Berner kulturagenda 2008 N° 47

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Severin Nowacki

N°47 Do., 20., bis Mi., 26.11.2008

«Screaming Masterpiece»

«Eine kurze Geschichte des Traktors» im Theater an der Effingerstrasse

Festival Saint Ghetto in der Dampfzentrale

Elektrorock-Geysir Björk hat der isländischen Musik zu internationaler Bekanntheit verholfen.

Seine Tochter Vera (Brigitte Bissegger) will ihn zur Vernunft bringen, doch Nikolai (HansJoachim Frick) bleibt stur. Eine junge Frau hat ihm den Kopf verdreht.

Die grosse Exzentrische: Die 68-jährige Brigitte Fontaine ist eine der originellsten Stimmen des französischen Chansons mit einer Vorliebe für bizarre Outfits.

Inselbrut Sand im Getriebe

Pop trifft Avantgarde

«Screaming Masterpiece» ist ein Film über Islands Musikszene, die fernab vom festländischen Mainstream pulsiert.

Ein Bestseller in Theaterfassung: Die Adaption von Marina Lewyckas Roman «Eine kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch» überzeugt dank der schauspielerischen Leistung, insbesondere derjenigen von Hans-Joachim Frick.

Das Festival Saint Ghetto stellt in einem anspruchsvollen Programm die Chanseuse Brigitte Fontaine neben das Elektro-Duo Nôze und konfrontiert den 81-jährigen Komponisten Pierre Henry mit den jungen Folk-Punkern von Lapin machin.

Es geht nicht in erster Linie um Perfektion. «Sie wissen, sie werden nie mehr als 200 Platten verkaufen, also machen sie die Musik, die ihnen gefällt», sagt Bardi Johannson über die Musiker seiner Heimat. Der Sänger der Band Gang Bang umschreibt, was der einheimische Regisseur Ari Alexander Ergis Magnússon mit seinem mehrfach ausgezeichneten Film «Screaming Masterpiece» (2005) belegt: Meist ohne Aussicht auf internationalen Erfolg machen Isländer innovative Musik – um ihrer selbst willen.

Der pensionierte Traktorentechniker Nikolai hat zwei neue Leidenschaften: die Geschichte der Traktoren und die Geschichte mit der jungen Ukrainerin Valentina. Erstere will er zu Ende schreiben und Letztere heiraten. Denn ihr Reisevisum läuft demnächst ab – und für eine Aufenthaltsbewilligung muss die Heirat her. Den Töchtern des vor Jahrzehnten eingewanderten Ukrainers gefällt das überhaupt nicht und sie treten wuchtig auf die Bremse. Doch der Alte lässt sich nicht beirren und stürzt sich in ein abstruses ruinöses Abenteuer, stur wie er ist.

Das Pariser Quartier Saint-Germaindes-Prés liegt auf der linken Seite der Seine und war vor der Yuppiesierung Heimat vieler extravaganter Künstlerinnen und Künstler. Auch die Dampfzentrale liegt auf der linken Flussseite. Zwar fliesst die Aare und nicht die Seine daran vorbei und die Stadt ist Bern und nicht Paris. Aber egal, das Festival Saint Ghetto stellt dort für ein verlängertes Wochenende die kreative und brodelnde Atmosphäre des legendären Quartiers musikalisch nach und führt das Publikum zurück in jene Zeit, als Pop und Avantgarde für einen kurzen Moment zusammenfanden. Mit Pierre Henry, dem französischen Komponisten und Vater des Techno, sowie Brigitte Fontaine, Chanseuse und Grande Dame des Pariser Untergrunds, konnten die Veranstalter zwei Schlüsselfiguren jener Zeit gewinnen.

Faszinierender Indie-Rock Vorwiegend in schummrigem Licht und Blautönen gehalten, lädt der Dokumentarfilm in die mystische Welt nordländischer Klangexperimente ein. Ein Highlight sind die Originalausschnitte aus Fridrik Thor Fridrikssons Film «Rock in Reykjavík» von 1982, die die junge Björk als punkgörige Rampensau in ihrer Zeit bei der Band Tappi Tíkarrass zeigen. Nebst den Exportschlagern Björk und Sigur Rós kommen in «Screaming Masterpiece» eine Reihe wenig bekannter Bands zum Zug. Sie spielen auch mal auf singenden Sägen und steinzeitlich anmutenden Xylofonen. Die raue Energie dieser Musik verknüpft der Regisseur bildnerisch mit der Topografie des Inselstaates. Spektakuläre Landschaftsbilder schroffer Fels- und Eiswüsten wechseln sich ab mit Interviews und Konzertausschnitten. Mariana Raschke \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Cinématte, Bern. Do., 20.11., 20 Uhr Einführung: Tobias Bolzern vom Nordklang-Festival

Irrungen auf allen Ebenen Die Befürchtungen der beiden Töchter bestätigen sich, und die Beziehung zwischen ihrem altersmilden Vater und der Ukrainerin erleidet Totalschaden – ein absehbarer Plot, könnte man einwenden. Doch der Bestseller von Marina Lewycka, einer ukrainischstämmigen britischen Autorin, spielt auf mehreren Ebenen. Da ist die Geschichte des Traktors, die Nikolai im Verlauf des Stückes fertigschreibt. Und vor allem die verknorzte Familiengeschichte des verwitweten Vaters und seiner beiden Töchter, die erst durch die tumultartigen Eingriffe der heiratswilligen Ukrainerin mit spektakulärem Dekolleté wieder in geordnete Bahnen gepflügt wird. «Tanja Geier hat Hans-Joachim Frick das Stück auf den Leib geschrieben», sagt Regisseur Markus Keller zur Bühnenfassung. Frick spielt den Nikolai vorzüglich, seine Rolle hat auch die meiste Tiefe. Diejenigen seiner Töchter Nadesha (gespielt von Suzanne Fabian) und

Vera (Brigitte Bissegger) sind hingegen etwas weniger ausgefeilt. Karo Guthke spielt die Geliebte, Valentina, und gefällt mit zur Schau gestellter Unterschichtendekadenz und ukrainischem Akzent. Für Tanja Geier bestand eine Herausforderung darin, die vielen weiteren Rollen des Buches auf die Bühne zu reduzieren. Das ist ihr mit der neu geschaffenen Frau von der Einwanderungsbehörde, Mrs. Price, gut gelungen. Helge Herwerth schliesslich spielt den ersten Ehemann von Valentina, einen ukrainischen Ingenieur, der sich prächtig mit Nikolai versteht. Das Stück hat immer wieder überraschende Wendungen und Konstellationen auf Lager. Verbündete gegen die Torheit des Herzens Zuletzt geht es nicht mehr um den Heiratsschwindel, sondern um die Familie des Alten. Die Töchter, die sich zuerst spinnefeind waren, bilden eine gemeinsame Allianz gegen die irrationalen Herzensentscheide des rührenden Vaters, der zwar den Schwindel auch durchschaut, dem aber so vieles egal ist. Denn er findet, er habe ein Leben lang nur vernünftig gehandelt. Die vergnügliche Geschichte gipfelt in einem Happy End. Letztlich ist die Heiratsschwindlerin genau der Sturm, den die Familie gebraucht hat, um den Sand aus dem Getriebe zu blasen. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Das Theater an der Effingerstrasse, Bern. Mi., 19.11., bis Sa., 22.11., und Mo., 24.11., bis Mi., 26.11., 20 Uhr, So., 23.11., 17 Uhr Vorstellungen bis 5.12. www.dastheater-effingerstr.ch

Exzentrische Künstlerin Die 1940 in der Bretagne geborene Musikerin Brigitte Fontaine ist eine schillernde Persönlichkeit; ebenso im klassisch französischen Chanson zu Hause wie in Jazz, Pop und Folk. Seit ihrem ersten, 1968 erschienenen Soloalbum mit dem Titel «Brigitte Fontaine est folle» prägte sie wie keine Zweite die progressive französische Musikszene. Unzählige Alben dokumentieren ihr Schaffen. Es ist ein Panoptikum der schrägen Vögel, die einstmals Saint-Germain-des-Prés bevölkerten, das Fontaine in ihrer Musik entwirft. In den 80er-Jahren wurde es etwas ruhiger um die exzentrische Künstlerin. Sie wandte sich vermehrt dem Theater

zu. Besonderes Aufsehen erregte dann wiederum das 2001 erschienene Album «Kékéland». Auf dieser Produktion ar­ beitete sie unter anderem mit Sonic Youth und Noir Désir zusammen, was die Grande Dame auch einem jüngeren Publikum näher brachte. Festival für Liebhaber Mal mit Streicherklängen unterlegt, dann wieder von krachenden OffbeatGitarrenakkorden begleitet, sind Brigitte Fontaines Stücke wie ein Spaziergang durch die Geschichte des französischen Chansons, ohne je Gefahr zu laufen, die zwar durchaus charmante, jedoch sehr oberflächliche Seichtheit hervortreten zu lassen, die vor allem gewissen jüngeren französischen Sängerinnen eigen ist. Dafür sind die Arrangements zu verschroben, Fontaines Stimme zu sperrig. Auch die anderen Konzerte des Festivals sind alles andere als leichte Kost, keine Spur von französischem MainstreamPop. Das Elektro-Duo Nôze beispielsweise bewegt sich mit seiner Musik zwischen wilden Klangexperimenten und beatlastigem Clubsound. Zorniger Folk mit rotziger Punkattitüde ist am Konzert des Pariser Quartetts Lapin machin zu hören. Saint Ghetto ist also durchaus ein passender Name für dieses kleine Festival für Kennerinnen und Liebhaber der französischen Musik. David Loher \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Dampfzentrale, Bern. Brigitte Fontaine im Rahmen des Festivals Saint Ghetto: So., 23.11. 20 Uhr. Festival: Mi., 19.11., bis So., 23.11. www.dampfzentrale.ch


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