Behörden Spiegel Oktober 2021

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Europäischer Polizeikongress

Behörden Spiegel / Oktober 2021

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ei der Berliner Polizei habe sich in den letzten 18 Monaten die Zahl der Überstunden auf 2,23 Millionen Stunden fast verdoppelt. Auch die Zahl der Demonstrationen sei von 2.000 pro Jahr auf rund 5.000 gestiegen, berichtete Geisel. Hinzu komme, dass sich die Demonstranten weiter radikalisieren würden. “Es entwickelt sich eine Extremismus-Form mit eigenem Charakter”, so der Innensenator. Neben der Zunahme an Demonstrationen beklagte Sachsens Staatsminister des Innern zusätzliche Aufgaben wie die Einhaltung der Infektionsschutzauflagen, die an die Polizei gestellt würden. “Die Polizei wird zum Reparaturbetrieb der Gesellschaft”, zeichnete Prof. Dr. Roland Wöller ein düsteres Bild. Unterstützung erhielt er von seinem Amtskollegen Michael Stübgen: “Wir müssen zuerst an die denken, die die Sicherheit des Staates aufrechterhalten”, forderte der Minister des Innern und für Kommunales des Landes Brandenburg. Dazu gehöre auch, in Zeiten von Lockdown und Quarantäne die Versammlungsfreiheit einzuschränken. Deshalb habe er sich eng mit dem brandenburgischen Justizministerium abgestimmt. Das Ergebnis: Kein Versammlungsverbot sei gerichtlich aufgehoben worden.

Gefahr nicht gebannt Obwohl die Pandemie das Geschehen der letzten eineinhalb Jahre beherrscht hat, sind andere Aufgaben wie die Terroris-

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ei den Bachelor-Arbeiten wurden Martin Bölter von der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege Mecklenburg-Vorpommern, Lena Griesbach von der Polizeiakademie Niedersachsen sowie Paula Stadthaus von der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) Berlin geehrt. Griesbach erhielt für ihre Ausarbeitung “Der Begriff des Erfolgs in der Cold-Case-Bearbeitung – eine multiperspektivische Betrachtung von Erfolgsfaktoren der polizeilichen Bearbeitung ungeklärter Tötungsdelikte” 1.500 Euro Preisgeld. Für die Arbeit führte sie Interviews mit verschiedensten Experten, unter anderem zwei Cold-Case-Sachbearbeitern, einer Kapitaldezernentin sowie zwei Angehörigen eines über 30 Jahre zurückliegenden, ungeklärten Mordfalles. Griesbach arbeitet heraus, dass der maximale Erfolg solcher Ermittlungen natürlich in der Ermittlung und Verurteilung des Täters liege. Werde dies nicht erreicht, könnten häufig aber zumindest bedeutsame Teilerfolge vernommen werden. Diese reichten von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Angehörigen über eine zielgerichtete Medienarbeit und die Steigerung des subjektiven Sicherheitsgefühls in der Bevölkerung bis hin zum Gewinnen neuer und dem Ausschluss vorhandener Ermittlungsansätze sowie wichtigen Lernprozessen seitens der Polizei. Aus Griesbachs Sicht hängt der Erfolg von Cold Case-Ermittlungen keinesfalls vom Zufall ab. Sie seien jedoch nur erfolgreich,

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Problem Präventionsparadoxon Innenminister diskutieren über (Zu-)Stand der Polizei (BS/Jörn Fieseler) “Wir haben Erfahrungen mit Links- und Rechtsextremisten, aber dass die Polizei auf einmal von einer Frau im Sommerkleid angegriffen wird oder von einem Mann, der einen Bollerwagen mit Kindern zieht, das war eine neue Herausforderung für uns”, sagte Berlins Innensenator Andreas Geisel mit Blick auf die Corona-Demonstrationen in der Hauptstadt. Überhaupt stelle die Pandemie die Polizeien der Länder vor neue Problemlagen. Zumal Themen wie die Terrorismusabwehr wegen der Pandemie nicht verschwunden sind. musabwehr nicht verschwunden. “Die Abwesenheit eines Beweises ist kein Beweis für die Abwesenheit”, unterstrich Wöller mit einem Zitat aus der Medizin. Die Gefahr eines Anschlags in Deutschland sei weiterhin gegeben, auch wenn es in den letzten Jahren weniger Meldungen und Fälle gegeben habe. Der internationale Terrorismus habe sich gewandelt. Attentäter agierten zunehmend als sogenannte einsame Wölfe, hinzu komme eine Art Franchise-System. Kleine, unabhängige Gruppen würden sich unter einem Dachnamen zusammenschließen, aber weiterhin selbstständig agieren, erläuterte Wöller. “Es ist eine Gratwanderung, zwischen der Sicherheit und der Freiheit der Gesellschaft abzuwägen”, ergänzte Geisel. “Wir diskutieren in Berlin die Verpollerung der Stadt, aber wenn wir das machen, haben die Terroristen am Ende gewonnen.” “In den vergangenen Jahren hatten wir 13 Anschläge in Europa mit islamistischem Hintergrund”, resümierte Joachim Herrmann, Bayrischer Staatsminister des Innern, für Sport und Integration. Anschläge gebe

Taktisch anders aufstellen

“Es braucht ein klares Bekenntnis zur wehrhaften Demokratie und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung”, waren sich Joachim Herrmann, Andreas Geisel, Uwe Proll (Moderator), Prof. Dr. Roland Wöller und Michael Stübgen einig (v.l.n.r.). Fotos: BS/Boris Trenkel

es aber auch mit rechtsextremem Hintergrund. “Wir stellen insgesamt mehr Hass und Hetze fest.” Das polarisiere und die Gefahr wachse, dass sich einzelne Menschen in Rage reden und plötzlich losschlagen würden, wie im Fall des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke. “Deshalb ist ein Wahlkampf-Plakat mit der Aufschrift "Hängt die Grünen” vollkommen inakzeptabel", so der CSU-Politiker. Das sei keine politische Kommunikation mehr. In Bayern habe er der Polizei den Auftrag erteilt,

jedes dieser Plakate zu beschlagnahmen. “Der Staat muss klare Botschaften aussenden. Wenn man den Anfängen nicht wehrt, dann eskaliert es – dass haben wir in der Vergangenheit erlebt”, so Herrmann. Allerdings gibt es ein grundsätzliches Problem, das Wöller als Präventionsparadoxon bezeichnete: “Jeder weiß, Sicherheitsmaßnahmen sind gut, aber sie kosten Geld und Aufwendungen. Aber verhinderte Krisen sind kein politischer Erfolg.” Heißt im Klartext: Nicht jeder Parlamentarier ist bereit,

Ausgaben zu bewilligen, die ihm keine Wiederwahl garantieren.

Kooperationen mit Kommunen kräftigen Trotzdem haben die Länder in den vergangenen Jahren massiv Polizeikräfte eingestellt. Allein in Bayern sind während der 13-jährigen Amtszeit Herrmanns 7.000 zusätzliche Stellen geschaffen worden, weitere 1.000 sollen in den nächsten zwei Jahren hinzukommen. Doch mehr Stellen allein reichten nicht, es brauche einerseits

“Zukunftspreis Polizeiarbeit” verliehen Sechs Absolventen erhalten insgesamt 5.000 Euro (BS/Marco Feldmann) Mit dem “Zukunftspreis Polizeiarbeit” wurden insgesamt sechs Arbeiten von Absolventen des Fachhochschulbereichs Polizei sowie von Universitäten mit Preisgeldern in Höhe von 5.000 Euro prämiert. Damit wurde auch die Exzellenz der polizeilichen Ausbildung gewürdigt. Das gilt sowohl für den Bereich der Bachelor-Arbeiten als auch für die Master-Studiengänge.

Lena Griesbach, Martin Bölter und Paula Stadthaus (v.l.n.r.) wurden in der Bachelor-Kategorie des diesjährigen “Zukunftspreises Polizeiarbeit” ausgezeichnet.

wenn neben dem Tod des Ermordeten und dem Leid seiner Angehörigen auch die Bemühungen der Ermittlungsbehörden sowie die Furcht des Täters, gefasst zu werden, für immer währten, schlussfolgert sie.

Konkretes Präventionsprojekt entwickelt 700 Euro gingen an Martin Bölter für seine Arbeit “Gewalt im Kontext von Großveranstaltungen und Musikfestivals – ein kriminalpräventiver Ansatz”. In dieser stellte er sich die Frage, wie ein Präventionsprojekt gegen Gewalt im Kontext von Musikfestivals und Großveranstaltungen unter Würdigung szenetypischer Faktoren gestaltet sein könnte. Denn bislang sind Präventionsund Hilfsangebote auf Festivals zur Vermeidung (sexueller) Gewalt kaum bekannt. Außerdem

einen kontinuierlichen Zuwachs von Bewerbenden – im Freistaat seien in diesem Jahr erstmals acht Bewerbungen auf eine Stelle gekommen. Auf der anderen Seite müsse die Kooperation mit kommunalen Sicherheitskräften und Ordnungsdiensten verbessert werden wie etwa bei der Münchner U-Bahn-Wache. Das sei keine Konkurrenz zur Polizei, sondern Ausdruck einer sichtbaren Präsenz der Sicherheitsbehörden und für das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ebenso wichtig wie für die Stabilität des Rechtsstaates.

Bei den Master-Arbeiten wurden geehrt (v.l.n.r.): EvaChristina Buchheit, Jessica Bouška und Christoph Büchele. Fotos: BS/Boris Trenkel

besteht hier ein großes Dunkelfeld, da die Anzeigebereitschaft gering ist. Bölter entwickelte in der Ausarbeitung die Kampagne “bewusstSIGN”. Sie besteht aus einer Audio-CD, einer Internetseite sowie einem Präventionsfilm. Hinzu kommen Design-Element und Grafik-Artwork. Der Präventionsfilm wird auch bereits von Polizeibeamtinnen und -beamten, Lehrern, Schulsozialarbeitern und Opferhilfeeinrichtungen, die Präventionsarbeit mit Jugendlichen an Bildungseinrichtungen durchführen, genutzt. Ziel ist es, zur Sensibilisierung und zur Erlangung von Kompetenzen zur Verhinderung von Straftaten bei jungen Menschen beizutragen und die Anzeigebereitschaft zu erhöhen. 300 Euro erhielt in der Bachelor-Kategorie Paula Stadt-

haus für ihre Untersuchung zur Eignung verschiedener Spektroskopiemethoden an Betäubungsmitteln. Dabei konnten optische Vergleiche und eine Diversität an Streckmitteln herausgearbeitet werden. Nicht ermittelt werden konnte jedoch, um welche Streckmittel es sich im Einzelnen handelt. Gleichwohl war es möglich, Aussagen über die Mengen der einzelnen Streckmittel zu treffen. In Kombination mit den dazugehörigen Spek­tren ließ sich daraus schließen, inwieweit die Streckmittel Einfluss auf die Messungen hatten.

Digitalen Identitäten mehr Bedeutung einräumen Bei den Master-Arbeiten ging der erste Platz (Preisgeld 1.500 Euro) an Christoph Büchele von der Deutschen Hochschule der

Polizei. Seine Ausarbeitung setzt sich mit den Möglichkeiten von erkennungsdienstlichen Behandlungen 2.0 auseinander. Dafür erhob er anhand von Experteninterviews den aktuellen Umgang mit digitalen Identitäten im polizeilichen Kontext und Implikationen für die Zukunft. Büchele kritisiert in diesem Zusammenhang, dass die Speicherung in den polizeilichen Systemen allenfalls auf Basis eines begrenzten Hilfskonstruktes erfolge. Dieses werfe zahlreiche Probleme auf und vermindere Effizienz sowie Effektivität der polizeilichen Arbeit. Ebenso zeige es das derzeitige Fehlen eines strategischen Ansatzes sowie einer theoretischen Fundierung des bisherigen Umgangs mit digitalen Identitäten. Der Verfasser verlangt, dass künftige Polizeiarbeit in der Lage sein müsse, digitale Identitäten in den eigenen Systemen zu erfassen und zu verarbeiten. Die Bedeutung digitaler Identitäten müsse sich in einem speziell dafür konzipierten Bereich in polizeilichen Systemen widerspiegeln.

Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt 700 Euro erhält Jessica Bouška, ebenfalls von der Deutschen Hochschule der Polizei, für ihre Master-Arbeit zur polizeilichen Vorgehensweise der Länder bei der Auswertung,

Und die Überstunden allein in Berlin? Die hätten inzwischen eine schwierige Größenordnung erreicht. Es bleibe nur die Möglichkeit, diese finanziell abzugelten. Ein Freizeitausgleich könne nicht zugesagt werden, weil die nächsten Einsätze schon bekannt seien, so Geisel. Die bisherigen Überlegungen zu Überstundenabbau und Aufgabenreduzierung seien noch nicht aufgegangen. Und auch die Einstellung von 1.700 neuen Beamtinnen und Beamten habe nicht geholfen. “Wir müssen mit den Personalräten und Gewerkschaften sprechen und eine Lösung finden”, betonte der Innensenator. Der bisherige Kurs könne nicht weitergeführt werden. Einen Königsweg habe er aber noch nicht gefunden, deshalb rücke nun die Einsatztaktik in den Fokus. “Wir denken darüber nach, uns hier anders aufzustellen", gab Geisel zu.

Analyse und Bewertung von Missbrauchsabbildungen. Dabei erfolgte die Identifizierung eventuell vorhandener Potenziale für Optimierungen in Bezug auf das verfügbare Personal, die Technik, die Instrumente und Tools, die zur Analyse zur Verfügung stehen, sowie mit Blick auf Möglichkeiten themenspezifischer Aus- und Fortbildung. Im Zuge dessen wurden mehrere Optimierungsmöglichkeiten identifiziert. 300 Euro Preisgeld gingen schließlich an Eva-Christina Buchheit für ihre Abhandlung zur Fehlerkultur in der rheinland-pfälzischen Polizei. Sie verfolge das Ziel einer organisationalen Innensicht auf die gelebte Fehlerkultur sowie Folgewirkungen auf Indikatoren der Berufseinstellung innerhalb des operativen Polizeidienstes. Dazu fand eine Beleuchtung externer Organisationen mit hohem Sicherheitsanspruch statt, um potenziell übertragbare Optimierungsansätze zum Fehlermanagement im Polizeidienst zu generieren. Die Studie zeigt, dass Polizeibeamte dem Umgang mit Fehlern einen grundsätzlich positiven Wert beimessen. Allerdings bestätigen sie in diesem Zusammenhang auch Schamund Angstgefühle. Zudem wird deutlich, dass Führungskräfte entscheidend das entsprechende Verhalten der ihnen unterstehenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter prägen. In der Arbeit wird darüber hinaus für eine konzentrierte und erweiterte Nutzung bestehender organisationskultureller Instrumente plädiert.


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