Berner kulturagenda 2009 N° 19

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Steve Belkowitz

Marco Borggreve

N°19 Do., 7.5., bis Mi., 13.5.2009

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Ursula Rucker bei Bee-flat im Progr

Jubiläumskonzert im Kultur-Casino

Für eine klare Aussage lässt sie auch mal eine poetische Wendung weg: Ursula Rucker will verstanden werden.

Violinistin Patricia Kopatchinskaja spielt mit dem Berner Symphonieorchester Violinkonzerte von Felix Mendelssohn Barholdy und Johannes Brahms zu Ehren des Konzerthauses mit der bewegten Entstehungsgeschichte.

Die Welt verändern

Vom Burgersturm zum Wohlklang

Sie gehört zu den Intelligenzbestien des Hip-Hop, gilt als ernst, politisch, streng. Die Spoken-Word-Artistin Ursula Rucker hat auch eine private Seite. Weil man nicht immer nur die Welt retten kann.

Das Kultur-Casino wird 100. Die Geschichte des Sandsteintempels erzählt von der damali­ gen Genese der Bundeshauptstadt und dem Ringen um Legitimation der Burgergemeinde. Violinistin Patricia Kopatchinskaja spielt mit dem BSO zum Jubiläumswochenende.

Sie suche nicht ununterbrochen nach dem nächsten Problem, manchmal mache sie auch Witze und habe Sex, singt Ursula Rucker auf ihrem neuen Album, «Ruckus Sound Sysdom». Sicher keine dumme Idee, ein bisschen Imagekorrektur zu betreiben. Schon auf den Fotos schaut Rucker immer so ernst drein, fast streng schon. Und dann diese Themenpalette. Frauenrechte, Unterdrückung, Rassismus, die Probleme der schwarzen Gemeinde in Amerika. Alles zu Poesie verarbeitet und auf der Bühne vorgetragen. Das ist, was deutsche Musikjournalisten gerne «deep» nennen. Aber Spass? Will man sich so etwas einen Abend lang antun? Reichen die Nachrichten nicht? Ursula Rucker ist ein Phänomen. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hat sie es geschafft, vom heimlichen Tagebuchschreiben auf die Bühnen von Intellektuellencafés und sogar bis zum Rand des Mainstreams vorzustossen. Dabei sagt sie im Wesentlichen nichts anderes als früher, hat sich also weder verkauft noch verbogen für den Erfolg, der sie auch schon auf die Donauinsel ans grösste Open Air von Wien führte. Projektionsfläche Gut, es war sicher etwas Glück dabei, am Anfang. Die Roots, wie Rucker aus Philadelphia und Studenten, machten schneller Karriere mit ihrem Hip-Hop als sie. Zwar nicht bei den üblichen Konsumenten, die bevorzugen Knarren statt Denkarbeit, dafür aber beim gebildeten, gerne auch europäischen Publikum, das sich immer den «intelligenten Amerikaner» wünscht, der am liebsten wie ein Euro-

päer denkt, der Englisch mit einem amerikanischen Akzent spricht. Ob bewusst oder nicht: Ursula Rucker gibt dafür eine ideale Projektionsfläche. Die Roots also liessen Rucker auf ihren Alben den einen oder anderen Song bestreiten. Verändern ohne Predigt Die Zusammenarbeit mit den Roots brachte Rucker grosse Aufmerksamkeit und die Gelegenheit zu neuen Kooperationen. Mit anderen Worten: eine Karriere, die sich nicht bloss im Zirkel der amerikanischen Literaturcafés abspielt. Die Tochter eines Afroamerikaners, der bei den Baptisten predigt, und einer katholischen Italienerin verbindet ihre Kampflyrik schon mal mit der Geschichte der Maria Magdalena, die sie selbstbewusst sagen lässt, sie habe zwar rumgeschlafen, aber auch die Füsse von Jesus gewaschen. Rucker will aber nicht einfach die Geschichte umdeuten. Die Dichterin verlangt so viel von ihrem Publikum wie von sich selbst; nämlich dass es die Welt verändert. Eine predigende Haltung liegt ihr dabei jedoch fern, Geschrei, bei aller Wut im Bauch, ebenfalls. Resultat sind ein- aber auf keinen Fall aufdringliche Songs. Über einem groovenden Bett aus Jazz, Hip-Hop, Drum & Bass und Soul, zusammengestellt von hervorragenden Produzenten der Szene, singt und spricht die vierfache Mutter ihre Texte. Aktuell übrigens mit privateren Themen als auch schon und eben mit Humor. Silvano Cerutti \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Turnhalle im Progr, Bern So., 10.5., 20.30 Uhr www.bee-flat.ch

Im Casino steckt nicht nur ein wohlklingender Konzertsaal für die Heimspiele des Berner Symphonieorchesters (BSO), sondern auch eine Entstehungsgeschichte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geriet die Berner Burgergemeinde heftig unter Beschuss. Das Überbleibsel der Ständegesellschaft, die Hüterin der Tradition, hatte ein Imageproblem, weil sie von Politikern der radikalen Freisinnigen infrage gestellt wurde. Das grosse Vermögen der privilegierten Schichten wurde durch die egalitären Kräfte gefährdet. Der «Burgersturm», wie die Reformbewegung genannt wird, wurde sogar von Burgern mitgetragen. Also musste man sich schleunigst etwas überlegen. Man schaffte den Burgernutzen ab und machte damit einen Teil der burgerlichen Gebäude für die Allgemeinheit zugänglich. Die Burgergemeinde rettete ihren Kopf, indem sie sich als gemeinnützige Wohltäterin etablierte. Louis XVI unter Landhausdach Dazu gehörte auch, dass die Burgergemeinde sich an den Kosten für die städtische Kultur beteiligte. Bern war als neue Bundeshauptstadt im Umbruch und entsprechend finanziell gefordert. Ein neues Casino war längst in Planung, kam jedoch nicht über dieses Stadium hinaus, «da angesichts der finanziellen Verhältnisse der Gemeinde an eine Verwirklichung des Kasinobaues in den nächsten Jahren überhaupt nicht gedacht werden kann», wie der Gemeinderat 1902 der Burgergemeinde mitteilte. Trotzdem handelte es sich um eine dringende Angelegenheit, weil im selben Jahr an der Stelle des alten Casinos das Parlaments-

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gebäude des Bundeshauses eröffnet wurde. Also nahm die Burgergemeinde das Zepter in die Hand und finanzierte am einstigen Hochschulplatz den Neubau. Er kombiniert aussen den Berner Sandsteincharme mit einer Landhausbedachung. Das Innere hingegen hat den Burger Rudolf von Fischer in einer Festschrift von 1985 an einen «Louis-XVI-Stil konservativer Prägung» gemahnt. Von der anderen Seite der Kirchenfeldbrücke Das Casino ist nun seit 100 Jahren die Stätte von Berns Orchesterkonzerten. Hornist Olivier Darbellay vom BSO ist zwar wesentlich jünger als das Gebäude vor der Kirchenfeldbrücke, hat aber dennoch ein spezielles Verhältnis dazu. Aufgewachsen an den englischen Gärten auf der anderen Seite der Aare, behielt er es stets im Auge. Und als Spross einer musikbegeisterten Familie wurde er schon mit sechs oder sieben Jahren an Konzerte mitgenommen. Seine ersten Erlebnisse auf der anderen Seite des Dirigenten hatte er später mit dem Konsi- und dem Schweizerischen Jugend­ sinfonieorchester, bis heute sind unzählige Auftritte im BSO dazugekommen. «Der Saal hat eine angenehme Akustik und hebt sich gegenüber den polyvalenten Sälen in Basel oder Zürich aus dieser Zeit ab», findet er, «allerdings ist der Raum fast zu weich und zeichnet zu wenig präzise.» Will heissen: Die Klänge des Orchesters drohen zu verschwimmen. Ein neuer Bühnenboden schafft diesem Problem seit letztem Sommer merklich Abhilfe. Das Casino ist nicht nur ein Glücksfall für das Orchester. Während akustische

Anpassungen möglich sind, lassen sich die Säulen nicht wegoperieren, die auf vielen Balkonplätzen die Sicht auf das Orchester verdecken. Ein neuer Konzertsaal mit moderner Architektur und Akustik wäre optimal für das BSO, das findet auch Darbellay. «Das Casino hat aber einen gut klingenden Saal, und darum ist der Leidensdruck zu klein, als dass in absehbarer Zeit etwas in die Richtung eines Neubaus passieren würde.» Totaler Einsatz auf der Bühne Zur 100-Jahr-Feier spielt Violinistin Patricia Kopatchinskaja mit dem BSO ein Jubiläumskonzert und die Tage zuvor zwei weitere Symphoniekonzerte. Oli­ vier Darbellay, der nicht nur Orchesterhornist ist, sondern auch die Geige spielt, freut sich auf das Wiedersehen mit der Moldawierin, mit der er bereits in kleineren Formationen einige Male zusammengespielt hat. Ob ihrer Energie gerät er ins Schwärmen: «Ihr totaler Einsatz auf der Bühne macht sie fast einzigartig. Sie wirft sich immer mit Haut und Haar in die Auftritte.» Michael Feller • Abokonzerte: Hermann Gœtz, Ouver­türe zu «Der Widerspenstigen Zähmung»; Felix Mendelssohn, Violinkonzert e-Moll (op. 64); Wolf­gang Amadeus Mozart, Symphonie Nr. 40 g-Moll (KV 550). Do., 7., und Fr., 8.5., 19.30 Uhr • Jubiläumskonzert: Georg Friedrich Händel, Orgelkonzert g-Moll (op. 4/1); Johannes Brahms, Violin­konzert D-Dur (op. 77); Wolfgang Ama­deus Mozart, Symphonie Nr. 40 ­g-Moll (KV 550). Sa., 9.5., 19.30 Uhr \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Kultur-Casino Bern, Grosser Saal www.bernorchester.ch


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