Berner kulturagenda 2008 N° 36

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Philipp Zinniker

N°36 Donnerstag, 4., bis Mittwoch, 10. September 2008

«Les Contes d’Hoffmann» im Stadttheater Bern

Faust in der Dampfzentrale

Frauen machen Männer dann und wann ganz schön verrückt. Bei Hoffmann (Fabrice Dali, weiss im Bild) sind es gleich deren vier, die zum Teil nicht einmal existieren.

Sie waren in den 70er-Jahren Ingenieure der taktlosen Tüftelei und Synthesizer-Musiker der ­ ers­ten Stunde – von der «Ur-Faust» ist nur noch Hans Joachim Irmler (rechts) geblieben.

Hirngespinste eines Liebesträumers Lärm macht Geschichte In der Oper von Jacques Offenbach trifft Titelheld Hoffmann auf verschiedene Frauen, die sich alle letztlich als trügerische Traumbilder entlarven, als Facetten seiner einstigen Geliebten. Zuletzt bleibt ihm nur die Muse. Ob sie ihn wachzuküssen vermag?

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Eine seelenlose Puppe, eine sensible Künstlerin und eine berechnende Kurtisane bringen Verderben oder bleiben unerreichbar für den unglücklich in eine Sängerin namens Stella verliebten Hoffmann. Der Held pendelt zwischen einer realen und einer fantastischen Welt und kann bald nicht mehr zwischen diesen Polen unterscheiden. Diese kaleidoskopischen Liebesträume setzen sich aus drei verschiedenen Erzählungen von E.T.A. Hoffman (1776–1822) zusammen: «Der Sandmann», «Rath Krespel» und «Abenteuer in der Silvesternacht». Der französische Komponist deutsch-jü-

Stadttheaterfest Mit dem Stadttheater die neue Spielzeit feiern: Am Sonntag, 7.9., lassen sich die Theater­leute in den Vidmarhallen bei der ­Arbeit über die Schulter schauen (14 bis 18 Uhr) und anschliessend wird das Stadt­theater am Kornhausplatz zum Ballhaus (ab 18 Uhr, freier Eintritt).

discher Abstammung Jacques Offenbach (1819–1880) kreierte daraus eine fantastische Oper in fünf Akten, die bis heute zu den meistgespielten gehört. Das 1881 in Paris uraufgeführte Spätwerk Offenbachs blieb aber ein Fragment, da der Komponist vor der Fertigstellung seiner erfolgreichsten Oper verstarb. Das bedeutet eine Herausforderung für jeden Regisseur, aber auch die Chance, die «Lücken» mit eigenen Ideen zu füllen. Stringenz statt Spezialeffekte Der erst 34-jährige Regisseur Johannes Erath inszeniert Offenbachs Oper am Stadttheater Bern. Er hat soeben den Götz-Friedrich-Regiepreis für seine Inszenierung von Massenets «Cendrillon» erhalten. Erath will in die von ihm zum Teil als «geschwätzig» empfundene Oper Stringenz hineinbringen. «Fantastik ist für mich vor allem etwas, das im Kopf entsteht. Es braucht nicht so viel Äusser­ liches, um Hoffmanns Hirngespinste dar­zustellen», ist Erath überzeugt. Die Bühne ist zwar spektakulär mit klaustrophobisch wirkenden Architekturelementen gestaltet, die jeglicher Logik widersprechen, aber die grossen Bühnendrehungen und Spezialeffekte werden ausbleiben. Erath dazu: «Für mich besteht die Herausforderung darin, das Abdriften der Figuren darzustellen. Das eigentliche Thema ist der Liebes-, Lebens- und Kreativitätsverlust Hoffmanns.» Auch um Schein und Sein geht es in dieser Oper. Wie immer bei E.T.A. Hoffmanns Geschichten haben die Figuren Doppelexistenzen. Sie wechseln ihr Gesicht, je nachdem, wo sie sich befinden: in der realen oder in der fantastischen

Welt, in die man durch Rausch oder Wahnsinn gelangt. So wird ein harmloser Nachbar zum bösen Zauberer oder ein Roboter zur aufmerksamen Geliebten. Diese Verwandlungen geschehen oft schleichend, was die Sache umso unheimlicher macht: Nicht umsonst nannte man den Schriftsteller den «Gespenster-Hoffmann», und auch um Offenbachs Oper kursierten wilde Gerüchte, wie etwa die Vorstellung, dass bei diesem Stück dämonische Kräfte am Werk seien. Die eifersüchtige Muse In Bern spielt und singt der Tenor Fabrice Dalis den Hoffmann. Der uninspirierte Schriftsteller ist verheiratet mit der Muse Nicklausse (von Mezzosopranistin Claude Eichenberger dargestellt). Sie ist zutiefst menschlich, eine eifersüchtige Frau, die nicht mehr in der Lage ist, ihren Mann zu inspirieren, und zuschauen muss, wie er seinen Liebschaften erliegt. Der reale Aspekt ist Johannes Erath wichtig. «Ich wollte das Stück näher an ‹uns› ranbringen», erörtert er. Für die musikalische Leitung ist Srboljub Dinic verantwortlich. Trotz eigenwilliger Ideen wird in der Inszenierung die berühmte Spiegelarie nicht fehlen: im vierten Akt, als Kurtisane Giulietta, gierig nach Dia­ manten, einem Bösewicht verspricht, ihm das Spiegelbild Hoffmanns zu verschaffen. Dieser willigt aus blinder Liebe ein, was ein böses Ende nimmt. Die Musik ist so kontrastreich wie die Handlung selbst: Expressive Dramatik wird von parodistischen Solostücken durchbrochen. Stimmungs- und Blickwechsel ergeben ein verrücktes Vexierspiel. Helen Lagger \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Stadttheater Bern Premiere Sa., 6.9., 19.30 Uhr www.stadttheaterbern.ch

Die Krautrock-Pioniere von Faust waren zwar nie Rocker, doch es erging ihnen nicht anders als ebensolchen: viel Krach auf der Bühne, Krach mit dem Plattenlabel und zuletzt Krach untereinander. Eisenteile und Instrumente verstellen die Bühne. Schlagobjekte, Synthesizer, Gitarren und allerlei Gestänge füllen jeden Fussbreit aus. Es wummert, klirrt und bebt in epischer Länge, wenn Hans Joachim Irmler, Lars Paukstat, Steven Wray Lobdell, Jan Fride und Michael Stoll in ihrer Musik versinken. Die Künstler bewegen sich im Dickicht von psychedelischen Klängen und durch den Urwald der umherstehenden Geräte. Fast wie damals, in den 70er-Jahren. «Wir veranstalten immer noch eine Materialschlacht, aber es ist nicht mehr ganz so schlimm», lacht Hans Joachim Irmler schallend in den Hörer, der Orgelmann der fast schon historischen KrautrockBand, «wir haben eben Spass am Lärm und am Metall.» Zeitgenössisch taktloser Anarchismus Die Songs von Faust haben weder Strophen noch Refrain, sie haben einen Anfang, nehmen aber fast kein Ende. Darf man sie überhaupt Songs nennen? Diese nach intensiven Drogenerlebnissen klingenden Musikstücke sind Meilensteine der zeitgenössischen Musik. Sie entbehren jeglicher Normen, kennen keine notierte Form und schon gar keine Taktstriche. Anarchie pur. Ihre Genrebezeichnung «Krautrock» hat sich (und anderen Bands dieser Zeit) Faust mit ihrem gleichnamigen Stück in den frühen 1970er-Jahren selbst eingebrockt. Schnell hat der Begriff jegliche Kontur verloren, weil alsbald allerlei Rockmusik aus Deutschland hier eingeordnet wurde – ein grosses Missverständnis. Der Titel des Songs «Krautrock» war ironisch gemeint. Die abschätzige an-

gelsächsische Zweite-Weltkrieg-Bezeichnung «Krauts» für die Deutschen war schon in den 70er-Jahren überholt, «und Rockmusik haben wir nie gemacht», sagt Hans Joachim Irmler. Nicht nur fürs kulturhistorische Begriffslexikon war Faust massgebend, die Band hat auch einen Grundstein für die Plattenfirma gelegt, die heute zu den Majorlables zählt: Virgin. Bereits nach dem Album «Faust IV» (mit «Krautrock») verkrachte sich Faust mit dem aufstrebenden Label und verschwand sang- und klanglos von der Bildfläche. Bis die Band wieder zu Auftritten zusammenfand, dauerte es etliche Jahre. Eine Band, schlimmer als eine Ehe Mit Hans Joachim Irmler tritt der einzig Übriggebliebene der damaligen Formation in der Dampfzentrale auf. Faust hat nicht nur einige Comebacks, sondern auch ein gröberes Zerwürfnis hinter sich. Vor zwei Jahren verkrachte sich Irmler mit Jean-Hervé Péron (dem Gitarristen der Ur-Faust) dermassen, dass er seither «nur noch über den Anwalt» mit ihm zu tun hat, weiter geht er nicht auf den Streit ein, bemerkt nur: «Eine Band ist schlimmer als eine Ehe.» Nur wer sich zu gut kennt, kann sich auch richtig leidenschaftlich verkrachen. Jean-Hervé Péron spielt heute zusammen mit Zappi Diermaier Konzerte, dem Schlagzeuger und Kopf der 70er-Jahre-Faust. Auch Péron und Diermaier treten noch immer unter diesem Namen auf. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Dampfzentrale, Bern Mo., 8.9., 21 Uhr www.dampfzentrale.ch


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