Berner kulturagenda 2010 N° 46

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ZVG

N°46 Donnerstag bis Mittwoch 18. bis 24.11.2010 www.kulturagenda.be

«Bern kulinarisch»: Auf dem neuen Rundgang von StattLand gibts Wissen, Wein und Würstchen. Seite 3

Eine Familie unter der Last des Patriotismus: Unbeirrbar betrieb Rudyard Kipling (Gilles Tschudi, links) im Ersten Weltkrieg Propaganda.

Nobelpreis schützt vor Blindheit nicht Das Theater an der Effingerstrasse präsentiert mit «Vermisst (My Boy Jack)» eine Erstaufführung im deutschen Sprachraum. Das Drama beruht auf einer wahren Geschichte, Gilles Tschudi spielt die Hauptrolle. «Ich habe sofort an Gilles gedacht», sagt Regisseur Markus Keller, «diese Facetten kann nur er spielen.» Anders als in Fernsehserien wie «Lüthi und Blanc», wo Gilles Tschudi auf Bösewichte abonniert ist, tritt er im Theater an der Effingerstrasse mit Rollen an, die sonst einen Sean Penn reizen: komplexe, dramatische Figuren wie etwa der Kommissar aus Dürrenmatts «Versprechen». In «Vermisst» spielt Tschudi den Schriftsteller Rudyard Kipling. In unseren Breitengraden kennt man den Engländer, wenn überhaupt, als Schöpfer von Mowgli aus dem «Dschungelbuch». Dabei erhielt Kipling 1907 als erster Autor englischer Sprache den Literaturnobelpreis. Doch da Kipling den Kolonialismus befürwortete, geriet er in Verruf. Erst in den letzten Jahren

wurden sein Werk und vor allem der Roman «Kim» wiederentdeckt. Letzterer wird unter anderem für seine ethnologische Exaktheit in Bezug auf die Gesellschaften des indischen Subkontinents gerühmt. Die Ignoranz des Dichters Das Stück «Vermisst» zeichnet eines der grossen Dramen in Kiplings Leben nach, das er mit seinem Patriotismus selbst verschuldete. Weil sein Sohn Jack stark kurzsichtig war, wurde er am Vorabend des Ersten Weltkriegs für dienstuntauglich erklärt. Vater Kipling liess daraufhin seine Kontakte spielen, um den Siebzehnjährigen doch noch ins Militär zu schleusen. Dort bekleidete Jack bald einen höheren Posten – ganz zur Freude des Vaters, der unermüdlich Propaganda

gegen Deutschland betrieb. Doch nach der Schlacht in den Schützengräben von Loos galt Jack Kipling als vermisst. «Mich hat das erschüttert, dass ein hochintelligenter Dichter seine ganze Familie ins Verderben stürzt», erklärt Keller mit einer Leidenschaft, welche die Crew des Theaters an der Effingerstrasse auszeichnet. «Und der Wahnsinn ist: Das ist nicht erfunden!» Die Zeit des Ersten Weltkriegs beschäftigt den Regisseur, seit er in seiner Jugend Stanley Kubricks Film «Paths of Glory» gesehen hat. Wie eine griechische Tragödie Auf «My Boy Jack», wie «Vermisst» im Original heisst, wurde Keller über eine DVD aufmerksam. Der britische Schauspieler David Haig (man kennt sein Gesicht mit dem biederen Schnauz am ehesten aus dem Film «Four Weddings and a Funeral») hatte Kiplings Drama 1997 auf die Theaterbühnen gebracht. 2007 wurde der Stoff dann fürs briti-

sche Fernsehen verfilmt mit Haig, Daniel Radcliffe («Harry Potter») und Kim Catrall («Sex & The City») in den Hauptrollen. Keller liess das Stück übersetzen und verdichtete es auf eineinhalb Stunden Länge. «Wegen der grossen Bedeutung Kiplings in England hat Haig viele biografische Details eingebaut», sagt Keller. Ihn habe aber das Drama an sich interessiert, «das mit einer griechischen Tragödie vergleichbar ist. Wie Kipling so blind sein konnte, das lässt sich psychologisch einfach nicht erklären.» Keller inszeniert die Geschichte ebenfalls in der Zeit des Ersten Weltkriegs, «weil sie dort hingehört. Aber die Strukturen, denke ich, findet man heute beispielsweise auch bei Selbstmordattentätern.» Silvano Cerutti \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Theater an der Effingerstrasse, Bern Premiere: Sa., 20.11., 20 Uhr Weitere Daten bis 13.12. www.dastheater-effingerstr.ch

Ganz sanft geworden Die Neuenburger Folksängerin Olivia Pedroli machte sich als Lole einen Namen. Nach dem Wechsel des Produzenten setzt sie auf das Sanfte. Sie bleibt ein Hörerlebnis – und das gibt es bei Bee-flat zu geniessen. Mit der Rückkehr zu ihrem richtigen Namen unterstreicht Olivia Pedroli ihren Richtungswechsel. Im Vorgängerprojekt Lole mit Simon Gerber spielte sie schnellere Songs, war rockiger. Nun beschränkt sie sich auf die Zartheit. Das liegt nicht zuletzt am isländischen Produzenten Valgeir Sigurdsson, der bereits Björk oder Cocorosie betreute. Unter seinen Fittichen hat Pedroli einen grossen Schritt nach vorn gemacht, auch wenn das Rockige auf der Strecke blieb. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Turnhalle im Progr, Bern So., 21.11., 20.30 Uhr. www.bee-flat.ch

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3 Kulturtipps von Raphael Urweider

Raphael Urweider ist Dichter und Theaterschaffender. Er hat unter anderem die zweite Folge der Theatersoap «Schnäu und dräckig» geschrieben. «The Idea of Africa (re-invented)» in der Kunsthalle (bis 5.12.) Ich schaue mir diese Ausstellung an, insbesondere die Fotos von J. D. Okhai Ojeikere aus Lagos, weil dieser Künstler weiss, dass Frisieren auch Kunst sein kann. Theater Marie mit «Moby Dick» im Schlachthaus (Do., 18.11., bis Sa., 20.11.) Weil die dicksten Freunde nicht immer die besten sind. Strotter Inst., Toktek, Everest on tt im Rössli der Reitschule (Do., 18.11.) Weil Strotter mit Plattenspielern stottert wie andere mit fünf Jonglierbällen gleichzeitig.

Yann Mingard

«The Day» von Olivia Pedroli ist vermutlich der schönste Dreivierteltakt-Song, der dieses Jahr in der Schweiz auf Plastik gepresst wurde. Ein Song für den Radiowecker. Geige und Cello, Gitarre, Glockenspiel und eine helle Stimme streichen einem in dieser Reihenfolge wie der Frühling höchstpersönlich über die Wange. Es ist der zweite Song auf dem Album und er zeigt an, wie es weitergeht: mit ruhigen und sanften Songs, die ohne Perkussion auskommen. Dafür gibt es Bläser (mit der feinen Posaune von Jean-Jacques Pedretti) und Streicherinnen (hervorragend: Cellistin Barbara Gasser).

Als erster Schweizer hielt Jules Beck die Schönheit der Alpen fotografisch fest. Seine Bilder sind nun im Alpinen Museum zu sehen.

ZVG

Severin Nowacki

Schweizerisches Alpines Museum

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In ihren neuen Songs setzt Olivia Pedroli ganz auf eine zarte Folksongs.

Ich würde jedem, der sich ausschaffen lassen möchte, die Ausstellung «The Idea of Africa (re-invented)» empfehlen … … weil er dort genug kulturelle Gründe findet, die Schweiz zu verlassen und sich andernorts in eine Minderheit zu verwandeln.


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