Berner kulturagenda 2008 N° 42

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Pia Neuenschwander

ZVG

Marc Domage

N°42 Do., 16., bis Mi., 22.10.2008

Festival «Tanz In. Bern» in der Dampfzentrale

Pete Philly und Perquisite im Bierhübeli und im Kofmehl

Xenia Zampieri bei Be-Jazz

Bette Davis oder Marlene Dietrich? Eine Diva, die uns über ihre Person im Ungewissen lässt, stellt die Tänzerin Claudia Trozzi in der Performance «(not) a love song» dar.

In Amsterdam haben sie sich vor acht Jahren kennen gelernt, Piet Perquin (Perquisite, links) und Pieter Monzon (Pete Philly), und machen seither erfolgreich gemeinsame Sache.

Mit ihrer Band X-Force hat die Jazz-Sängerin alle Mittel, den «inner coward» zu bekämpfen.

Tanz in der Geisterbahn Im Duo über den Deich Krieg! Vom Tanztheater bis zur abstrakten Performance – das Festival «Tanz In. Bern» zeigt die ganze Palette. Viele der beteiligten Choreografen beschäftigen sich mit Vergangenheit, die sich mal schmerzhaft, mal mythisch verklärt manifestiert.

Sie durchtränken Hip-Hop mit Jazz und Cello. Pete Philly und Perquisite haben damit in den Niederlanden Heldenstatus erreicht und streben nun mit ihrem neuen Album «Mystery repeats» nach Resteuropa.

Wenn Xenia Zampieri mal den inneren Schweinehund überwindet, macht sie gleich ein grosses Album.

Das Wort «Tanzen» kommt aus dem Germanischen und bedeutet «sich hin und her bewegen». Tanzen kann ein Schiff auf den Wellen, ein Kind auf der Nase seiner Eltern oder die Buchstaben vor unseren Augen. Kein Wunder, gehört die Kunstform zu derjenigen, die sich am schwierigsten von anderen Sparten abgrenzen lässt. Schliesslich kann sich auch ein Schauspieler, eine Videoprojektion oder eine Skulptur hin und her bewegen und demnach einen Tanz vollführen. Festivalleiter Roger Merguin, der für «Tanz In. Bern» sechzehn Produktionen zusammengestellt hat, verspricht, einen konzentrierten Blick auf die europäische Szene zu werfen und auszuloten, was zeitgenössischer Tanz alles sein kann. Dabei hat er sich vom langjährigen Erfolg der Berner Tanztage inspirieren lassen, ohne sie zu kopieren. Jeweils vor und nach den einzelnen Vorstellungen können die Besucher auf dem Areal der Dampfzentrale eine ausrangierte Geisterbahn besuchen. Statt einem Tanz der Vampire bekommt man hier Performances dreier Gruppen zu sehen, die sich mit dem Thema Angst auseinandersetzen.

Was kann Holland? Holland hat Candy Dulfer, das Saxofongenie, und Within Temptation, die DJ-Bobos der MetalSinfonie. Das sind zwei beständige Werte, anders als der dritte Exportartikel des Landes, die Tulpen. Bis anhin hat das Land noch nicht besonders mit der Ausfuhr interessanter Hip-Hopper geglänzt, doch schwappt auch solcherlei bald über den grossen Deich. Alles andere wäre ungerecht vom Musikgott, wenn es ihn denn gibt. Pete Philly und Perquisite haben sich in den letzten Jahren in den Niederlanden zu Superstars konzertiert, füllen mit ihrer jazzigen Sprechsgesangskunst die gros­ sen Hallen, stürmen die Charts, sind für ihr Land nominiert an den MTVMusic-Awards. Ihre jetzige Europatournee ist nicht die erste, doch nun werden die Säle grösser.

ner. Im Refrain sind die Stimme von Philly und das Cello von Perquisite im Vordergrund, dazu der Drumcomputer, der auch auf der Bühne nicht zu Fleisch und Blut wird, obwohl das meiste live gespielt wird: mit Saxofon, Bass, Keyboards und DJ. «Unsere Musik braucht einen beständigen Beat», erklärt Perquisite, der neben dem Cello die vorproduzierten zuverlässigen Drums bedient.

So rockig war Be-Jazz wohl noch nie. Mit verzerrten Gitarren (Nick Perrin), hartem Schlagzeugsolo (Simon Fankhauser), Explosionsgeräuschen vom Keyboard (David Bokel) kämpft Sängerin Xenia Zampieri gegen den inneren Schweinehund – «Fighting the Inner Coward» heisst ihr erstes Album.

Konfrontation mit dem Schmerz Furcht einflössend ist auch die stark autobiografische Performance «Loin» von Rachid Ouramdane, einem Franzosen algerischer Herkunft. Zwei Spiegel in Form von Blutlachen bilden seine Bühne, aus einem Lautsprecher ertönt die Stimme der Mutter Ouramdanes, die in einem Interview zu politischen Fragen Stellung bezieht. Die Bewegungen des Tänzers durchzucken seinen Körper

wie Schocks, die die schmerzhaften Erinnerungen und Konfrontationen mit der Vergangenheit versinnbildlichen. Der Vater Ouramdanes war Soldat in Frankreichs ehemaliger Kolonie Indochina. Anhand eines Kriegstagebuches besuchte Ouramdane die Orte, die sich auf der Reiseroute seines verstorbenen Vaters befanden, und sammelte dort, gemeinsam mit einem Videofilmer, Material in Form von Interviews. Erinnerung an einen Mythos Auch die japanische Choreografin Olga de Soto dreht mit ihrem Stück «Histoire(s)» das Rad der Zeit zurück. Ihr Projekt ist, genau wie Ouramdanes Auftritt, gleichzeitig eine choreografische Inszenierung und eine dokumentarische Videoperformance. Darin beschwört sie das Nachkriegs-Paris von 1946 herauf. Zu jener Zeit sorgte die Premiere von Jean Cocteaus Ballett «Le jeune homme et la mort» aufgrund expliziter Erotik für Furore. Olga de Soto reaktiviert die Erinnerungen daran. Von einer scheinbar glamourösen Vergangenheit erzählen die Diven in Alain Buffards Produktion «(not) a love song». In dieser Tanzperformance bleibt der Zuschauer im Ungewissen, mit wem er es zu tun hat. Die Protagonistinnen geben vor, einmal grosse Stars gewesen zu sein. Doch die Realität ist eigentlich grau, und ihr entfliehen sie mithilfe der Musik. Tanzen und Träumen werden eins. Helen Lagger \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Dampfzentrale, Bern Mi., 15.10., bis So., 2.11. www.dampfzentrale.ch

Heisere Stimme, Cello und Drumcomputer In «Fish to Fry» rappt Philly mit heiserer Stimme in Oldschool-Manier, ein Klavier klimpert sich frei wie ein Fisch durchs Fahrwasser des flotten Songs. Im gesungenen Refrain zeigt der Rapper, dass er auch mit den Melodien umgehen kann. Eine Riesenhand voll Jazz ist auf der ganzen Platte unverkennbar, dazu kommt ein wenig von allem. Reichhaltiges Arrangement an reduziertem Beat ist das Rezept des Duos, charakteristisch ist auch das Cello von Produzent Perquisite. Das Titelstück, «Mystery Repeats», ist das stärkste der Platte. Pete Philly sinniert, wie es wäre, wenn er nicht auf Produzent Perquisite getroffen wäre, es hört sich an wie eine Liebeserklärung an seinen Arbeitspart-

Tja, die Schweizer Berge ... Eine Frage drängt sich auf: Was macht dieses Solo-Cello im Hiphop? Perqui­site war gemäss eigener Aussage ein sehr talentierter Celloschüler, dessen Lehrer es gerne gesehen hätte, wenn er das Konservatorium besucht hätte. «Doch ich hatte mich für ein klassisches Studium schon zu fest mit der Hip-Hop-Musik beschäftigt», sagt Perquisite, der eigentlich Piet Perquin heisst. Stattdessen hat er Architektur studiert, aber letztlich vielmehr Beats als Häuser gebaut. Ihre flache Heimat haben die beiden längst in der Tasche, nun freuen sie sich auf die nächste Herausforderung, den deutschsprachigen Raum. Gänzlich unbekannt ist das Duo der hiesigen Kopfnickergemeinde beileibe nicht. Gurtengänger berichten von einem exquisiten Konzert diesen Sommer. Und Perqui­ site berichtet von einem «hübschen Festival oben in den Schweizer Bergen». Ts, Holländer! Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Bierhübeli, Bern. Do., 16.10., 21 Uhr www.bierhuebeli.ch Kofmehl, Solothurn Fr., 17.10., 19.30 Uhr

Der Feind ist in uns drin! «Ich bin produktiver, wenn ich einem roten Faden folgen kann», begründet Zampieri ihr Themenalbum. Sie ficht von Anfang bis zum Ende, von den «Marching Orders» bis «I win anyway» einen Kampf gegen diesen BlockadenBastard, den wir alle kennen. Bei Xenia Zampieri macht er sich zum Beispiel beim Sport bemerkbar. «Das Gute am Kampf mit dem inneren Schweinehund ist, dass man immer gewinnt», sagt sie. Einleuchtend: Er ist ein Teil von uns, also geht auch jedes Mal ein Teil von uns als Sieger vom Schlachtfeld. Zampieris Kriegsführung verschnauft in ruhigeren Jazz-Nummern und klingt dann wieder nach Action Thriller mit Retro-Einschlag. Sirenen, Helikopter, Schüsse sind im Hintergrund zu hören. Die Jazz-Sängerin und Gesangslehrerin mit Ostschweizer Rockerinnenwurzeln hat ein wahrlich martialisches Album geschrieben, das alle paar Takte für eine Überraschung gut ist. Der Soundtrack für den Kampf gegen das Ich, explosiv in allen Wortsinnen. Das ist grosses g Jazz-Rock-Tennis. (mfe) sun

o erl \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \V\ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \

Be-Jazz in den Vidmarhallen, Liebfeld Do., 16.10., 20.30 Uhr www.bejazz.ch


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