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Richard de Stoutz
Christoph Hoigné
N°35 Donnerstag, 28. August, bis Mittwoch, 3. September 2008
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12. Berner Poesienacht
Open Air-Konzert des BSO auf dem Bundesplatz
The Apples im Dachstock der Reitschule
Heidi Maria Glössner liest Gedichte und Geschichten im Botanischen Garten.
Freier Himmel statt Stukkaturen: Das Berner Symphonie-Orchester (BSO) spielt auf dem Bundesplatz Stücke von der West Side Story bis hin zum Tango.
Schlagzeuger Yonadav Halevy (vorne) und seine Band, fürs Foto in Hippielaune, haben gut abgewogen zwischen Funk und Big Band.
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Lebenselixier Klassik schnappt Frischluft Blecherne Kratzbürsten Wasser ist das Thema der 12. Berner Poesienacht mit Heidi Maria Glössner im Botanischen Garten.
Bekannte Musical-Melodien und Rhythmen aus Südamerika – am diesjährigen Open Air-Konzert provoziert das Berner Symphonie-Orchester Hüftschwünge. Ein aussergewöhnlicher Saisonstart auf dem Berner Bundesplatz – und ein Musenkuss im Casino.
Sie verzichten auf Gesang und einen originellen Bandnamen, fahren aber mit Bläsern und Turntables in die Beine: The Apples sind Israels Instrumental-Export schlechthin. Und trotz ganz anderem Härtegrad dürfte sogar Rage Against the Machine neidisch werden.
Der Blick schweift über das glitzernde Azurblau, verweilt am verwitterten Sarazenenturm und verliert sich am Horizont zwischen Himmel und Ionischem Meer. Heidi Maria Glössner sitzt vor dem umgebauten Ziegenstall und geniesst Weite, Wärme und Sonne. Vor sich hat sie Gottfried Kellers Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe», eine ihrer Lieblingsgeschichten, wie die Grande Dame des Berner Theaters verrät. «Sie ist so wunderbar traurig und liebevoll geschildert.»Die vielbeschäftige Schauspielerin gönnt sich in Kalabrien ein paar Tage Ferien, und vertieft sich in Texte, die sie an der Berner Poesienacht vorlesen wird.
«Musemüntschi?» – Ob da wohl die Muse den Künstler knutscht? An diesem Begriff hätten die Gäste in der TV-Sendung «genial daneben» wohl zu beissen. Die Antwort ist weniger romantisch als erwartet: Die fünf grossen Berner Kulturhäuser danken der Stadt und den umliegenden Gemeinden für die finanzielle Unterstützung, jedes mit einem speziellen Anlass zu freiem Eintritt. Das Berner Symphonie-Orchester (BSO) öffnet seine Tore und lädt zur öffentlichen General probe mit anschliessendem Gespräch mit dem Chefdirigenten und dem Solisten (Sa., 30.8., 9.30 Uhr). Sich öffnen und volksnah zeigen – dies ist auch das Ziel des Open-Air-Konzerts.
Eine Ahnung von Tuten und Blasen hat die Band durchaus: Die israelischen Apples sind im Gehäuse ein Bläsersatz. Posaune, Trompete und zwei Saxofone geben den Ton an, und der schwingt irgendwo zwischen den Frequenzen Funk und – obwohl nur ein Quartett – Big Band. Auf der Bühne stehen aber vier weitere Musiker, und die sind ebenfalls mit einigen Wassern gewaschen: Sie machen aus Blech Gold.
Ganz schön und ganz schön grausam Texte über die Schönheit des Wassers, aber auch über Unwetter oder den Tsunami. Manche enden so tragisch wie Kellers «Romeo und Julia», die ein Heuschiff zu ihrem Hochzeitsbett wählen. «Als es sich der Stadt näherte, glitten im Frost des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden, herunter in die kalten Fluten.» Der Literaturkritiker Charles Linsmayer hat die Gedichte und Geschichten ausgesucht, die Glössner und ihr Kollege Klaus Degenhardt zum Besten geben, sanft umspült von den Akkordeonklängen des Tastenvirtuosen Christian Brantschen. Die Poesienacht ist für die Wahlbernerin ein Heimspiel: Sie wohnt einen Steinwurf vom Botanischen Garten entfernt und liebt es über alles, im Herbst das Laub des Ginkgobaumes zu betrachten. Christoph Hoigné \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Botanischer Garten, Bern. Mi., 3.9., 20 Uhr
«Klassik – nein danke»? «Zu teuer, zu chic, zu anspruchsvoll – langweilig!» Spätestens beim Spiel unter freiem Himmel verlieren die gängigen Vorurteile der klassischen Musik gegenüber weitgehend ihre Berechtigung. Wie jedes Jahr verlässt das BSO seine «heil’gen Hallen», um sich dem Berner Volk auf dem Bundesplatz als Stadt orchester zu präsentieren. Statt Stillsitzen in eleganter Robe ist dem Publikum lockeres Mitwippen in Jeans und T-Shirt erlaubt. Auch zustimmendes Pfeifen am Ende des Stücks ist für einmal nicht fehl am Platz. Mit modernen Werken der zeitgenössischen Klassik – darunter wohlbekannte Melodien – will das Orchester an Gehörgänge klopfen, die der klassischen Musik für gewöhnlich verschlossen bleiben. Unter dem Titel «The Americas» nimmt das BSO mit auf eine Reise vom Nord-Kontinent in den temperamentvollen Süden, nach Argentinien.
Angefangen mit dem Musical «An American in Paris», einer Hommage des amerikanischen Komponisten George Gershwin an das Paris der 20er-Jahre mit Jazzelementen und Soundeffekten (beispielsweise typischen Taxi-Hupen, die Gershwin damals eigenhändig von Paris mitbrachte). Beim zweiten Werk erhebt das Orchester die Instrumente zu Melodien, die die Welt eroberten: Leonard Bernsteins «West Side Story». Vom New York der 50er-Jahre mit puertoricanischen Anleihen geht die Reise weiter direkt in die südamerikanische Metropole Buenos Aires – die Heimat des Tangos. Der argentinische Bandoneon-Spieler und Komponist Astor Piazolla hat traditionellen Tango mit neuartigen Klängen vereint und gilt als Begründer des Tango Nuevo. Bei diesen Rhythmen wird das BSO von Solist Per Arne Glorvigen unterstützt. Der Norweger zählt zu den «Top-Bandoneonisten der Welt», wie Andrey Boreyko versichert. «Er ist der Beweis, dass nicht nur Argentinier was vom Tango verstehen», sagt der Chef dirigent. Mit dem Ballett «Estancia» von Alberto Ginastera, der argentinische Folklore mit moderner klassischer Musik mischte, beendet das BSO seine musikalische Reise. Dem ursprünglich am gleichen Abend angekündigten Botellón auf dem Bundesplatz steht das BSO gelassen gegenüber. Zuhörer aus allen Sparten werden begrüsst, auch mit einem Sixpack unter dem Arm. Mariana Raschke \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Konzert: Bundesplatz, Bern Sa., 30.8., 19.30 Uhr www.bernorchester.ch
Plattenspieler sind auch Instrumente Zwei mal zwei Turntables kratzen in guter Old-School-Manier einen guten Schuss Leichtfüssigkeit in das Tanzparkett. Die Omnipräsenz und das Wechselspiel der beiden DJs ist aufregend. Hier haben Plattenspieler den Stellenwert von Musikinstrumenten. «Andere setzen Scratches neben Liveinstrumenten ein, wir nehmen die Turntables in deren Mitte», sagt der Schlagzeuger und Kopf der Band, Yonadav Halevy. Dies ist auch auf der Bühne unschwer zu erkennen: Die zwei DJs werden linkerhand von den Bläsern und rechts von Bass und Schlagzeug umrahmt. Das Gros der Apples-Musiker stammt aus Haifa, die anderen lernten die Nordisraeli an den Musikhochschulen von Jerusalem und Tel Aviv kennen. Volle Häuser ohne Sänger In ihrer Heimat Israel sind The Apples erfolgreiche Funk-Helden, die mittlere Konzertsäle locker füllen. «Das ist beispiellos für eine Instrumental-Band», meint Yonadav Halevy stolz. Genau, eine Sängerin oder ein Sänger fehlt, und auf die Frage, ob er nicht eine Stimme ver-
misse, meint Halevy, der Frage längst überdrüssig: «Nein, uns geht es ganz gut, danke.» Die Band wird am israelischen Radio gespielt und ist im Fernsehen zu sehen – und dennoch haftet der Underground-Kleber noch immer. Auch die Briten mögen Äpfel Das liegt zweifelsohne an der stimmfreien Besetzung und dem innovativen Stil, aber auch am Manager der Band, Zack Bar. Er hat in London das erste Album der Israeli den dortigen DJs zugesteckt, und nun fahren auch Englands Clubgänger gehörig auf die Äpfel ab. Die Band, die nach den Lieblingsfrüchten von Halevy benannt ist, hat neben eigenen Songs ein paar leckere Covers anzubieten. «Killing in the Name» musste schon viele mässige bis mittelprächtige Bearbeitungen über sich ergehen lassen. Die Version von den Apples droht das Original von Rage Against the Machine aber in den Schatten zu stellen. An der Stelle, wo bei Rage die Stimme einsetzt, ahmen die Turntables diese im Dialog nach – Scratchkunst, die einen ungläubig zurücklässt. Im Dachstock spielen die Freunde der gepflegten Frucht ihr erstes Schweizer Konzert. Die Konzertsaison startet vielversprechend, auch für die lorraine-, eichholz oder marziligefaulten Tanzbeine, die sich bei dieser Beschallung ohne Weiteres zurück in alte Form zappeln werden. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Vorband: Freak Soundsystem (Bern) Dachstock der Reitschule, Bern Fr., 29.8., 22 Uhr www.dachstock.ch