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Mario Venzago tritt zum ersten Mal als Chefdirigent ans Pult des Berner Symphonieorchesters
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Beat Schweizer
N°37 Donnerstag bis Mittwoch 16. bis 22.9.2010 www.kulturagenda.be
Infinite in der Turnhalle
«Das Problem der Festlichkeit wird mich während der nächsten Jahre begleiten», sagt der neue Herr über die Partituren im Kultur-Casino. Will heissen, das BSO wird sich an der historischen Aufführungspraktik orientieren, wenn es um den musikalischen Ausdruck geht: höhere Tempi, weniger Klebrigkeit.
Er soll auch ein grandioser Unterhalter sein: Rapper Infinite Livez.
«Sagt mir, wenn es euch nicht gefällt»
Austoben!
Er will das Berner Symphonieorchester in eine neue Richtung führen. Mario Venzago gedenkt aus dem russisch angehauchten BSO ein französisches Orchester zu formen. Und in Sachen Fusion mit dem Stadttheater gilt für ihn: Alle Macht den Machern!
Auf der Spielwiese der experimentierfreudigen Musik: Infite Livez, Stade und Joy Frempong.
Mario Venzago, Sie sind als neuer Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters (BSO) nach Bern gezogen. Haben Sie sich eingelebt? Ich war seit meinem Umzug noch viel zu wenig hier, weil ich dirigierend unterwegs war, in den letzten Wochen zum Beispiel in Australien und China. Ich werde auch in Zukunft in der ganzen Welt gastieren, meine Familie wohnt in Deutschland, aber durch Bern werden die Wege kürzer, und ich fange an, mich heimisch zu fühlen. Bern zieht mich ungemein an. Eine Superstadt! Das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind Zürcher.
Mario Venzago Der 62-jährige Zürcher Mario Venzago tritt auf diese Saison beim Berner Synphonieorchester die Nachfolge von Andrey Boreyko an. Von 2002 bis 2009 war Venzago Musikdirektor des Indianapolis Symphony Orchestra. Zuvor war er unter anderem Generalmusikdirektor der Stadt Heidelberg und Chefdirigent der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, der Grazer Oper und des Sinfonieorchesters Basel. In dieser Spielzeit sind Venzagos Auftritte noch rar. Nebst der Eröffnungsgala dirigiert er zwei Sinfoniekonzerte. Wegen anderer Verpflichtungen wird er dem Orchester erst nächste Saison so richtig seinen Stempel aufdrücken können. mfe
Momoll, wenn ich unabhängig vom Job die Wahl hätte, irgendwo in der Schweiz zu wohnen, würde ich mich für Bern entscheiden. Der bürgerliche Charme gefällt mir. Bern hat auch eine inspirierende, kreative Ausstrahlung – mehr als Zürich. Sie waren im Baskenland engagiert, in Deutschland, Österreich, in Schweden und zuletzt in den USA. Wo fühlen Sie sich eigentlich zu Hause? (Überlegt) Im Moment nirgends. Manchmal muss man etwas behaupten, damit es eintrifft. Auch wenn es um Heimat geht. Seit Längerem wuchs in mir der Wunsch, wieder in die Schweiz zu ziehen. Jetzt versuche ich, hier anzukommen. Das BSO wird mit dem Stadttheater fusioniert. Sie kommen in einer unruhigen Zeit. Ich bin darüber nicht unglücklich. In Zeiten des Umbruchs kann man die Dinge neu zusammensetzen. Wir müssen uns nun nur vorsehen, nicht am Ziel vorbeizuschrammen.
Ja, es sind zu viele Leute am Werk, die es gut meinen und lautere Absichten haben. Aber so viel Handlungsbedarf gibt es gar nicht. Es gibt nämlich vieles, das prima funktioniert. Wir wollen jetzt Fakten schaffen, arbeiten, beweisen, dass wir es können, und dann werden die Strukturen von selbst entstehen.
Ist es nicht seltsam, dass weit und breit kein Orchester mehr das französische Repertoire konsequent pflegt? Obwohl Komponisten wie Debussy, Ravel, Franck, Koechlin, Dukas zu den grössten der Musikgeschichte zählen, frönt ihre Musik ein Nischendasein. Ich hatte den Auftrag, eine Nische zu finden. Voilà!
Wie weit haben Sie sich da schon eingebracht? Den unschuldigen und unparteiischen Blick des von aussen Kommenden möchte ich so lange als möglich beibehalten. Ich versuche, im Schulterschluss mit meinem Orchesterintendanten Matthias Gawriloff mit den vielen Menschen aus Politik, Musik und Theater direkt in Kontakt zu treten, und das ist mir bisher gut gelungen. Es gibt tolle Leute hier. Es geht jetzt aber darum, die Ressourcen flexibler zu nutzen und sie nicht in unsinnigen Modellen zu verschleudern. Wenn eine kulturelle Institution finanziell aus dem Ruder läuft …
Ihr Vorgänger Andrey Boreyko wurde geliebt und an seiner Abschiedsgala bejubelt. Schwierig, seine Nachfolge anzutreten. Der Erfolg von Andrey Boreyko freut mich. Es ist doch wunderbar, dass seine Ära so erfolgreich zu Ende geht. Das schafft mir eine optimale Ausgangssituation: Das Publikum vertraut dem Orchester. Ich bin mir schon bewusst, dass ich für meine Ideen zunächst werben muss. Gebt mir halt ein bisschen Zeit! Und wenn es euch nicht gefällt, sagt es mir!
… Sie meinen das Musiktheater? (Zuckt nicht mit der Wimper) … ist das kein Strukturproblem, sondern ein künstlerisches. Lösbar, selbstverständlich.
Wie meinen Sie das? Kunst braucht Macher, keine Kommissionen. Der Weg von den Subventionsgebern zu den Machern muss möglichst kurz sein. In Basel habe ich in den 90erJahren schon einmal eine Fusion erlebt (als erster Chefdirigent des heutigen Sinfonieorchesters Basel). Funktioniert hat es erst, als Gelder und Kompetenzen nicht mehr in komplizierten Durchlauferhitzern verpufften.
Was führen Sie mit dem BSO im Schild? Ich will aus dem BSO ein französisch klingendes Orchester machen mit einem Schwerpunkt beim französischen Repertoire. Ich werde mich auch an der historischen Aufführungspraxis orientieren. Sie lehrt uns nicht den Klang von gestern, sondern den Klang von morgen: schlank und aufgeraut, schnellere Tempi, Euphorie. Meine Klangvision ist eine neue Feierlichkeit, die nicht mehr auf Langsamkeit und Klebrigkeit baut.
Soll das heissen, es sind bei der Berner Fusion zu viele Leute am Werk?
Geht es bei Ihrem Vorhaben um persönliche Vorlieben?
Der Brite Infinite Livez, bürgerlich Steven Henry, ist einer der vielen Kunstschulabsolventen, die ihr Gestaltungstalent und ihr Gespür für Avantgarde in Popmusik übertrugen. Auf seinem Debütalbum, «Bush Meats», etwa rappte er über einen One-Night-Stand mit einem Spielzeugpony. Doch Infinite Livez ist nicht nur für innovative Texte angetreten, sondern für ebensolche Musik. Die fand der Künstler und Musiker in der Schweiz. Während der Tour zu «Bush Meats» nämlich traf er das Elektro-Duo Stade. Dahinter stecken die beiden Westschweizer Pierre Audétat und Christophe Calpini, die ihre Musik lieber improvisieren, statt vorprogrammierte Läufe abzuspulen.
Nun folgt Ihre Gala: Rossinis Wilhelm-Tell-Ouvertüre, ein Klavierkonzert von Giuseppe Martucci und von Brahms die erste Sinfonie. Ein Programm als Statement zum Beginn? Nein, es ist ganz undoktrinär einfach nur ein festliches Programm zum Auftakt. Brahms kann man sowieso nicht so radikal interpretieren wie etwa Schumann oder Bruckner, aber man kann sehr wohl seine interpretatorische Visitenkarte abgeben. Ich möchte halt, dass es weniger schwer klingt als gemeinhin. Weniger Pathos, dafür Wärme. Und wie gesagt: festlich auf moderne Weise. Deswegen werden wir noch diese Saison auch eine Bruckner-CD einspielen. Das Problem der Festlichkeit wird mich während der nächsten Jahre begleiten. Hier eine Lösung zu finden, ist Teil meiner Vision. Interview: Michael Feller
Nennen wirs Avantgarde-Elektro-Freistil-Rap Die Kollaboration Stade/Infinite führt zu drei Platten im Bereich AvantgardeElektro-Freistil-Rap. Auf «Art Brut For Da Foot» (2007) folgt «Morgan Freeman’s Psychedelik Semen» (2008) und wiederum nur ein Jahr später «Live at La Guinguette», das während einer einwöchigen Improvisationssession entstand. Mit dabei in der Turnhalle ist Sängerin Joy Frempong, unter anderem bekannt von der Berner Elektroband Filewile. Zusammen toben sich die vier umtriebigen Künstler mit diversen Synthies, Samplern, Drum-Maschinen, verfremdeten Stimmen und verspielten Effekten in einer Musik aus, die alle gängigen Strukturen über den Haufen wirft. Regine Gerber
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Galakonzert. Kultur-Casino, Bern Fr., 17.9., 20.30 Uhr. www.bsorchester.ch
Turnhalle im Progr, Bern So., 19.9., 20.30 Uhr. www.bee-flat.ch