ZVG Säm Christen
Christoph Hoigné
N°06 7. bis 13. Februar 2008
Berns Gassenfasnacht: Drei Tage bunt schillerndes Treiben
Dekadenz oder unzähmbares Naturkind? Frank Wedekinds «Lulu» im Stadttheater Bern
Allerlei Narretei vor Sandsteinfassaden, welche die Unesco als Weltkulturerbe schützen will.
Friedericke Pöschel als männerverschleissende Lulu, verführt von Alsa Schöning (André Benndorff) und begehrt von Ferdinand (Diego Valsecchi).
Mit Pauken und Trompeten Die Nachtwandlerin der Liebe Am Wochenende lassen die Berner Närrinnen und Narren Pflastersteine vibrieren und sorgen für schaurig-schöne Musik unter den Laubenbögen. Zum 27. Mal treibt die Bärner Gassenfasnacht ihre bunten Blüten.
Lulu, die Bühnenfigur, welche die Männer reihenweise um den Verstand bringt, wurde zunehmend zur Femme fatale stilisiert, um so die Männer als Opfer statt als Täter erscheinen zu lassen. Im Stadttheater Bern inszeniert Ingo Kerkhof nun die Urfassung und präsentiert Lulu als naturhafte Kindfrau mit unerschöpflicher Lebensgier, die der bürgerlich-chauvinistischen Gesellschaft den Spiegel vorhält.
Wenn am Donnerstag um 20 Uhr der Bär aus seinem Winterschlaf geweckt und aus dem Käfigturm befreit wird, legen die Guggenmusiken wieder los. Bis in die frühen Stunden der Sonntagnacht können brave Bernerinnen und Berner ihrer wilden Lust am Musizieren, dem Schminken und Kostümieren frönen. Die Berner Fasnacht, mit ihren 27 Lenzen eine der jüngsten der Schweiz und dennoch Nummer drei nach Basel und Luzern, kennt viel weniger feste Regeln als die traditionellen Narren-Hochburgen. Wer mitmachen will, ist herzlich willkommen. Die drei närrischen Tage haben in Bern viele Gesichter: Wem das Tuten und Blasen in den Hauptgassen gar zu ohrenbetäubend wird, der flüchtet sich vielleicht in die Seitengassen, wo man immer wieder fantasievoll kostümierten Einzelfiguren und Gruppen begegnet. Poesie gehäuft gibts am Samstagvormittag, der in Bern traditionellerweise den feineren und leiseren Darbietungen, Strassentheatern und Schnitzelbänken, gehört. Wer das Spektakel lieber an sich vorbeiziehen lässt, als sich selber zu bewegen, setzt sich am besten in eine Altstadtbeiz oder am Samstagnachmittag in die Hauptgassen, wo der grosse Umzug vorbeizieht. Da kann man die Parade der 60 Guggenmusiken abnehmen, die zum Verein Berner Fasnacht gehören, und der auswärtigen Gäste, die sich einen der begehrten Plätze auf der Teilnehmerliste ergattert haben.
Die personifizierte Sexualität, das Urweib, die Nymphomanin oder gar die zerstörerische Kraft: Die Figur Lulu ist eine Projektionsfläche, die alle möglichen Herangehensweisen zulässt. Ihr Schöpfer Frank Wedekind (1864–1918) gilt als entschiedener Gegner des Naturalismus und schuf mit «Lulu» ein expressionistisches Drama mit grotesken Szenen und kolportageartigen Elementen. 1895 erschien sein Bühnenstück «Der Erdgeist», später die Fortsetzung «Die Büchse der Pandora» und 1913 verschmolz Wedekind die beiden Bühnenwerke zu «Lulu», einer Tragödie in fünf Akten. Auf deutschsprachigen Bühnen gehört «Lulu» zu den meistgespielten Stücken.
Gegen Radau und Ruhestörung Erwartet werden Zehntausende Besucherinnen und Besucher. Die Organisatoren der Berner Fasnacht, letztes Jahr mit dem renommierten und hochdotierten
grossen Kulturpreis der Burgergemeinde Bern ausgezeichnet, legen grossen Wert auf Ordnung und Sauberkeit. Sie haben zum Jugendschutz in Sachen Alkoholkonsum ein eigenes Präventionskonzept ausgearbeitet. Auch wollen sie Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse der Altstadtbewohnerinnen und -bewohner und diese so gut wie möglich vor Lärm und Dreck schützen. Etwa mit Plakaten, welche vor den Hauseingängen daran erinnern, dass Wohlerzogene nicht auf die Strasse pinkeln: «Bisle hie – sicher nie!» Und durch die enge Zusammenarbeit mit den Altstadtleisten, welche die Interessen der Bewohner und Gewerbetreibenden vertreten. Nach der Messerstecherei im vergangenen Jahr haben neben der Polizei auch die Fasnachtsverantwortlichen Massnahmen ergriffen, wie Noëlle de Preux, die Präsidentin des Vereins Berner Fasnacht versichert. (Interview mit Noëlle de Preux und Fasnachtsprogramm auf Seite 12.) Polo Hofers Bärentanz Für das Sujet von Plakat, Fasnachtsplakette und Fasnachtswein lässt der wegen seiner Stimmbanderkrankung bis auf weiteres verstummte Rockmusiker Polo Hofer die Bären tanzen und zu Pauken und Trompeten greifen. Immerhin ist «Polo National», der sich vor ein paar Jahren in Oberhofen am Thunersee niedergelassen hat, von Haus aus Werbegrafiker und konnte so wenigstens ein paar Stunden bis zu seinem allseits erwarteten Comeback auf der Bühne überbrücken. hoi \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
www.fasnacht.be
Das unbezähmbare Naturkind In Bern nimmt sich nun Regisseur Ingo Kerkhof den Stoff vor. Er sieht in Lulu weniger die Femme fatale, sondern vielmehr das Naturhafte, Unbezähmbare, das in einer bürgerlichen Gesellschaft zuletzt den Tod finden muss, da es nicht zu zähmen ist. Lulu wird im fünften und letzten Akt in London von Jack the Ripper ermordet, was von den Zeitgenossen als ausgleichende Gerechtigkeit empfunden wurde. Im Deutschland der Kaiserzeit sah man Lulu als Personifikation der Sünde und der Anarchie: Sie wurde als erotischer Würgeengel, von dem ein Grauen ausging, empfunden. Seit 1945 wird die Figur genau umgekehrt verstanden: Lulu als Ideal des natürlichen Menschen, Lulu als Vertreterin einer unbedingten Moral oder Märtyrerin der unverstandenen Frauennatur, deren Leben die Liebe ist. In Ingo Kerkhofs Inszenierung übernimmt die deutsche Schauspielerin Friederike Pöschel den Part der Lulu. Sie empfindet
die Figur als durchwegs positiv und glaubt sogar, dass die Welt vielleicht um einiges schöner wäre, wenn alle wie Lulu wären. «Mir gefällt ihre Lebenslust, Energie und Neugierde», beschreibt sie die Rolle, die ihr viele Kostümwechsel beschert. Denn Lulu ist in ständiger Wandlung begriffen. Wie eine Schlange häutet sie sich nach jedem Liebhaber, den sie hinter sich lässt. Eine Nachtwandlerin der Liebe, die in Berlin, Paris und London ihre Verführungskünste einsetzt. Keiner kommt hier lebend raus Kerkhof lässt das Stück in einem abstrakten Raum spielen und betont so das Expressionistische, das bis heute modern wirkt. Die Bühne, bestehend aus einer angeleuchteten Plexiglasfläche, ist Bühne des Lebens und lässt unterschiedliche Assoziationen zu. Friederike Pöschel: «Für mich symbolisiert diese Bühne die kalte Welt. Ich muss immer an Eis denken, wenn ich darauf spiele.» Tatsächlich kommt Lulu aus der Gosse, findet aber trotz gesellschaftlichem Aufstieg keine wärmere Welt vor. Nur der Tod erlaubt ihr, wie auch den männlichen Protagonisten, die Bühne zu verlassen. Im Laufe des Stückes wird der Spielraum immer grösser und abstrakter, sodass die Figuren zunehmend verlorener wirken. Diese Einfachheit wählte Kerkhof, weil er in Wedekind einen Minimalisten sieht, der mit nur ganz wenigen Motiven zu spielen wusste. Das Minimalistische spiegelt sich auch in der Musik, für welche die beiden experimentellen Klangkünstler Philipp Ludwig Stangl und Michael Frei verantwortlich sind. Die Musik funktioniert wie der Puls des Stückes, wie ein Atem, der allmählich ausgeht und versinnbildlicht,
dass Lulus fatales Ende von Anfang an vorgezeichnet ist. Trotz der Tragik birgt das Stück auch viel Humor. Die von Lulu verführten Männer sind Karikaturen. Mit der Figur des Doktor Hilti wird gar ein Zürcher, der als Freier auftritt, ironisch gezeichnet. Schliesslich lebte der kosmopolitische Wedekind, ausser in Paris, London und München auch eine ganze Weile in der Schweiz und inspirierte sich an einem Schweizer Arzt für diese Figur. Das Kosmopolitische wird auch im vierten Akt offensichtlich, wo sich ausschliesslich Ausländer in einem dekadenten Varieté von Paris amüsieren und eher Kauderwelsch denn Französisch sprechen. Auch Lulu spricht eine universelle Sprache: die der Liebe. Helen Lagger \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Lulu. Stadttheater Bern Premiere: Sa., 8.2., 19.30 Uhr www.stadttheaterbern.ch
Kulturbeutel Tanz – Made in Bern im Stadttheater 3 Stan und Ollie in Fraubrunnen 3 Small Talk mit DJ Pablo 3 Kind & Kegel 4 Hören & Sehen 5 Sang & Klang 6 Adolf Wölfli im Kunstmuseum Bern 7 Hand & Herz 8 Worte & Orte, Buchzeichen 9 Hin & Weg 10 Plüsch & Plausch 11 Interview zur Berner Fasnacht 12