraproduktiv, zumal bereits die bisherigen Schwellenwerte sehr hoch sind. Gerade aus Sicht der exportorientierten deutschen Industrie sind die EU-Richtlinien für öffentliche Aufträge weiterhin unverzichtbar, da sie unbedingt nötige Garantien für den Zugang deutscher Unternehmen zu wichtigen Auslandmärkten in der EU enthalten. Darüber hinaus wäre eine Schwellenwerterhöhung auch für die nötige Marktöffnung in Drittstaaten jenseits der EU äußerst schädlich für die deutsche und europäische Industrie. Denn eine wesentliche Erhöhung der EU-Schwellenwerte würde zunächst eine Erhöhung der Schwellenwerte des für die EU bindenden Government Procurement Agreement der WTO (GPA) erforderlich machen. Letztere hätte zur Folge, dass damit die im GPA mühsam erreichten, eher noch zu geringen Garantien zur

33

Europäische Kommission, Single Market Score Board für 2019, s. folgende Internetveröffentlichung: Public Procurement Performance per Policy Area - The Single Market Scoreboard - European Commission (europa.eu), nach dem Stand vom 15.10.2021. 34

Den Kern des EU-Vergaberechts bilden insbesondere die EU-Richtlinien für öffentliche Aufträge und Konzessionen, zuletzt neugefasst durch die Richtlinien 2014/24/EU, 2014/25/EU und 2014/23/EU, eine Richtlinie für Vergaben in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit (2009/81/EG), sowie die beiden Rechtsmittelrichtlinien 89/665/EWG und 92/13/EG, beide geändert durch Richtline 2007/66/EG. 35

Art. 92 Richtlinie 2014/24/EU.

S. Schlussfolgerungen des Rates vom 25.11.2020: „Öffentliche Investitionen durch öffentliches Beschaffungswesen: Nachhaltige Erholung und Wiederbelebung einer widerstandsfähigen EU-Wirtschaft, Ziffer 7. 36

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Marktöffnung in Drittstaaten abgebaut würden, obwohl das GPA in seinem bestehenden Umfang unverzichtbar für die Öffnung von Beschaffungsmärkten in Drittstaaten ist. Entsprechendes gilt auch hinsichtlich einer ebenfalls teils geforderten Erweiterung der Ausnahmen von den EU-Richtlinien für öffentliche Aufträge; denn die schon bestehenden Ausnahmen sind bereits sehr weitreichend.

Zugang zu Beschaffungsmärkten in Drittstaaten verbesserungsbedürftig Hinsichtlich des Marktzugangs zu Beschaffungsmärkten in der EU einerseits und in Drittstaaten andererseits ist in den letzten Jahren ein zunehmendes Missverhältnis entstanden. Während die EU-Märkte zumindest faktisch oft weit für Bietende aus Drittstaaten geöffnet sind, bleiben Beschaffungsmärkte in etlichen bedeutenden Drittstaaten, wie z.B. China, für Unternehmen aus der EU weiterhin häufig stark abgeschottet. Mit dem Kommissionsvorschlag für das sogenannte „International Procurement Instrument“ (IPI) 37 soll der Druck auf Drittstaaten erhöht werden, noch verschlossene Beschaffungsmärkte für europäische Unternehmen zu öffnen. Zugleich soll damit das Gewicht der EU in internationalen Handelsverhandlungen gestärkt werden. Mit dem IPI soll eine Regelung zum Zugang von Angeboten aus Drittstaaten zu öffentlichen Vergaben in der EU und ein Verfahren zur Überprüfung abgeschotteter Drittstaatsmärkte durch die Kommission geschaffen werden. Stellt die Kommission danach eine unakzeptable Marktabschottung in einem Drittstaat fest, können Sanktionen gegen Angebote von Unternehmen aus diesem Drittstaat verhängt werden. Nach jahrelang streitigem Legislativverfahren, einer Kompromisseinigung im Rat vom Juni 202138 und erneuter Befassung des Europäischen Parlaments soll das IPI in der ersten Jahreshälfte 2022 endgültig verabschiedet werden.

Nennenswerte Wettbewerbsverzerrungen durch subventionierte Angebote aus Drittstaaten Ein weiteres Problem für den Binnenmarkt im Bereich des öffentlichen Auftragswesens bilden Wettbewerbsverzerrungen, die bei Vergaben in der EU durch drittstaatlich subventionierte Angebote verursacht werden und zu massiven Benachteiligungen nicht subventionierter europäischer Anbieter führen. Insofern besteht bis jetzt ein wesentliches Problem darin, dass die EU-Beihilfenkontrolle nicht für die Prüfung von Subventionen aus Drittstaaten gilt. Die genannten Wettbewerbsverzerrungen sollen durch die Schaffung eines EU-Instruments gegen den Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen (Foreign Subsidies Instrument, FSI)39 bekämpft werden. Dazu sieht das FSI unter anderem ein spezielles Instrument zur Bekämpfung durch Drittstaatssubventionen begünstigter Angebote bei sehr großen Vergaben in der EU ab einem Auftragswert von 250 Millionen Euro vor, wobei Subventionen gemeldet werden müssen. Für kleinere Vergaben ab einem Regelfall-Schwellenwert der Subventionen von fünf Millionen Euro soll ein allgemeines Marktuntersuchungsinstrument der Kommission gelten, in dem diese eigenständig Prüfungen durchführen

37

Geänderter Vorschlag der Kommission vom 29.01.2016 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang von Waren und Dienstleistungen aus Drittländern zum EU-Binnenmarkt für öffentliche Aufträge und über die Verfahren zur Unterstützung von Verhandlungen über den Zugang von Waren und Dienstleistungen aus der Union zu den Märkten für öffentliche Aufträge von Drittländern. 38

Mandat des Rates der EU vom 02.06.2021 für Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament über den geänderten Kommissionsvorschlag vom 29.01.2016 zum IPI (s. vorstehende Fußnote), Dok. des Rates vom 28.05.2021. 39

Kommissionsvorschlag vom 05.05.2021 für eine Verordnung des des Europäischen Parlaments und des Rates Binnenmarkt verzerrende drittstaatliche Subventionen.

über den

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kann. Stellt sie Wettbewerbsverzerrungen aufgrund von Drittstaatssubventionen fest, kann sie Sanktionen gegen die betreffenden Anbietenden verhängen.

Forderungen des BDI

▪ Eine Erhöhung der EU-Schwellenwerte für öffentliche Aufträge ist nachdrücklich abzulehnen. Die EU-Richtlinien für öffentliche Aufträge sind für den EU-weiten Zugang zu öffentlichen Aufträgen, Transparenz und fairen Wettbewerb bei der Vergabe weiterhin unverzichtbar. Ihr Anwendungsbereich darf daher keinesfalls reduziert werden. ▪ Aus den vorstehenden Gründen ist auch eine Ausweitung der bereits sehr weit reichenden Ausnahmen von den Richtlinien für öffentliche Aufträge abzulehnen. ▪ Die Schwellenwerte des Government Procurement Agreement der WTO (GPA) dürfen ebenfalls nicht erhöht werden. Ihre Erhöhung wäre für die EU und insbesondere für die stark exportorientierte deutsche Wirtschaft hochgradig kontraproduktiv. Eine Erhöhung würde die mühsam errungenen Fortschritte bei der Marktöffnung in Drittstaaten jenseits der EU zunichtemachen und allen Bemühungen zur Ausdehnung des Geltungsbereichs des GPA auf dem erreichten Niveau zuwiderlaufen. ▪ Das International Procurement Instrument (IPI) sollte nach letzten nötigen Änderungen seitens des Rates und des Europäischen Parlaments bald verabschiedet werden. Dabei muss sichergestellt werden, dass Ausnahmen von den Sanktionen des IPI strikt begrenzt werden, damit die Wirksamkeit des Instruments nicht ausgehöhlt werden kann. ▪ Der Kommissionsvorschlag für das Foreign Subsidies Instrument (FSI) ist grundsätzlich zu begrüßen; denn damit können Wettbewerbsverzerrungen bekämpft werden, die bei Vergaben in der EU durch Drittstaatssubventionen verursacht werden. Einzelheiten wie v. a. die Höhe der Schwellenwerte bedürfen noch einer näheren Prüfung.

Ein modernes Steuersystem für grenzüberschreitende Tätigkeit Steuerliche Hindernisse im Binnenmarkt abbauen Die steuerlichen Hindernisse im Binnenmarkt beschränken sich nicht nur, aber überwiegend, auf die Bereiche der Körperschaft- und Mehrwertsteuer. Die nach wie vor komplexen administrativen Vorschriften auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer in den EU-Mitgliedstaaten zählen zu den größten Hindernissen im gemeinsamen Binnenmarkt. Im Bereich der Körperschaftsteuer gibt es noch zahlreiche Potenziale im Binnenmarkt zu heben, um grenzüberschreitenden Handel und Investitionen zu erleichtern und zu fördern. Diese Hindernisse sollten unter Beibehaltung der Mitwirkungsrechte aller Mitgliedstaaten abgebaut werden. Darüber hinaus muss bei der anstehenden Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie sichergestellt sein, dass die Regelungen das reibungslose Funktionieren des europäischen Binnenmarktes, die internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen und die Vermeidung steuerlicher Diskriminierungen gewährleisten. Aus Sicht des BDI ist daher der von der EU-Kommission vorgeschlagene Aktionsplan zur Durchsetzung des Binnenmarkts dringend notwendig, um ein besseres Funktionieren des Binnenmarktes zu erreichen. Dabei müssen auch die zuvor genannten steuerlichen Aspekte adressiert werden. Der BDI 21


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begrüßt ebenfalls den Bericht der EU-Kommission zu den Barrieren im Binnenmarkt. Die in dem Bericht identifizierten Hindernisse sind für zahlreiche deutsche Unternehmen relevant – das gilt auch für Hindernis Nummer 9, demzufolge die fehlende Steuerharmonisierung nach wie vor ein Haupthindernis für die grenzüberschreitende Tätigkeit von Unternehmen bildet. Die identifizierten Hindernisse müssen zum Anlass genommen werden, den Abbau der vorhandenen Hemmnisse im Bereich des Steuerrechts zu forcieren.

Forderungen des BDI

▪ Die für 2023 angekündigte Schaffung eines einheitlichen Regelwerks für die Körperschaftsteuer in der EU (BEFIT, Business in Europe: Framework for Income Taxation) ist richtig, um steuerliche Hemmnisse im europäischen Binnenmarkt abzubauen. Die EU muss dabei die Einigung über eine Reform der Weltsteuerordnung konsistent und nicht überschießend umsetzen. Im Rahmen von BEFIT muss sowohl eine Vereinheitlichung der Bemessungsgrundlage als auch eine Konsolidierung von Gewinnen und Verlusten erfolgen. Die EU-Kommission muss dabei ein Augenmerk auf die Verhinderung von Doppelbesteuerungsrisiken für die Unternehmen legen und eine ausreichende Flexibilität hinsichtlich künftiger Steuerrechtsänderungen von Drittstaaten sicherstellen. ▪ Die EU-Kommission muss im Bereich der Mehrwertsteuer auf eine Harmonisierung der bestehenden technischen Methoden der Steuererhebung hinarbeiten. Von Bedeutung sind europaweite technische Lösungen für rechtssichere Auskunftssysteme. Diese dienen als Voraussetzung für ein endgültiges Mehrwertsteuersystem, das für die Unternehmen und die Finanzverwaltung rechtssicher umsetzbar ist. Die EU-Kommission sollte eine Harmonisierung der Steuersätze und Steuersachverhalte verfolgen, den Vorschlag zur Freigabe der Mehrwertsteuersätze zurückziehen und die Diskussion zur Einführung eines Reverse-Charge-Verfahrens für innergemeinschaftliche Warenlieferungen zulassen. ▪ Die EU-Kommission muss bei der Überarbeitung der Energiesteuerrichtlinie neben den Klimaschutzzielen auch das Ziel eines besser funktionsfähigen Binnenmarktes verfolgen, um die globale Wettbewerbsfähigkeit der Industriebranchen zu stärken. Klimaneutral hergestellte Energieträger dürfen im Sinne einer auf Klimaziele ausgerichteten Regulierung nicht mit Energiesteuern und CO2Preisen belastet werden. Die EU-Mitgliedstaaten sollten trotz einer Umstellung auf den Energiegehalt der Brennstoffe dazu verpflichtet werden, klimaneutral hergestellte und fortschrittliche, nachhaltige biologische Energieträger in der Markthochlaufphase ohne Beschränkung auf einzelne Sektoren vollständig von der Energiebesteuerung und einer CO2-Bepreisung auszunehmen. ▪ Das Einstimmigkeitsprinzip in Steuerfragen darf nicht aufgegeben werden. Zentrale steuerpolitische Entscheidungen auf EU-Ebene sollten weiterhin von allen EU-Staaten unmittelbar einstimmig entschieden werden. Aus Sicht des BDI mag es lediglich in Einzelfällen sinnvoll sein, davon abzuweichen. Dies könnte beispielsweise Fragen zu verfahrensrechtlichen Aspekten oder den Steuertatbestand betreffen. Im Hinblick auf eine umfassendere Ausweitung des Mehrheitsentscheids besteht jedoch das Risiko, dass die Interessen einzelner Mitgliedstaaten übergangen werden. Prinzipiell gilt daher: Statt eines Übergangs zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren in Steuerfragen sollte vielmehr die weitere Harmonisierung des europäischen Steuerrechts unter Beibehaltung der Mitwirkungsrechte aller Mitgliedstaaten vorangetrieben werden, um einen besser funktionierenden Binnenmarkt zu erreichen.

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„Governance“ des Binnenmarktes und bessere Rechtsetzung stärken Im März 2020 hat die EU-Kommission zwei Strategien zur Stärkung der Governance des Binnenmarktes vorgelegt: Einen Aktionsplan zur besseren Durchsetzung des Binnenmarktes 40 und einen Bericht zu Barrieren im Binnenmarkt41. Gemeinsam mit der EU-Agenda für Bessere Rechtsetzung42 bilden sie das zentrale Governance-Rahmenwerk für den Binnenmarkt.

Mangelhafte Umsetzung von EU-Recht als systemisches Problem Die mangelhafte Um- und Durchsetzung von Binnenmarktrecht in den Mitgliedstaaten ist ein systemisches Problem und bleibt eines der größten Hindernisse für Unternehmen im Binnenmarkt. Die Durchsetzung des Binnenmarkrechts und die Ahndung von Regelverstößen sind für viele Binnenmarktmaterien wie Wettbewerbspolitik und -recht oder das öffentliche Auftragswesen wesentlich. Die im Aktionsplan angekündigten Maßnahmen für einen besseren Austausch zur Anwendung und Durchsetzung sowie zum Reformbedarf des EU-Rechts sind geeignet, zu vertiefter Integration und einem „level playing field“ beizutragen. Der Bericht zu Hindernissen im Binnenmarkt wiederum identifiziert insgesamt 13 zentrale Barrieren, welche die Probleme vieler deutscher Unternehmen zutreffend widerspiegeln – vor allem des Mittelstandes und kleiner Unternehmen. Zurecht weist die EU-Kommission darauf hin, dass die Mitgliedstaaten für die größten Barrieren verantwortlich sind und nur durch sie letztendlich abgebaut werden können. Unklar bleibt aber, durch welche konkreten Maßnahmen die im Bericht zu den Hindernissen identifizierten Barrieren beseitigt werden sollen. Hier bedarf es konkreter Vorschläge seitens der Kommission.

EU-Agenda für Bessere Rechtsetzung weiter ausbauen Mit der EU-Agenda für Bessere Rechtsetzung aus dem Jahr 2015 hat die EU-Kommission das international bisher umfangreichste Rahmenwerk für effektive Rechtsetzung geschaffen. Seitdem wurde die Agenda mehrmals überarbeitet und erweitert. Der BDI begrüßt die Agenda und unterstützt ihre Weiterentwicklung und Vertiefung ausdrücklich.

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Aktionsplan zur Durchsetzung des Binnenmarkts (Europäische Kommission: Langfristiger Aktionsplan zur besseren Umsetzung und Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften. COM(2020) 94 final. https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/communication-eu-single-market-barriers-march-2020_de.pdf) 41

Europäische Kommission: Hindernisse für den Binnenmarkt ermitteln und abbauen. COM(2020) 93 final. https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2020/DE/COM-2020-93-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF 42

https://ec.europa.eu/info/law/law-making-process/planning-and-proposing-law/better-regulation-why-and-how_de

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Forderungen des BDI

▪ Das Binnenmarkt-Governance-Paket der EU-Kommission, bestehend aus dem Aktionsplan zur besseren Umsetzung des Binnenmarktes sowie dem Bericht über Hindernisse im Binnenmarkt, muss zügig und vollständig umgesetzt werden. Eine aktive Unterstützung durch die Mitgliedstaaten ist dabei unentbehrlich. Die EU-Kommission muss darlegen, mit welchen konkreten Maßnahmen die identifizierten Barrieren für grenzüberschreitende unternehmerische Tätigkeit beseitigt werden sollen. ▪ Die EU-Agenda für Bessere Rechtsetzung muss vertieft und ausgebaut werden. Die Entscheidungsfindung auf EU-Ebene muss für Interessenträger transparenter und inklusiver werden. Das Feedback, das im Zuge von öffentlichen Konsultationen an die EU-Kommission herangetragen wird, muss in der Ausgestaltung von Rechtsakten tatsächlich Beachtung finden. Die Qualität der Folgenabschätzungen der EU-Kommission muss entsprechend den Empfehlungen des Ausschusses für Regulierungskontrolle verbessert werden. Schließlich muss das Instrumentarium für Bessere Rechtsetzung laufend aktualisiert und von allen Kommissionsdiensten systematisch angewendet werden. ▪ Der Rat und das Europäische Parlament müssen ihre Zusagen in der Interinstitutionellen Vereinbarung für Bessere Rechtsetzung (2016) vollständig umzusetzen. Dies gilt besonders für die Zusage zu erhöhter Transparenz sowie zur Durchführung eigener Folgenabschätzungen zu wesentlichen Änderungen an Vorschlägen der EU-Kommission. Eine interinstitutionelle Definition von „wesentlicher Änderung“ sollte geprüft werden. ▪ Mitgliedstaaten sollten EU-Recht stets 1:1 umsetzen und sog. „Gold-Plating“ (Übererfüllung) unterlassen. Dies setzt voraus, dass Mitgliedstaaten ihren nationalen Behörden ausreichend Kapazitäten, Ressourcen und Know-how für die ordnungsgemäße Um- und Durchsetzung von Binnenmarktvorschriften bereitstellen. Des Weiteren ist eine engere Zusammenarbeit mit der EU-Kommission sowie zwischen den EU-Staaten untereinander erforderlich. Eine effiziente Zusammenarbeit ist ebenso zwischen der Task-Force zur Durchsetzung der Binnenmarktvorschriften, dem EU-Wettbewerbsfähigkeitsrat sowie dem Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments notwendig. ▪ Die EU-Kommission sollte bei Verletzungen des Binnenmarktrechts weiterhin engagiert vom Instrument des Vertragsverletzungsverfahrens Gebrauch machen. Das gilt auch insoweit, als daneben nationale Rechtsmittel zur Verfolgung von Verstößen gegen national umgesetztes EU-Recht zur Verfügung stehen. Die Erfahrung zeigt, dass das EU-Vertragsverletzungsverfahren ein wichtiges Korrektiv sind, wenn nationale Rechtsbehelfe erfolglos bleiben oder EU-Recht im Rahmen nationaler Verfahren nicht hinreichend berücksichtigt wird. ▪ Der BDI begrüßt das „One-In-One-Out“-Prinzip (OIOO) auf EU-Ebene. Doch dieses darf nicht zu einer Segmentierung des bestehenden Binnenmarkt-Acquis führen. OIOO muss außerdem so ausgestaltet werden, dass es komplementär zu den bestehenden Instrumenten für bessere Rechtsetzung funktioniert. Wichtig ist auch, dass nicht nur administrative Kosten, sondern auch wesentliche Erfüllungskosten erfasst werden.

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Impressum Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) Breite Straße 29, 10178 Berlin www.bdi.eu T: +49 30 2028-0 Redaktion Christoph Bausch Senior Representative BDA/BDI The German Business Representation T: +32 7921024 C.Bausch@bdi.eu Marianne Berg-Letzgus Senior Manager Mobilität und Logistik T: +32 2 792 1009 M.Berg-Letzgus@bdi.eu Philipp Gmoser Senior Manager Steuern und Finanzpolitik T: 3227921012 P.Gmoser@bdi.eu Steven Heckler Stellvertretender Abteilungsleiter Digitalisierung und Innovation T: +493020281523 S.Heckler@bdi.eu Dr. Claas Oehlmann Geschäftsführer BDI-Initiative Circular Economy Umwelt, Technik und Nachhaltigkeit Industrie-Förderung mbH T: +493020281606 C.Oehlmann@ice.bdi.eu Dr. Peter Schäfer Referent Recht, Wettbewerb und Verbraucherpolitik T: +493020281412 P.Schaefer@bdi.eu Stefanie Ellen Stündel Senior Manager Digitalisierung und Innovation T: +3227921015 S.Stuendel@bdi.eu Simon Weimer Referent Umwelt, Technik und Nachhaltigkeit T: +493020281589 S.Weimer@bdi.eu

BDI Dokumentennummer: D 1470 25


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