Berner kulturagenda 2008 N° 45

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Georg ZVG Anderhub

Christoph Hoigné

N°45 Do., 6., bis Mi., 12.11.2008

«Zimmerstund» im Rüttihubelbad, Walkringen

Sophie Hunger im Bierhübeli

Jeden Tag eine Kopfhautmassage geht ja auch nicht: Nadja Räss (links) und Delia Mayer waschen Michael Wolf das Haupt.

Gerade mal 25 Jahre jung, fasziniert die junge Zürcher Kosmopolitin mit melancholischer und mitreissender Musik von frappierender Reife. Kein Wunder, liegt ihr das Publikum von Prag bis Paris zu Füssen. Diese Woche begeistert Sophie Hunger in Bern.

... hat Gold im Mund?

Still unseren Durst, Sophie Hunger!

Lukas Bärfuss, Livio Andreina und Daniel Fueter fragen sich in ihrer kammer­forma­ ti­gen Alpenoper: Was spielt sich in den Kammern des Berghotels während der Zimmerstunde ab?

Mit sprödem Charme und umwerfenden Folksongs spielt sich eine junge Zürcherin quer durch halb Europa in die Schweizer Albumcharts und in die Herzen des Publikums. Ein Besuch bei ihrem ersten grossen Heimspiel, bevor sie Bern beehrt.

Das Leben im Berghotel besteht aus zwei Schichten Arbeit und der längsten Stunde der Welt, der dazwischen liegenden vierstündigen Zimmerstunde. Wer schon mal im Hotel-service gearbeitet hat, weiss ein Lied davon zu singen: Man hat viel zu viel Zeit fürs Nichtstun, aber doch zu wenig, um wirklich etwas zu unternehmen. Lieder davon singt auch ein schauspielendes Ensemble um Nadja Räss. Wobei selbige auch jodelt – in einer «Alpen-Kammeroper» mit dem Titel, der dem Inhalt gerecht wird: «Zimmerstund».

zwungen wirkende Vermengung der Genres Volks- und Popmusik, die den Reiz ausmacht – für den Autor, der fürs Stadttheater die Albrecht-von-HallerPersiflage «Ebenda» geschrieben hat? Lukas Bärfuss insistiert: «Es sind auch nicht die Grenzen zwischen den Genres, die mich interessieren. Die Zusammenarbeit mit kreativen und offenen Geistern ist das Spannende daran.» Das von der Luzerner Werkstatt für Theater realisierte Stück wurde im Pro-HelvetiaWettbewerb «echos – Volkskultur für Morgen» prämiert.

Anleihen aus dem Volkstum Was ist das denn?, fragt sich unsereins. «Ein theatraler-musikalischer Abend», antwortet Autor Lukas Bärfuss, «mit einem Orchester, Sängerinnen und Schauspielern, die meine Texte zur Musik von Daniel Fueter singen.» Bärfuss, der zusammen mit Livio Andreina auch fürs Konzept verantwortlich ist, erzählt nicht eine lineare Geschichte. Er reiht episodenartig Szenen der Langeweile, der Beschäftigungstherapie und des blinden Aktivismus aneinander, wie sie sich in den Pausen zutragen mögen. «Zimmerstund» kokettiert mit volkstümlicher Ausstattung, mit Bergen und Alphorn (Bühnenbild von Anna Maria Glaudemans Andreina). Nadja Räss jodelt, und die Kammerkapelle mit Klarinette, Akkordeon, Geige, Hackbrett und Tuba ist auch wie geschaffen für eine Stubete. Nichtsdestotrotz lässt sich Autor Lukas Bärfuss nicht in die Volksschwankecke stellen: «Volkskultur interessiert mich gar nicht», sagt er. Ist es in dem Fall die oftmals ge-

Wenn die kostbare Freizeit nervt Doch was hat uns Unterländern die Langeweile im Berghotel zu sagen? Das der Zimmerstunde zugrunde liegende Problem ist wohl auch uns Nichthoteliers bekannt: Eigentlich ist uns die freie Zeit zu kostbar, um sie einfach totzuschlagen. Wenn sie einmal nicht gerade grosszügig bemessen ist und sich ein Ausflug nicht recht lohnt, sind wir auch Müssiggänger und Sofatechnikerinnen genug, um zu wissen, wie schwierig es ist, sich den Ruck zum positiv konnotierten Handeln zu geben. Dinge zu tun, die fit machen, nützlich sind oder zumindest den Charakter stärken. Man nimmt sich ja viel vor und ertappt sich dann trotzdem beim Konsum von TVSendungen von unterirdischem Niveau. Sodass der Reich-Ranicki in uns einem fast die Schamröte ins Gesicht treibt. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Rüttihubelbad, Walkringen Fr., 7.11., und Sa., 8.11., 20 Uhr www.zimmerstund.ch

Meine erste Begegnung mit den Songs von Sophie Hunger hat tiefe Spuren hinterlassen. Ihr Blues begleitet mich seither auf Schritt und Tritt, wie ein guter Hund. Das erste, vor zwei Jahren in der Wohnküche aufgenommene Album der damals 23-Jährigen verbindet phänomenale Frische und verblüffende Reife. Diese Hunger hat das Zeug dazu, den Durst einer ganzen Generation zu stillen, den Durst nach Melancholie. Aber genauso, wie nicht alle Getränke den Durst zu löschen vermögen, macht Hunger vor allem eines: Lust auf mehr. Und endlich gibt es mehr. Eine zweite CD, eine neue Tournee. Dünnhäutig und in Strümpfen Nein, das scheint irgendwie nicht ihr Tag zu sein, gesteht Sophie Hunger, die bleich, mitgenommen und ungeschminkt zwei Tage vor Halloween mitten auf der grossen Bühne des Zürcher Theaters Gessnerallee sitzt. Sie habe ein Rendez-vous mit ihrem Magen gehabt an diesem Nachmittag, erzählt sie, wie immer etwas stockend und mit leiser Stimme: «Wir haben uns zum Inline-Skaten getroffen.» Verletzlich und dünnhäutig wirkt die junge Musikerin, wenn sie in ihren diagonal gestreiften schwarzen Strümpfen – die hochhackigen Schuhe hat sie gleich zu Beginn abgestreift – die Gitarre aufs Knie presst oder zum glänzenden Flügel schreitet. Die dunklen Haare verbergen oft ihre Züge, bis sie endlich ihren Blick hebt und scheu über das mehr als 900-köpfige Publikum in der alten Reithalle schweifen lässt. Seit Wochen ist dieser Abend ausverkauft, alle wollen das neue Musikwunder sehen, das zwischen Konzerten in Deutsch-

land und Frankreich auch hierzulande landet. Abheben mit dem fliegenden Teppich Fast tausend Menschen halten den Atem an, wenn Sophie Hunger zu ihren leisen Balladen anhebt. Ihre melancholischen Melodien, in denen sich ihre einzigartige Stimme und das wunderbare Wehklagen von Michael Flurys Posaune umtänzeln wie ein balzendes Paar, wechseln sich ab mit neueren Songs, die viel Zug drauf haben. Und bei denen Sophie Hunger auch mal aufdreht und ihre Gefühle lauthals ins Mikrofon schreit. Bassist Balz Bachmann breitet den Boden aus, der immer wieder zum fliegenden Teppich wird, auf dem die Solisten brillieren können. Allen voran Christian Prader, der an Flöte, Gitarre und Gesangsmikrofon ein überaus sicherer Wert ist. Er wohne, wie die anderen langjährigen Bandmitglieder, in Zürich, erzählt Sophie Hunger. Aber, so behauptet sie – in Staatskunde nicht ganz up to date, jedoch anrührend kindlich – wenn jemand verarme, müsse sich nicht die Wohn-, sondern die Heimat­gemeinde um ihn kümmern ... Heimat ist ein grosses Thema für Jeanne-Sophie Emilie Welti Hunger, oder wohl eher Heimaten, Heimatlosigkeit. Die Tochter eines Diplomaten und einer Politikerin ist in England, Deutschland, Bern und Zürich aufgewachsen. Neu in Hungers Band ist einzig der Berner Schlagzeuger Julian Sartorius, quasi ein Mitbringsel von Jürg Halter, in dessen Gedichten und Brillengläsern sich Sophie Hunger so gerne spiegelt. Die Textzeile «Min Dokter seit: Chum leg

de Mantel ab. Und ich säg: Aber drunder bini nüt.» aus «Spiegelbild» (auf der neuen CD im Duett mit Stephan Eicher gesungen) findet sich auch in Halters neuem Lyrikband. Vom Geheimtipp an die Spitze der Charts Hunger hat den Nerv getroffen. Ihre Musik ist wie junges Olivenöl. Geschmeidig rinnt es durch die Kehle, entfaltet einen ganzen Kräutergarten von Aromen und auch zwei, drei zartbittere Noten. Das Rauschen im Blätterwald über den Geheimtipp Sophie Hunger ist zu einem veritablen Orkan der Begeisterung angeschwollen. Von Gott mit Talent überschüttet und von der Journaille mit überschwänglichem Lob, stürmt die junge Kosmopolitin leichtfüssig von Erfolg zu Erfolg. Wie im siebten Himmel muss sie sich gefühlt haben, als eine Woche zuvor ihr neues Album, «Monday’s Ghost», an die Spitze der Schweizer Albumcharts katapultiert wurde. «Das war ein sehr schöner Tag», erzählt sie, endlich mal lachend und etwas entspannter. Die Sensation war perfekt, die Hitparadeverantwortlichen hätten angerufen und gefragt, ob sie nicht geschummelt habe. Als Zugabe schenkt sie dem Publikum den funkelnagelneuen Song «D'Red» – in lupenreinem Berndeutsch. Inzwischen hat der Winter unerwartet früh eine dicke weisse Decke ausgebreitet und die Neumondnacht mit magischem Glitzern erfüllt. Mit einem warmen Gefühl stapfen die Menschen aus dem Konzert in die kalte Nacht. Ihre Schritte hinterlassen Spuren im weichen, nassen Schnee. Christoph Hoigné \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Bierhübeli, Bern. Do., 6.11., ausverkauft Nächste Schweizer Konzerte: KKL Luzern, Sa., 29.11. und Fri-Son Fribourg, Sa., 20.12. www.sophiehunger.ch


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