Berner kulturagenda 2008 N° 44

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Philipp Zinniker

ZVG

Anthony Shouan-Shawn

N°44 Do., 30.10., bis Mi., 5.11.2008

«Die Schöne und das Tier» im Berner Puppen Theater

Christian Kracht im Sous Soul

Dreiteiliger Ballettabend im Stadttheater Bern

So anrührend, wie sich das Tier um Belle kümmert, kann sie sich nur in ihn verlieben. Die Hauer des Ungeheuers gehören zur Maske, der wallende weisse Bart zu Hans Wirth.

Autor Christian Kracht schreibt kurzerhand die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts um.

Vitalität paart sich mit grossem Gefühl für die Musik: «No More Play» des Choreographen Jirí Kylián, getanzt vom Bern Ballett. Einblick in die Probe mit Gary Marshall und Paula Alonso.

Ungeheuerlich schön

Abgehoben Mal lyrisch, mal brutal

Zum 40-Jahr-Jubiläum bringen die Puppenspieler Monika Demenga und Hans Wirth ein neues Märchen auf die Bühne. Mit «Die Schöne und das Tier» zieht eine Liebesgeschichte für Erwachsene ins Kellergewölbe an der Gerechtigkeitsgasse.

An Christian Kracht scheiden sich die Geister. Im Berner Sous Soul entführt der Exilschweizer in sein neues Buch.

Drei grosse Namen, eine Schweizer Erstaufführung und zwei Uraufführungen – Jiri Kylián, Karole Armitage und Haus-Choreografin Cathy Marston zeigen in einem dreiteiligen Ballettabend die Vielfältigkeit des zeitgenössischen Tanzes.

Der Schlossherr, ein riesiges, furchter­ regendes Tier, bedroht ihn mit dem Tod. Doch es gibt einen Ausweg. Wenn der Kaufmann dem Ungeheuer eine seiner drei Töchter überlässt, kommt er mit dem Leben davon. Belle, die Jüngste der drei Schwestern, opfert sich für ih­ ren Vater und zieht zum Monster ins Schloss …

Christian Kracht gehört zu den kontro­ versen Figuren der deutschsprachigen Schriftstellerszene. Stehts darum be­ müht, sich einer Einordnung zu entzie­ hen, gibt sich der 1966 in Saanen gebo­ rene Autor und Journalist mal ironischschnöselig, mal scheu zurückhaltend. Wo bei ihm die Provokation endet, weiss keiner genau. Der Kosmopolit war als Journalist für die Life-Style Zeitschrift «Tempo» und den «Spiegel» tätig, heute lebt er in Buenos Aires. Veröffentlicht hat er zahlreiche Beiträge und Bücher sowie ein eigenes Magazin.

Wir alle kennen sie von der 100-FrankenBanknote. Die Skulptur von Alberto Gia­ cometti – dünn, lang, filigran und mit einem Klumpfuss. Alles andere als hum­ pelnd bewegen sich die fünf Tänzer und Tänzerinnen im ersten Stück, «No More Play», vom Choreografen Jiri Kylián, ob­ wohl von einer kleinen Giacometti-Figur inspiriert. Sehr kontrollierte, ja skulptu­ rale Haltungen und Bewegungsabläufe spielen mit der Statik der Skulptur und hauchen ihr Leben ein. Dies alles pas­ siert zur mal heftig bewegten, mal zart klingenden Musik von Anton Webern. Ein Klassiker des modernen Tanzes aus dem Jahre 1988 eröffnet also den dreitei­ ligen Ballettabend.

«Oh, war das ein schöner Film», sagte einmal nach der Vorstellung ein Kind zu Monika Demenga, fasziniert vom Pup­ penspiel. Es ist eines der seltsamsten und zugleich schönsten Komplimente, die sie je erhalten hat. «Aber wir haben eine Dimension mehr als der Film», erzählt Monika Demenga. Denn ihre Figuren können aus dem Bühnenbild rauspurzeln, und zu allem Überfluss sind die Puppenspieler auch noch selbst hinter ihren Hauptakteuren zu sehen. Vor 40 Jahren hat Monika Demenga die Puppenbühne gegründet, kurz danach gesellte sich Jiri Ruzicka als Regisseur und Komponist dazu. 1977 betrat Hans Wirth als puppenspielender Partner die Bühne, und das erfolgreiche Dreier­ gespann war komplett. Mit «D Wie­ nachtsgschicht«, «Der kleine Prinz» und vor allem «D Glas-Chugle» haben sie sich in die Herzen von Gross und Klein gespielt. Ihr Publikum findet so­ gar aus dem Berner Oberland zu ihnen: Kinder, die morgens noch in Grindel­ wald im Stall die Tiere versorgen, phi­ losophieren am Vormittag im Puppen­ theater darüber, ob denn die Tiere auf der Bühne nun echt seien oder nicht. Diesmal sitzt den Bühnenpuppen aber ein erwachsenes Publikum gegenüber. Es geht um Leben oder Tod In «Die Schöne und das Tier«, dem neuen Stück der beiden Puppenspieler, verirrt sich ein armer Kaufmann in ein verzaubertes Schloss. Darin wird ihm jeder Wunsch von den Augen abgelesen und er lässt sich verwöhnen. Beim Ver­ lassen des Schlosses bricht er eine Rose ab, und das Unheil nimmt seinen Lauf:

Viel Sympathie für das Biest Die Geschichte um Belle und das hässli­ che Ungetüm geht zurück auf das fran­ zösische Märchen «La belle et la bête» aus dem 18. Jahrhundert. Die in allen Farben glitzernden sechs Puppenfigu­ ren haben Monika Demenga und Hans Wirth allesamt selbst hergestellt. Genau genommen sind es nur fünf Figuren und eine Maske. Denn unter der Maske des Tieres steckt Hans Wirth höchstper­ sönlich und ist damit im Vergleich zur kleinen Puppe Belle riesengross. Ob­ wohl das Tier doch zunächst Belle und den Vater auseinanderreisst, gewinnt es sehr schnell die Sympathien des er­ wachsenen Publikums – das Stück ist erst ab 16 Jahren. Das Biest wäre sicher auch seiner Grösse wegen viel zu gruse­ lig für Kinder. «Es ist einfach eine ernst­ hafte Liebesgeschichte», erzählt Monika Demenga, «und das ist nun mal mehr etwas für Erwachsene.» Claudia Sandke ng osu erl V \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Berner Puppen Theater «Die Schöne und das Tier» Fr., 31.10., Sa., 1.11., jeweils 20.15 Uhr So., 2.11., 17 Uhr www.berner-puppentheater.ch

Der Erste Weltkrieg hat nie aufgehört In seinem neuen Buch «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» bestieg Lenin 1917 nicht den Zug von Zürich nach St. Petersburg. Stattdessen gründet er die SSR, die Schweizerische Sowjetische Republik. Die Geschichte selbst spielt in der Zukunft, erzählt aus der Ich-Perspektive eines Politkommis­ sars. Der hundertjährige Weltkrieg tobt noch immer. Als eine der letzten drei Weltmächte reicht die SSR von Karlsru­ he bis nach Afrika. Nach «Faserland» (1995) und «1979» (2001) ist Krachts drittes Werk ein dunk­ ler Kriegsroman mit äusserst abstrusen Elementen. Das Buch enthalte Kino- und Comicelemente – «aber nur Elemente», betonte Kracht im Gespräch mit der deutschen «Zeit». Und meinte weiter: «Ich glaube aber, die Schweizer halten es für eine Schweizsatire.» Mariana Raschke \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Sous Soul, Bern. Fr., 31.10., 21 Uhr www.sous-soul.ch

Von der Poesie und vom Tod Eine weitere Leitfigur des Tanzes ist die Choreografin Karole Armitage. Sie sorgt mit der Uraufführung ihrer Choreogra­ fie «Between the Clock and the Bed» für einen abrupten Stimmungswechsel. In ihrem Stück dreht sich alles um das Thema Schönheit. «Von einem zeitge­ nössischen romantischen Ballett könn­ te man sprechen», sagt Cathy Marston, Leiterin des Bern Balletts. Das Bühnen­ bild erstrahlt in weissem Licht und eine Regenwand illustriert die Bewegungen, die sich, wie mit Wasser gemalt, ständig verändern. Es geht nicht um klare Posi­ tionen, sondern um das Dazwischen. Wenn sich im ersten Stück der surrea­ listische Giacometti mit dem expressio­ nistischen Webern vereint, im zweiten die Schönheit mit der Vergänglichkeit, dann thematisiert das dritte Stück des Abends den Tod und die Heimat. «Li­ bera Me» von Cathy Marston basiert auf

Igor Stravinskys «Requiem Canticles». Am Anfang war die Musik. Und dann kamen die Fragen: Wenn der Tod eine Person ist, ist er dann ein Fremder oder ein Familienmitglied? Und wenn das Leben ein Ort wäre, wäre das dann ein uns bekannter oder unbekannter Ort? Cathy Marston erzählt keine Geschich­ te, sondern hat ein Stück geschaffen wie ein Gedicht, lyrisch und brutal. Das Ziel ist es, beim Zuschauer Assoziationsket­ ten auszulösen. Zwischen den Zeilen tanzen Einen thematischen dramaturgischen Bogen hat der Abend nicht, sicher aber eine Stimmung und einen «colour arch», wie Cathy Marston beschreibt. So beginnt das Programm in düsteren Far­ ben, um dann hell und leicht zu werden und wieder dunkel und nachdenklich auszuklingen. Tanz als Universalspra­ che. Tanz als diejenige Kunst, die das auszudrücken vermag, was zwischen den Zeilen steht: Stille. Innehalten. Eine Position einnehmen und einfrieren. Die Schwerkraft irritiert immer wieder die Leichtigkeit. Ballettchefin Cathy Marston hat in Zu­ sammenarbeit mit dem Berner Sym­ phonieorchester und dem Chor des Stadttheaters Bern zum Saisonstart ein technisch hochstehendes und sehr gegensätzliches Programm zusammen­ gestellt. Mal mysteriös, mal atemberau­ bend, mal schlicht. g Anna Serarda Campell un

s rlo \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \V\e\ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \

Stadttheater, Bern Premiere: So., 2.11., 18 Uhr www.stadttheaterbern.ch


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