Berner kulturagenda 2009 N° 15

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N°15/16 Do., 9.4., bis Mi., 22.4.2009

Max Goldt liest im Zentrum Paul Klee

Accordion Tribe in der Dampfzentrale

Er hat den Blick für das Unwesentliche: Der deutsche Satiriker trägt Texte aus seinem Fundus jahrzehntelangen Ausschlachtens von ­Alltagsbanalitäten vor. Die zu thematisieren ist nur auf den ersten Blick ganz ohne Belang.

Hier waren sie noch zu fünft: Die weltberühmten, innovativen Akkordeonisten warten mit einem Kraftwerk der Gefühle auf.

Ein Meister des Abschweifens

Stamm der Leidenschaft

Wenn Max Goldt in einen Text einsteigt, ist nicht zu erahnen, wohin das führen wird. Nicht weiter schlimm, denn weder der Weg noch das Ziel sind sein Ziel, sondern das lustvoll gepflegte Mäandrieren durch die deutsche Sprache, bis die Seite voll ist.

Vier Akkordeonspieler bringen vier Spieltraditionen mit – und erfinden in diesem Schmelztiegel ihr Instrument neu. Accordion Tribe geht unter die Haut. Trotz des Todes von Lars Hollmer ist dem Quartett die Leidenschaft nicht abhanden gekommen.

Neulich bin ich im Bus zum Kleezentrum Zeuge folgender Szene geworden: Ein angejahrter Mann kam den klassischen Moment zu spät zur Haltestelle, der Bus setzte sich bereits in Bewegung. Mit einem kühnen Sprung vors rote Bernmobil zwang er die Fahrerin zu einer Vollbremsung, um ihr die Dringlichkeit seines Anliegens deutlich vor Augen zu führen: Er wollte mitfahren. Die Frau öffnete darauf hin nicht etwa die Wagentüre, sondern das Fenster, wies den Fahrplanverzögerer ordentlich zurecht und setzte die Fahrt fort. Woraufhin der Mann seinen Unmut mit kräftigen Faustschlägen an die Fenster kundtat. Im Visier sind Klugscheisser aller Schichten Was hat mir Max Goldt zu dieser Situation zu sagen? Er lässt seinen Cartoon-

Helden denken: «Menschen zwischen fünfzig und sechzig sind die Jugend von heute. Jedenfalls in Bezug aufs unkontrollierte und alberne Benehmen.» Die herzallerliebst skurrilen Bildergeschichten von Katz und Goldt gehören zum Ersten, das ich jeweils im Satiremagazin «Titanic» aufschlage. Seit 1996 produziert der Autor mit Zeichner Stephan Katz die Cartoons und nimmt darin besonders gerne Klugscheisser aller Schichten, Kunststudenten oder Political-Correctness-Getriebene aufs Korn. Er lässt seine Figuren ausführliche Diskurse über Banalitäten führen, an die andere keinen Gedanken verlieren würden. In «Titanic» schreibt Max Goldt auch monatlich einen längeren Text, illustriert mit völlig themenfremden Bildern aus seinem Privatarchiv. Hier kommt

die Kernkompetenz seiner Schreibe so richtig zum Tragen: das literarisch gepflegte Abschweifen. Unter der Lupe von Goldt erscheint die Welt in ihrer absurden Pracht, weshalb er sich die Freiheit nehmen kann, seine Satiren vermeintlich irgendwo zu beginnen. Anschliessend folgt eine Ausfahrt durch seine Gedankenfelder, auf der er auch einmal eine Abzweigung verpasst und auf ein Ende zusteuert, das scheinbar durch das Ende der Seite bestimmt ist. Kehlmann attestiert moralische Intelligenz Verglichen mit anderen «Titanic»-Autoren wie Stefan Gärtner oder Oliver Nagel jagt Goldt weniger hinter jeder Pointe her, sondern pflegt mit dem Witz seiner Sprachgewalt Wirrungen der Alltagsbanalitäten auszukosten. Er kann sich zum Beispiel im Text der Märzausgabe «Ist Zsá Zsá Inci Bürkles Mutter etwa eine Milf?» mit der Frage auseinandersetzen, ob man wirklich wissen muss, was eine «Milf» ist. Und trotzdem wirkt Goldt nie niveaulos, denn «hinter seinen trügerischen Gedankenfluchten verbergen sich die genaueste Komposition und eine blendend helle moralische Intelligenz». So beschreibt der Schriftsteller Daniel Kehlmann auf dem Umschlag das Faszinosum treffend. Neue Textsammlungen von Max Goldt erscheinen fast jedes Jahr, und daraus gedenkt er im Zentrum Paul Klee zu lesen. Jetzt ist die dritte Spalte voll und darum: Schluss und Ende. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Katz & Goldt-Cartoon, bereits veröffentlicht (in «Wellness rettet den Bindestrich», Edition Moderne, 2008).

Zentrum Paul Klee, Bern Do., 9.4., 20 Uhr. www.zpk.org

Sie galt in unseren Breitengraden lange als verstaubtes Instrument der Volkstümlichkeit: die Ziehharmonika. Doch so, wie Accordion Tribe heute diesen schweren, faltigen Kasten behandelt, bleibt nichts mehr von Altertümlichkeit übrig. Da wird geklopft, gestreift, gehauen, getippt und gezogen. Mal tranceartig, intensiv, mal fein und leicht – schlicht einmalig. Es ist, als wären die Musiker mit ihren Instrumenten eins. Auch ihre Stimmen setzen sie immer wieder ein: singend, summend, experimentierend. Maria Kalaniemi, die einzige Frau der Gruppe, bemerkte 2004 in Stefan Schwieters Dokumentarfilm «Accordion Tribe – Music Travels», dass ihr die Kompositionen ihrer Mitmusiker zu Beginn des Projekts vorgekommen seien wie von einem anderen Planeten. Tatsächlich spielen die Tonkünstler befreit von jeder Konvention, jedoch immer auf ihre Herkunft aus Jazz, Klassik und der Volksmusik verweisend. Dabei geht es ihnen nicht nur um Virtuosität, sondern manchmal ganz einfach darum, ein Stück in all seiner Einfachheit und Schönheit zu vermitteln. Aus fünf Nationen Im Mai 1996 kamen fünf Komponisten und Akkordeonisten auf Initiative des New Yorkers Guy Klucevsek zusammen: Der Wiener Musiker Otto Lechner, Finnlands berühmteste Akkordeonistin Maria Kalaniemi, der virtuose Slowene Bratko Bibic und der Schwede Lars Hollmer. Trotz unterschiedlicher Kulturen und Biografien teilen sie eine Leidenschaft: das Akkordeon.

Als Resultat ihrer dreiwöchigen Tournee wurde im Januar 1998 die CD «Accordion Tribe» veröffentlicht, die zu einem solchen Erfolg wurde, dass das Ensemble beschloss, auch künftig in losen Abständen durch verschiedene Länder der Erde zu touren. Nach Schwieters Dokumentarfilm sowie zwei weiteren Alben, «Sea of Reeds» und «Lunghorn Twist», spielen sie heute in ausverkauften Hallen: etwa in der Kölner Philharmonie, im Konzerthaus Wien oder im KKL in Luzern. Nun beehrt Accordion Tribe die Berner Dampfzentrale am kommenden Sonntag mit dem Abschlusskonzert ihrer derzeitigen Frühlingstournee. Alles beginnt im Herz Lars Hollmer verstarb an Weihnachten 2008 in seiner Heimatstadt Uppsala. Seine Kompositionen haben massgeblich zum Erfolg der Gruppe beigetragen. Der schmerzvolle Verlust tat der Leidenschaft des Kollektivs keinen Abbruch. Am Berner Konzert werden sie wohl mit entsprechend grosser Hingabe viele Stücke von Hollmer spielen, als Tribut an den Meistermusiker. «Alles beginnt im Herz», sagte der Komponist damals im Dokumentarfilm. Und das ist der Musik auch anzuhören. Die treibenden Klänge dieser eigenwilligen Musiker lassen die Seele vor Euphorie erbeben, rühren zu Tränen und laden oft auch zum Schmunzeln ein. Jamie Wong-Li \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Dampfzentrale, Bern So., 12.4., 20 Uhr www.dampfzentrale.ch


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