Berner kulturagenda 2012 N° 6

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N°6 Donnerstag bis Mittwoch 9. bis 15.2.2012 www.kulturagenda.be

«Gute Nacht?» – Teil 3 der Serie zum Berner Nachtleben mit Sozialgeograf Christian Reutlinger. Seite 3

Stephan Bundi

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Andere plaudern aus dem Nähkästchen, sie macht es sich gleich darin bequem: die Clownin Gardi Hutter als ungeschickte Schneiderin.

Gardi Hutter gastiert mit ihrem neuen Stück «Die Schneiderin» im National. Während eines Gesprächs gestattet sie auch einen Blick hinter die Kulissen des Clownwesens. Gardi Hutters Clownfigur war schon Wäscherin, Souffleuse und Sekretärin, jetzt ist sie Schneiderin. Das sind lauter einfache Berufe. Hutter hat sie teils aus technischen Gründen gewählt, zum Beispiel weil sie viele Sprachbilder aufweisen, mit denen sie arbeiten kann. Bei der Schneiderei etwa wird der Lebensfaden von den Schicksalsgöttinen gesponnen und gekappt. Oder man möchte im Leben nichts «versäumen». Zudem sind diese Berufe auch mit Werkzeugen verbunden, die ihr auf der Bühne als «Spielzeug» dienen. «Und natürlich bin ich auch keine geschickte Schneiderin», sagt Hutter und lacht. Während die Requisiten wechseln, bleibt sich die Figur der Clownin Hutter im Charakter und optisch treu: Die erste weibliche Volksfigur des Genres Clown

ist ein gelegentlich rabiates, dickes Hippiegespenst mit Knollennase und ­Haaren wie ein Vogelnest. Dafür war Hutters Ziel bei «Die Schneiderin» noch ausgeprägter als sonst, «einen heiteren Abend zu machen, ohne ein Tabu auszulassen». Wenn Ihnen das zu bedrohlich klingt, lesen Sie hier nicht weiter. Das Stück ist auch ohne Hintergründe lustig. Schwierige Einfachheit «Manchmal ärgert es mich schon, wenn die Leute das Gefühl haben, ich sei einfach eine Lustige», gibt Hutter zu. Es sei zwar Absicht, dass es so wirke, doch es steckt jeweils ein Jahr harte Arbeit hinter einem Programm. «Als Clown spielt man auf einer archaischen Ebene», erklärt sie. Alles muss ohne Worte verständlich sein, damit es funktioniert,

und sehr traurig, damit Komik entsteht. Das Klischee vom traurigen Clown könnte im Interview aber nicht falscher sein. Hutter lacht und ist gedanklich mindestens so agil wie ihre Figur auf der Bühne. Wie so oft bei Pionierinnen und Pionieren hat sie sich eingehend mit ihrer Materie befasst. Spielleiter der Rituale Und die ist dramatisch, vorsichtig ausgedrückt. «Der Clown ist das Unglück und Scheitern in Person», gibt Hutter zu bedenken. «Für das Publikum ist es erlösend, wenn es jemandem noch schlechter geht als einem selbst.» Deshalb sind Clowns auch hässlich. Hutter empfindet das als befreiend: «Hässlichkeit ist nicht scheinheilig. Sie tut nicht so, als wäre die Welt perfekt.» Das ist jedoch nur die Oberfläche des Clowns. In ihren Ursprüngen sei die Figur weltweit ein Grenzgänger zwischen dem Reich der Lebenden und dem der Toten. Seine Aufgabe bei alten Ritualen war es, als

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Spielleiter zu fungieren und die Angst auszulachen. Das lässt die Coulrophobie in einem anderen Licht erscheinen, die krankhafte Furcht von Kindern vor Clowns. «Die Komik ist gegenüber dem Tod entstanden», sagt Hutter. «Er ist unabwendbar, man kann sich höchstens mit Humor noch ein wenig entspannen.» Deshalb versucht auch ihre Schneiderin bloss, vor dem Ende noch ein bisschen Zeit zu schinden. Klingt düster, ist aber klassisch Clown: «Nur die ganz grosse Katastrophe ist komisch. Der Clown ist die grösste Abstrahierung des Unglücks.» Sie verweist auf die Stummfilme von Charlie Chaplin oder Buster Keaton, die im Grunde genommen hoch tragisch seien. Und sie zitiert Samuel Beckett: «Nichts ist komischer als das Unglück.» Silvano Cerutti \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Theater National, Bern. Do., 9.2., 20 Uhr www.nationalbern.ch

Die Ausstellung «Wylerhüsli – Berns erste Arbeitersiedlung» erzählt im Kornhausforum von einer verschwundenen Berner Siedlung. Ihr liegt ein Buch des Berner Pressefotografen Andreas Blatter zugrunde.

Der in Bern lebende Hank Shizzoe ist einer der besten Roots-Rock-Songwriter und Gitarren­ stilisten weltweit. Für 2012 sind bloss zwei Band-Konzerte geplant, eines davon findet diese Woche in Köniz statt (Kulturhof, Schloss Köniz. Fr., 10.2., 20.30 Uhr).

2. Reto Camenisch, Andy Harper: «Looking Glass» in der Galerie Bernhard Bischoff (Ausstellung bis 18.2.) Weil mir Reto Camenischs Fotos immer Augen und Seele öffnen.

gewachsen. Nun hat er ihr das Buch «Wylerhüsli – Legendäres Arbeiterquartier im Berner Wylerfeld» gewidmet. In aufwendiger Recherche spürte Blatter Material zum Thema auf. Keine leichte Aufgabe, denn Fotografien gibt es nur wenige und Zeitzeugen nicht mehr viele. Das Resultat ist das liebevolle Porträt eines eindrücklichen Stücks Stadtgeschichte. Die Ausstellung im Kornhausforum folgt Blatters Buch. Sabine von Rütte

3. «Fitzcarraldo» im Kino Kunstmuseum (Mo., 13., und Di., 14.2., 20.30 Uhr) Herzog und Kinski – zwei Wahnsinnige machen einen Film über einen Wahnsinnigen. Muss man in seiner Wucht und Erhabenheit auf der Leinwand sehen.

ZVG

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Kornhausforum, Bern Vernissage: Mi., 8.2., 19 Uhr. Ausstellung bis 3.3. www.kornhausforum.ch

von Hank Shizzoe

1. James Gruntz in der Kufa Lyss (Do., 9.2., 20.30 Uhr) Anders als alle diese TV-«Talente» und Möchtegernpopstars kann James Gruntz wirklich singen.

Porträt einer Siedlung Gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschte in Bern akute Wohnungsnot. Die Lage war prekär, ganze Familien waren obdachlos und hausten im Bremgartenwald. Getrieben von der Angst vor Epidemien und politischen Unruhen, beschloss die Stadtregierung zu handeln: Im November 1889 begann sie mit dem Wohnungsbau im Berner Nordquartier und legte damit den Grundstein für die legendäre Arbeitersiedlung der «Wylerhüsli». Diese stehen heute nicht mehr, in den 1970er-Jahren mussten sie neuen Wohnblocks weichen. Der Pressefotograf Andreas Blatter ist selber neben der Arbeitersiedlung auf-

3 Kulturtipps

Silvia Moser

«Das Unglück und Scheitern in Person»

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Heidi Maria Glössner ehrt in einer musikalischen Lesung die Lyrikerin und Prosaautorin Erika Burkart, die dieses Jahr 90 geworden wäre.

Eine Arbeiterfamilie vor ihrem Heim im Wylerhüsli.

Jemanden, der Herzogs Werk nicht kennt, würde ich zu «Fitzcarraldo» überreden, … … weil dieser Film den besten Einstieg in das Schaffen eines der grössten Regisseure und Filmemacher unserer Zeit bietet.


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