N°39 Donnerstag bis Mittwoch 30.9. bis 6.10.2010 www.kulturagenda.be
«Was ist eigentlich pervers?», fragt sich Peng! Palast in ihrem neuen Theaterstück. Seite 3
Annette Boutellier
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Der widerwärtige Polizeichef Scarpa (Carlos Almaguer) nimmt sich der Tosca (Gabriela Georgieva) an, nachdem ihr Geliebter Cavaradossi (Luis Chapa) von seinen Leuten ermordet worden ist.
Polit-Thriller im belagerten Rom «Leidenschaft! Gewalt! Erotik!», sagt Anthony Pilavachi, als lese er Schlagworte für eine Geländewagen-Kampagne von der Powerpoint-Folie. Doch der Regisseur spricht über «Tosca». Die Oper von Giacomo Puccini gehört zu den beliebtesten Verismo-Opern, nein, zu den beliebtesten Opern überhaupt. Genretypisch geht es nicht um höfischen Knatsch, sondern ums richtige Leben, also um Leben und Tod. Um Liebe und Leidenschaft, Lug und Trug – und um knallharte Politik. Die Geschichte spielt in Rom im Jahr 1800, Napoleon Bonaparte greift die Stadt an. Der politische Gefangene Angelotti (gespielt von Milcho Borovinov) flieht aus dem Gefängnis und versteckt sich in der Kirche, wo sein Freund Cavaradossi (Luis Chapa) das Altarbild malt.
Er gestaltet das Bildnis Maria Magdalenas nach dem Vorbild einer unbekannten Kirchenbesucherin. Des Malers Verlobte, die Sängerin Floria Tosca (Gabriela Georgieva), wittert Betrug. Das hat eine herzzerreissende Arie der Eifersucht zur Folge: «Wo ist die Frau? Ich hörte Flüstern und Kleiderrascheln!», singt Georgieva auf Italienisch, in der Originalsprache des Librettos von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica. Die musikalische Leitung hat Srboljub Dini´c. Politik plus Leidenschaft ergibt Gemetzel Polizeichef Scarpia (Carlos Almaguer), ein Intrigant, fahndet nach dem Flüchtigen und verliebt sich in die Tosca. Darauf kommt es zum langen Showdown; in diesem Polit-Thriller vermischen sich Politik und Leidenschaft, und dar-
aus ergibt sich ein regelrechtes Gemetzel. «Meine grosse Liebe fürs Kino ist die Basis für die Inszenierung», erklärt Anthony Pilavachi. Wie der Thriller auf der Leinwand soll die Oper auf der Bühne die Spannung über das ganze Stück hoch halten und damit das Publikum fesseln. «Ich stelle hohe Ansprüche an die Sängerinnen und Sänger», sagt der Regisseur. Staatsterror als zeitloses Motiv Ein Motiv der Geschichte ist die politische Unterdrückung, die im belagerten Rom um sich greift. «Ein universelles Thema», findet Pilavachi und akzentuiert es in seiner Inszenierung, die in Zusammenarbeit mit der Opéra National de Bordeaux enstanden ist. Der Staatsterror wird anhand der Kostüme (Pierre Albert) der (Polizei-)Truppen als zeitloses und weltweites Phänomen angesprochen. Mit Uniformen aus dem Stalinismus, der Franco-Diktatur oder mit Häftlingskleidern aus Guantána-
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mo fliessen Zitate aus der neueren Geschichte der Unterdrückung ein. «Tosca» als ergreifender Polit-Thriller ist in einem ganz anderen Gefühlsspektrum angesiedelt als die letzte Berner Produktion von Anthony Pilavachi. Denn dort ging es um Träumereien: In der vorletzten Saison inszenierte er Benjamin Brittens «A Midsummer Night’s Dream» mit Dirk Bach als Puck. Publikum und Kritik liessen sich verzaubern. Jetzt ist alles andere als Fantastik angesagt. Wie verglich doch Puccini zwei seiner Opern so schön: «Mit ‹La Bohème› wollten wir Tränen ernten, mit ‹Tosca› wollten wir das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen aufrütteln und ihre Nerven ein wenig strapazieren.» Das Stadttheater setzt das Stück der Leidenschaften mit Feuer um, mit echtem Feuer (Bühne: Markus Meyer). Michael Feller
3 Kulturtipps
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Regisseurin Meret Matter ist Mitbegründerin der Berner Theatergruppe Club 111. Matter hat unter anderem auch am Schauspiel Hannover mehrmals Regie geführt.
Stadttheater Bern. Premiere: So., 3.10., 18 Uhr. Weitere Vorstellungen bis 23.2. www.stadttheaterbern.ch
1. «Peace – The Permanent War Action Theatre» im Schlachthaus Theater, Bern (Mi., 6.10., und Do., 7.10., 20.30 Uhr) Das ist ein anarchistisches Stück Chaostheater.
Rock ohne Schickschnack Die amerikanische Noise-Rock-Band Shellac zelebriert den Minimalismus, in Musik und Kommunikation. Im Dachstock spielt die Formation um Gitarrist und Sänger Steve Albini eines ihrer seltenen Konzerte. benden Rhythmen und repetitiven Riffs und gewürzt mit skurrilen, bisweilen auch sarkastischen Songtexten. Gegründet wurde die Band 1992 von Sänger und Gitarrist Steve Albini, einem der bedeutendsten Toningenieure der amerikanischen Indie-Szene. Quasi als Freizeitprojekt für ihn und seine beiden Mitstreiter, Todd Trainer (Schlagzeug) und Bob Weston (Bass). Daraus wurde ernsthafte Musik – mit viel freier Zeit zwischen den Auftritten. Lukas Tinguely \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Dachstock, Bern. Di., 5.10., 20.30 Uhr www.dachstock.ch
2. Storm Störmer mit «Worst Case Szenarios» im Café Kairo, Bern (Mi., 6.10., 20.30 Uhr) Ich habe gehört, die Schlechte-KunstKritiker seien etwas vom Besten, was Zürich zu bieten hat. 3. Steff la Cheffe in der Mahogany Hall, Bern (Sa., 2.10., 21 Uhr) Weil ich sie an der Biennale leider verpasst habe.
ZVG
«Shellac wird irgendwann zwischen jetzt und der Zukunft wieder eine LP veröffentlichen», lässt die Plattenfirma Touch-and-Go verlauten. Seit der Veröffentlichung ihres letzten Albums, «Excellent Italian Greyhound», sind mittlerweile über drei Jahre ins Land gezogen. Informationen zur Chicagoer Band sind rar. Ähnlich rar sind die Konzerte des Trios. Dazu schreibt das Label, Shellac gehe weiterhin «sporadisch und in entspanntem Rhythmus auf Tournee». So reduziert Kommunikationsstil und Tourneeplan, so minimalistisch ist auch die Musik von Shellac. Noise Rock ohne Schnickschnack, dafür mit trei-
von Meret Matter
ZVG
Letztes Jahr hat Regisseur Anthony Pilavachi das Stadttheater-Publikum mit «A Midsummer Night’s Dream» verzaubert. Nun inszeniert er Puccinis Oper «Tosca». Da wird mit harten Bandagen gekämpft.
Im Museum Franz Gertsch haben die zwei Schwestern Claudia und Julia Müller «einen Raum tätowiert», wie sie zu sagen pflegen.
Gestandene Musiker: Bob Weston, Steve Albini und Todd Trainer sind Shellac (von links).
Einen Hip-Hop-Banausen würde ich zum Steff-la-Cheffe-Konzert überreden … … mit dem Argument, dass Steff la Cheffe im Gegensatz zu vielen anderen Hip-Hoppern schlaue Texte hat und darüber hinaus eine wahre Championne des Beat-Boxes ist.