Hyou Vielz
Jörg Müller
ZVG
N°18 Do., 30.4., bis Mi., 6.5.2009
Gisela Widmer in Fraubrunnen
Jörg Müller im Kornhausforum
Die lange Nacht der Neuen Musik in der Dampfzentrale
In Gisela Widmers Kolumnen fühlt man sich regelmässig von ihr ertappt.
Das Kinderbuch als Zeitzeuge: Drei Bilder aus der Serie «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder oder die Veränderung einer Landschaft».
Karlheinz Stockhausens Werke beeinflussten auch Bands wie Pink Floyd und die Beatles. «Cosmic Pulses», eines seiner letzten Werke, wird zum ersten Mal in der Schweiz gespielt.
Zytlupe
Keine heile Welt
Kosmische Klänge
Die Autorin Gisela Widmer beehrt mit ihren träfen Kolumnen über das Alltägliche den Schlosskeller Fraubrunnen.
Sie haben Kinderzimmer genauso wie Büros geschmückt, und das nicht nur bei 68ern. Die bekannten zeitkritischen Illustrationen von Jörg Müller sind in einer Rückschau im Kornhausforum zu sehen.
Wie klingt der Kosmos? Die Dampfzentrale lädt zur langen Nacht der neuen Musik. Im Programm ist auch die Schweizer Erstaufführung von Karlheinz Stockhausens «Cosmic Pulses» aus seinem letzten, unvollendet gebliebenen Grosswerk, «Klang».
«Satire soll alles dürfen», ist Gisela Widmer überzeugt und wandelt damit den bekannten Ausspruch des deutschen Schriftstellers und Journalisten Kurt Tucholsky leicht ab. Sie ist eine genaue Beobachterin und begnadete Schreiberin. In ihren satirischen Betrachtungen, wie die Luzernerin ihre Kolumnen selbst bezeichnet, bringt sie in der Sendung «Zytlupe» auf Radio DRS 1 regelmässig die Tücken des Alltags auf den Punkt. «Ich betrachte unsere Zeit einfach durch ein Vergrösserungsglas», erklärt sie. Fast nichts und niemand ist vor ihrer scharfen Beobachtungsgabe und spitzen Zunge sicher. Ob als Aromatliebhaber oder Plastikfolienhasser, man fühlt sich regelmässig von Gisela Widmer ertappt. Die Lesungen zeigen der Kolumnistin, dass sie nicht nur gehört, sondern auch verstanden wird: «Das Publikum lacht und schweigt, schmunzelt oder applaudiert genau da, wo ich es mir erhoffe.» Zwischen den Kolumnen sorgen Schwyzerörgeliklänge von Albin Brun für musikalische Ergänzung. Das Programm «Zytlupe live» geht übrigens in die letzte Runde, doch Nachschub ist bereits angekündigt. Ab Herbst ist Gisela Widmer mit «Zytlupe live 2» wieder unterwegs durch die Schweiz, um deren Bewohnern den Spiegel vorzuhalten. Im neuen Programm werden der Gesundheitswahn und der Jugendkult Objekte ihrer scharfsinnigen Betrachtungen. Simone Tanner
Wie viel Realismus darf man in Bilderbüchern den Kindern zumuten? Viel, findet Jörg Müller, wenn er an sich selber als Kind denkt. Er erhielt jede Weihnacht ein Kinderbuch und ärgerte sich immer masslos, wenn die Zeichnungen ungenau waren. Während Erwachsene Bilder nur flüchtig als Illustration des Textes betrachten, sehen Kinder genauer hin: «Erwachsene schauen Bilder an, Kinder lesen sie.» Die Arbeiten Jörg Müllers sind derzeit in einer umfassenden Retrospektive im Kornhausforum zu sehen. Die Ausstellung zeigt Originale aus sämtlichen Bilderbüchern sowie teils grossformatige Arbeiten, die Szenen in einer mittelalterlichen Stadt zum Leben erwecken. Vor allem aber gewähren die zahlreichen Skizzen, Vorarbeiten sowie ein Arbeitstisch mit Airbrusher und Pinsel Einblick in den Entstehungsprozess der Werke.
Stockhausen war einer der bedeutendsten deutschen Komponisten der Nachkriegszeit. Seine Werke bewegten die zeitgenössische Musikszene immer wieder und beeinflussten auch Bands wie Pink Floyd oder die Beatles. Auf dem Cover des Beatles-Albums «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» ist Stockhausen mit 69 anderen herausragenden Persönlichkeiten abgebildet. So unbestritten sein Ruf als Komponist, so umstritten jedoch ein Teil seiner Äusserungen. In einem Interview äusserte er sich zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001: «Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das grösste Kunstwerk, das es je gegeben hat …» Die Aussage sorgte weltweit für Schlagzeilen und heftigen Widerspruch, ist aber beispielhaft für seine unabhängige und abstrahierende Denkweise.
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Schlosskeller, Fraubrunnen Do., 30.4., 20.15 Uhr www.schlosskellerfraubrunnen.ch
Blosse Bestandesaufnahme So betrieb Müller vor allem um der Kinder willen grossen Aufwand mit den Vorarbeiten zu seinen Illustrationen. Akribisch genau recherchierte er alle Einzelheiten, von den Bauweisen bis hin zum Wetter, bis jedes Detail plausibel dargestellt war. Das Paradebeispiel dafür ist die Bildermappe «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder», mit der er 1973 über den deutschen Sprachraum hinaus bekannt wurde (siehe Bild). Die schonungslose Darstellung der scheinbar fortschrittlichen Umnutzung einer ländlichen Idylle zum Gewerbepark fiel auf fruchtbaren gesellschaftlichen Boden, der von der 68er-Bewegung ge-
pflügt worden war und bereit, kritische Ideen aufzunehmen. Auch eine spätere Arbeit zeigt negative Veränderungen, diesmal einer Stadt. «Negativ? – Das sagen Sie!» Jörg Müller will sich dezidiert nicht wertend äussern, sondern lediglich eine Bestandesaufnahme machen. Eine gewisse Objektivität zu behalten, scheint ihm gelungen zu sein, schliesslich hielten manche Zeitgenossen die Bilder für eine «Hymne an den Fortschritt». Wie im Bilderbuch? Nach dem Durchbruch folgten zahlreiche nicht weniger erfolgreiche Bilderbücher, die noch heute vielen in Erinnerung sind. Mit «Der Bär, der ein Bär bleiben wollte» begann 1976 die Zusammenarbeit mit Jörg Steiner, der als Erwachsenenautor bereits etabliert war. Gemeinsam behandelten sie darin grundlegende Themen wie die Identitätssuche und die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft, so auch in «Die Kanincheninsel» (1977) oder «Aufstand der Tiere oder die neuen Stadtmusikanten» (1990). Neben Jörg Müllers Illustrationen sind in einem weiteren Teil der Wanderausstellung Arbeiten von Kindern aus Stadt und Region zu sehen, die sich mit den Veränderungen in ihrer Umwelt auseinandergesetzt haben. Und so zieren Collagen, Zeichnungen und Bastelarbeiten den nördlichen Flügel des Ausstellungsraumes – wodurch wir eine Ahnung davon erhalten, wie Kinder die von Erwachsenen gemachte Welt sehen. Felicie Notter \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Kornhausforum, Bern. Bis 9.5. www.kornhausforum.ch
Stockhausens «Licht» und «Klang» In den 50er-Jahren setzte Stockhausen neue Massstäbe auf dem Gebiet der Raummusik und realisierte elektronische Klänge, die man vorher so noch nie gehört hatte. Ab 1977 konzentrierte er sich auf die Vollendung von «Licht», einer Vertonung der sieben Tage der Woche, die mit 29 Stunden Gesamtspieldauer die umfangreichste Oper der Musikgeschichte wurde. Seit 2004 arbeitete Stockhausen an seinem nächsten Grosswerk mit dem Titel «Klang» an einer Vertonung der 24 Stunden des Tages. Die letzten drei Stunden jedoch fehlen, weil er 2007 noch vor der Vollendung mit 79 Jahren starb. Ein Orchesterwerk hingegen, das anlässlich seines
80. Geburtstages bestellt worden war, hatte er noch rechtzeitig fertigstellen können. «Cosmic Pulses», das erstmals in der Schweiz zu erleben sein wird, stellt die 13. Stunde des Tages dar. Nach Stockhausens Aussage hört es sich an wie die Rotation von 24 Planeten: «Ich habe zum ersten Male eine Überlagerung von 24 Klangschichten ausprobiert, als hätte ich die Rotationen von 24 Monden oder 24 Planeten zu komponieren. Ob man das alles hören kann, weiss ich noch nicht.» Das Werk schichtet eine Stimme nach der anderen aufeinander und erzeugt in der Überlagerung der immer schneller und höher werdenden Stimmen ein kompakt-chaotisches Geflecht. Könnte so der Kosmos klingen? Mathemusik Die zweite Schweizer Erstaufführung des Abends ist Iannis Xenakis «La légende d’Eer», eine elektro-akustische Kompo sition für sieben Kanäle. Sie wurde 1978 zur Eröffnung des Centre Georges Pompidou in Paris uraufgeführt. Auch in Xenakis Musik sind mathematische Züge zu finden. So gilt er als Erfinder der «stochastischen Musik». Seine auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen resultierenden Klangbilder verglich der Komponist selbst mit Wolken und Galaxien. Als Konstrast zur elektronischen Musik von Stockhausen und Xenakis spielt vorher, nachher und zwischendurch das Bläserquintett September Winds. Nina Heinzel \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Dampfzentrale, Bern. Fr., 1.5., 20 Uhr www.musikfestivalbern.ch