N°44 Donnerstag bis Mittwoch 4. bis 10.11.2010 www.kulturagenda.be
Witze unterm Galgen
Kabarettist statt Kellner Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten landete der Wiener mit seinen Eltern 1938 in den Vereinigten Staaten von Amerika. Eigentlich wollte er Dirigent werden. Arnold Schönberg stellte ihm ein Empfehlungsschreiben für die Universität von Los Angeles aus, an welcher der Komponist lehrte. Kreisler wurde trotz offensichtlicher Begabung nicht aufgenommen, dem Flüchtling
Stadttheater-Intendant Marc Adam inszeniert Prokofjews «L’amour des trois oranges». Seite 3 \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Carmelo Agovino
Angelsächsischer statt deutscher Humor «Amerika hat meinen Humor mitgeformt. Ich war siebzehn Jahre lang dort, es waren meine Anfänge, meine Jugendjahre, das prägt.» Das ist insofern entscheidend, als nicht nur Amerikaner, sondern auch Briten und Iren einen unverkrampfteren Umgang mit dem Witz pflegen. Anders als im deutschen Sprachraum ist er nicht a priori schlecht. Selbst wissenschaftliche Werke dürfen mit gelegentlich eingestreuten Auflockerungen verfasst werden. Unvorstellbar für deutschsprachige Universitäten. So formten die Erfahrung, mit Humor für seinen Lebensunterhalt sorgen zu müssen, und die angelsächsische Tradition des Scherzes Kreislers Stil mit. Die Wurzel aber liegt im Witz der Wiener Juden. Wo Wien ist, ist das Wort makaber nicht weit, das Kreisler oft angehängt wird. Treffender wäre jedoch Galgenhumor, «ein ängstlicher Humor, als wäre immer eine Bedrohung vorhanden», wie er es umreisst. Scharfzüngig legte Kreisler immer wieder versteckten Antisemitismus offen. Liest man seine vermeintlich witzigen Texte unter der Prämisse «ängstlich» – kann man den Autor Georg Kreisler neu entdecken.
Schnelles, freches Theater im Seifenoper-Stil: Im Progr gibt es fünf Folgen von «Schnäu & dräckig» – vorläufig. Seite 12 \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
3 Kulturtipps von Hanspeter Utz
Silvano Cerutti \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Lesung mit Barbara Peters: Stadttheater, Bern. So., 7.11., 20 Uhr g www.la-cappella.ch un los r e www.stadttheaterbern.ch V
ZVG
Kurzgeschichten statt Lieder Die Argumentation ist nachvollziehbar, und die Bühnenarbeit, für die er ebenfalls berühmt ist, bezeichnet er als «Brotjob», auch wenn er betont: «Ohne Spielfreude kann man gar nicht auf die Bühne gehen.» Deswegen verstehe er sich trotzdem nicht als Schauspieler, sondern als Autor. Auch diese Antwort leuchtet ein, erst recht, wenn man bedenkt, dass der 88-jährige Kreisler in einer Zeit gross geworden ist, in der man zuerst durchkommen musste, bevor man an Selbstverwirklichung denken konnte. Und aktuell tourt er nicht mit Liedern, sondern mit Kurzgeschichten und Gedichten – die den Liedern in nichts nachstehen.
fehlten Zeugnisse. Später arbeitete Kreisler erst für die Traumfabrik von Hollywood (etwa für Charlie Chaplin), dann in Nachtklubs von New York, wo er Kabarettist geworden sei wie andere Kellner, wie er in einem Interview einmal feststellte.
Privat
Das Gedicht heisst «Ein Ärgernis», und seine letzte Zeile lautet unmissverständlich: «Ein für alle Mal: Ich bin kein Kabarettist!» Im ersten Reflex denkt man, Georg Kreisler beliebe zu scherzen. Seine Antwort am Telefon hingegen macht klar, dass er es ernst meint: «Ein Kabarettist ist ja einer, der auch zur Tages- oder wenigstens Monatspolitik Stellung nimmt. In meinen Augen jedenfalls. Die meisten Sachen, die ich geschrieben habe, beziehen sich auf die allgemeine Situation unserer westlichen Welt, die sich schon jahrelang nicht wesentlich geändert habt.»
Philipp Zinniker
Auf Einladung der Cappella tritt Georg Kreisler zur szenischen Lesung im Stadttheater an. Er gilt als Übervater des deutschsprachigen Nachkriegskabaretts. Ist das nur ein Missverständnis?
«Amerika hat meinen Humor mitgeformt», sagt Georg Kreisler.
Quartieraufhübscher Guyton ist zu Besuch bei Tom Blaess Druckgrafiker Tom Blaess hat für eine Ausstellung den Künstler Tyree Guyton aus Detroit nach Bern eingeladen. Der sorgt seit Jahren für Aufsehen in der Stadt – indem er illegal seine Strasse verschönert. «Motor City» wird die Stadt Detroit genannt, der Automobilindustrie wegen. Man sieht ihr die Konjunkturschwankungen der Branche an. Die Bevölkerung Sehen Sie die TyreeGuyton-Bildstrecke auf www.kulturagenda.be
ZVG
schrumpft seit Jahrzehnten – die Strassen zeugen davon, so auch die Heidelberg Street, in der Tyree Guyton wohnt.
Eine Flut von Sinneseindrücken: Ausschnitt von Tyree Gytons Heidelberg-Projekt.
Wildes Grossstadtrecycling Vor 25 Jahren hat der Künstler angefangen, sie zu verschönern. Mit Farbkübeln, Stofftieren und weiterem Reyclingmaterial. Die unbekümmerte, wilde Grossrauminstallation soll Zuversicht spenden im afro-amerikanischen Vorstadtghetto. Detroit kämpft mit grossen sozialen Problemen; die Arbeitslosigkeit liegt bei 30 Prozent. Da wirkt die vor Lebensfreude sprühende Quartieraufhübschung umso kontrastreicher.
Der Stadt gefiel die Intervention zuerst überhaupt nicht, sie liess die Heidelberg Street räumen. Tyree Guyton nutzte die neuen Leerräume, indem er sie sogleich wieder füllte. Heute ist die Strasse ein Touristenmagnet und Guyton Ehrendoktor des College for Creative Studies in Detroit. Tom Blaess, der am Uferweg 11 in Bern seit Jahren ein Druckatelier führt, stammt selbst aus Detroit. Er hat Guyton nach Bern eingeladen und mit ihm zusammen Kunstdrucke gefertig. Die se sind zusammen mit einer Fotodokumentation über die Detroiter Kunststrasse in Blaess’ Atelier ausgestellt. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Druckatelier Tom Blaess, Bern Ausstellung jeweils Do. bis Sa., 14 bis 17 Uhr, So., 12 bis 17 Uhr Ausstellung bis 28.11. www.tomblaess.com
Theaterpädagoge und Regisseur Hanspeter Utz coacht das Theater Ararat, das im Tojo Theater «Ein Heimspiel» aufführt. (Do., 4.11., bis Sa., 6.11., 20.30 Uhr). 1. Rezital Urs Peter Schneider im Ono (Mo., 8.11., 20 Uhr) Schneiders Umgang mit Musik gefällt mir: Nicht nur das Beherrschen des Instruments ist wichtig, Geist und Körper der Musiker sind entscheidend. 2. «Ein Kind unserer Zeit» von Ödön von Horvath im Ono (So., 7.11., 18 Uhr) Ein Horvath-Zitat hat sich bei mir eingebrannt. Sinngemäss: «Ich habe keine Angst mehr vor dem Denken, seit mir nichts anderes mehr übrig bleibt. Auch wenn das Denken Wüsten hervorbringt.» 3. «1 m² Freiheit», Tojo (So., 7.11., 19 Uhr) Ein Theater im Rahmen der offenen Jugendarbeit Bern: Drei Jugendliche suchen ihren Weg, erwachsen zu werden. Jemanden, der nichts mit Jugendtheater am Hut hat, würde ich überzeugen… ... mit dem Argument, dass es eine Freude ist mitzuerleben, wie Regisseur Azad Süsem mit den jungen Schauspielern Gas gibt: authentische Energie der drei tanzenden und rappenden West-Kids!