Fabrice Nobs
Christoph von Viràg / Montage: bka
N°16 17. bis 23. April 2008
Collectif Barbare im Tojo Theater
Des Kurfürsten Prunkmantel und Kölner Chic der Barockzeit in der Abegg-Stiftung
Gar nicht lustig ist das Zigeunerleben in «Les enfants de Barbarie». In der vielschichtigen Performance wird der Verlust der Persönlichkeit durch verstörende Masken angedeutet.
Als die Herren bunter daherkamen als die Damen: In schwarzem Samt und goldgelber Seide kontrastiert das Prunkkostüm von Kurfürst Moritz von Sachsen (links). Das rote Männerwams aus Köln geht auf die Tradition der Spanischen Mode des 16. Jahrhunderts zurück.
Vom Zirkus ins Irrenhaus Dunkler Samt und goldgelbe Seide Das Collectif Barbare greift in «Les enfants de Barbarie» die Affäre «Kinder der Landstrasse» auf. Eine Musik-Theater-Performance über das tragische Schicksal der Fahrenden. «Les rituels barbares» war ihre erste Produktion, jetzt ist das junge Theaterensemble mit «Les enfants de Barbarie» zurück – beim Collectiv Barbare ist der Name Programm. Die erste Inszenierung handelte vom Gefühlsleben zweier Mörderinnen. Auch bei der aktuellen Inszenierung – einer Koproduktion mit dem Tojo-Theater – bringt Regisseurin Astride Schlaefli mit der Affäre «Kinder der Landstrasse» ein grausames Thema auf die Bühne: Das Schweizer Hilfswerk der Pro Juventute entriss von 1926 bis 1973 über 600 Kinder von Fahrenden ihren Eltern und brachte sie in Waisenhäusern, Erziehungsanstalten und psychiatrischen Kliniken unter. Erschreckende Zeitdokumente Von diesem schändlichen Kapitel Schwei zer Geschichte hörte Schlaefli erstmals vor drei Jahren. «Ich war schockiert, denn ich hatte in meiner gesamten Schulzeit niemals etwas vom dramatischen Schicksal der Fahrenden erfahren», erzählt sie im Gespräch. Die 29-jährige Bielerin begann zu recherchieren: führte Gespräche mit Vertretern der Dachorganisation der Jenischen in der Schweiz und traf die Schriftstellerin Mariella Mehr, selbst ein Opfer des Hilfswerks. Über das, was sie erfahren hat, kann sie nur den Kopf schütteln: «Nomadismus wurde als Krankheit angesehen, die Fahrenden wurden als geistig gestört abgestempelt, und die Kinder wurden zur Teufelsaustreibung von Nonnen geschlagen.» Beklemmendes Drama Ausgehend vom gesammelten Material, begann die Inszenierung Form anzunehmen. «Die Musik und die szenischen
Elemente entstanden zeitgleich», erzählt Schlaefli. Das Stück beginnt mit dem Klischee des heiteren Zigeunerlebens und Zirkusnummern, begleitet von einer marktschreierischen Stimme aus dem Off. Doch bald kippt die Stimmung: Erinnerungen an eine ärztliche Untersuchung des pädophilen Heimarztes und an Vorfälle in einer psychiatrischen Klinik flackern auf. Schlaefli hat diese beklemmenden Szenen mit Musik, mehrsprachigen Dialogen, projizierten Briefen, Filmausschnitten und Dias in eine vielschichte Klang- und Bildwelt gepackt. Komplexe Soundcollage Die Musik ist für die ausgebildete Pianistin von zentraler Bedeutung. Die fünf Darstellerinnen und der Darsteller – allesamt sehr talentierte Musiker, wie die Künstlerin betont – spielen solo oder im Ensemble Stücke von Bach, Lieder der Roma und Schweizer Volkslieder. «Zur Livemusik mische ich Klang ab Tonband», erzählt sie und deutet auf Ihren Laptop, der ein komplexes Klanggebäude aus mehreren Tonspuren zeigt: Ob diffuse Kinderstimmen oder das Geräusch vom Schleifen von Schlittschuhen – beim Einsatz von Tönen geht Astride Schlaefli ungewohnte Wege. Die Frage, was die Fahrenden selbst davon halten, dass ihr Schicksal künstlerisch umgesetzt wird, stellt die Regisseurin vor ein Rätsel: «Sicher ist einzig, dass diese traurige Geschichte weitererzählt werden muss.» Nadine Guldimann \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Les enfants de Barbarie Tojo Theater der Reitschule Mi., 16., Do., 17., Fr., 18. und Sa., 19.4., 20.30 Uhr. www.tojo.ch
Die Abegg-Stiftung in Riggisberg zeigt mit «Bürgerstolz & Fürstenpracht» seltene Kleidungsstücke aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Inmitten dieser Kostüme des Kölner Grossbürgertums ist eine vollständige Prunkrobe von Kurfürst Moritz von Sachsen zu bestaunen. Kleider machen Leute. Das gilt heute – vor 350 Jahren galt es erst recht. Welche zierliche Dame das rosarote Mieder irgendwann zwischen 1630 und 1635 getragen hat, wissen wir nicht. Ebensowenig kennen wir den Träger des prächtigen elfenbeinfarbenen Männerwamses mit Spitzenbesatz und Posamentenknöpfen, das wohl zwischen 1660 und 1665 in England genäht wurde. Doch sie verraten uns viel über hohe Schneiderkunst, raffinierte Dekorationen und modische Eskapaden. Die Träger gehörten der Kölner Oberschicht an, reichen Patrizierfamilien, die auch die Mitglieder des Rates der Freien Reichsstadt Köln stellten. Raritätensammler Baron von Hüpsch Dass wir mehr als 350 Jahre später diese überaus fragilen Zeugen barocker Handwerkskunst bewundern können, ist einem Kölner Sammler zu verdanken, der sich (nach seiner Grossmutter) Baron von Hüpsch nannte. Der Sammler und Universalgelehrte Jean Guillaume Adolphe Fiacre Honvlez, wie Hüpsch tatsächlich hiess, lebte von 1730 bis 1805 und trug eine umfangreiche Sammlung von Kunstwerken und Kuriositäten zusammen. Sein Kabinett zu besichtigen, galt im 18. Jahrhundert als touristische Attraktion der Domstadt. Eine der letzten Besucherinnen von Hüpschs Sammelsurium war Kaiserin Joséphine, die Gattin von Napoléon. Nach Hüpschs Tod landete der Grossteil der Sammlung in Darmstadt und bildete den Grundstock zum Hessischen Landesmuseum. Vorschriften kreativ umgangen Während heutzutage Popstars und Filmschauspieler Trends setzen, gefiel sich
das Bürgertum im Barock darin, dieselbe Mode wie der Fürstenhof zu tragen. Allerdings setzte eine strenge Kleiderordnung Grenzen: Gemusterte Stoffe waren den Herrschenden vorbehalten, ebenso die Verwendung von Metallfäden aus Gold und Silber. Mit Fantasie und Geschick wurden diese Regeln umgangen: Aufgenähte Bänder oder kleine Schnitte, deren Säume ausfransten, ergaben die gewünschten dekorativen Muster. Absichtliche Schnitte, die ausfransen – sie waren vor 350 Jahren ebenso «in» wie im Jeanslook der Jahrtausendwende … Zu sehen sind in Riggisberg fischbeinverstärkte Mieder mit abstehenden Schossteilen, spitzenbesetzte Männerwämser und Leibröcke mit weit ausschwingenden Schössen. Aufwändiger Zierrat wie Stickereien, üppiger Schlaufenbesatz an den Manschetten und zahlreiche Knöpfe veredeln die Gewänder zusätzlich. Typisch auch die durchbrochenen Ärmel, unter denen bauschige weisse Hemden und weite Halskrausen hervorlugten. Mit Polsterungen, Einlagen und raffinierter Nähtechnik wurden dreidimensionale Formen modelliert, die perfekt und faltenfrei am Körper sassen und für ausgewogene Proportionen sorgten. «Diese Kleidungsstücke passen sich dem Träger kaum an, sie sind sehr präzise auf die Person zugeschnitten, die sie trägt», führt Catherine Depierraz, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abegg-Stiftung, aus. Jahrelange Restaurationen Alle Exponate wurden der Abegg-Stiftung zur textilwissenschaftlichen Untersuchung und sorgfältigen Restauration anvertraut. Die Originale wurden gereinigt, alle Ober-, Futter- und Einlagestoffe
und Nähte genau untersucht. Daraufhin wurde jedes Stück kopiert. Der aufwändigste Teil bestand darin, für jedes einzelne Stück einen massgenauen Ständer herzustellen. Moritz' Lederhose und Prunkmantel Ein mehrteiliges Prunkkostüm veranschaulicht die extravagante Hofmode des 16. Jahrhunderts, die man sonst in dieser Vollständigkeit nur von Gemälden, zum Beispiel von Hans Holbein oder Tizian, kennt. Das Kostüm gehörte Kurfürst Moritz von Sachsen (1521–1553) und ist heute im Besitz der Rüstkammer in Dresden. Blickfang des Ensembles ist der sogenannte Rock, eine Art Kurzmantel, der in dichte Falten gelegt und mit modischen Puff- und Hängeärmeln ausgestattet ist. Allein für diesen Mantel wurden 6 Meter kostbare italienische Seide verarbeitet. Ein gelbes Seidenwams, eine bauschige Kurzhose und gelbe Lederstrümpfe vervollständigen die repräsentative Fürstenkleidung. Viel zu schmunzeln bei den Restauratorinnen gab das in die Lederstrümpfe eingenähte Kompartiment für das Gemächt des Kurfürsten. Das Ensemble ist das älteste vollständig erhaltene Prunkkostüm der Renaissance. Kurfürst Moritz war – trotz seiner gerade mal 164 Zentimeter Länge – ein grosser Mann. Er hat den Augsburger Religionsfrieden gestiftet und Dresden zur Hauptstadt Sachsens gemacht, sodass man beschloss, seine Kleider für die Nachwelt aufzubewahren. Ein Glück für die Neugierigen von heute. Christoph Hoigné \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Abegg-Stiftung, Riggisberg. 20. April bis 2. November. www.abegg-stiftung.ch