Berner kulturagenda 2009 N° 37

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Regis Hertrich

Philipp Zinniker

N°37 Donnerstag bis Mittwoch 10. bis 16.9.2009 www.kulturagenda.be

Giacomo Puccinis «La Bohème» im Stadttheater Bern

Die Tiger Lillies spielen in der Dampfzentrale

Puccini ist Garant für hemmungsloses Schwelgen in schönen Melodien und tragisch endende Liebesgeschichten. Auf dem Matratzenberg in der Künstlermansarde bangt Rodolfo (Hoyoon Chung) um seine todkranke Geliebte Mimí (Tamara Alexeeva).

All die Huren und Taugenichtse, die sie in ihren Liedern besingen, sind ebenso Mitglieder der Tiger Lillies wie die drei Musiker aus Fleisch und Blut.

Lustig ist das Künstlerleben

Derb, schräg, komisch

Das Stadttheater Bern eröffnet seine Saison mit einem Kracher im Musiktheater. Die junge Regisseurin Mariame Clément hat Giacomo Puccinis Oper «La Bohème» frisch inszeniert.

Für den guten Geschmack hatten sie noch nie viel übrig. Höchstens, wenn es darum geht, ihn möglichst weit hinter sich zu lassen. Trotz ein wenig Altersmüdigkeit auf der neuen Platte: Live sind die Tiger Lillies nach wie vor eine fulminante Truppe.

Elegante Premierengäste strömen ins Theater – gezeigt wird eine Oper über das Leben in der Wagenburg des Zaffaraya. Das Leben des Bürgerschrecks als Unterhaltung für das Bildungsbürgertum. Eine groteske Vorstellung? Ganz ähnlich verhält es sich mit «La Bohème»: Die romantische Verklärung des vogelfreien, aber kärglichen Künstlerlebens hat Generationen bestens amüsiert. Nichts gegen Romantik! Aber wenn der Poet Rodolfo seine Manuskripte Blatt um Blatt in den Kanonenofen stopft, damit er und seine Freunde in der heruntergekommenen Mansarde für einen kurzen Moment nicht frieren müssen, löst sich die Romantik rasch in Rauch auf. Die armen und anarchischen Künstler Rodolfo (gespielt vom Koreaner Hoyoon Chung), Marcello (Ensemble-Mitglied Robin Adams), Colline (Carlos Esquivel) und Schaunard (Gerardo Garciacano) hausen hoch über den Dächern von Paris. Sie frieren und haben nichts zu essen, der Vermieter will Schulden eintreiben. Rodolfo und die Nachbarin Mimí (gespielt von der Russin Tamara Alexeeva) begegnen und verlieben sich. Im Café Momus auf dem Weihnachtsmarkt in Quartier Latin versucht man, gemeinsam der kalten Tristesse zu entfliehen. Marcello erobert seine Exgeliebte Musetta (Daniela Bruera) zurück, die sich einen reichen älteren Lover angelacht hat. Diesem Alcindoro (Lionel Peintre) überlassen die fröhlichen Zechpreller das Bezahlen. Es geht weiter mit alltäglichen Sorgen wie Eifersucht, dem Ringen um künstlerische Inspiration und dem ewig fehlenden Geld.

Für die Inszenierung zeichnet die iranisch-französische Regisseurin Mariame Clément verantwortlich (im bewährten Gespann mit der Ausstatterin Julia Hansen), die in Bern schon mit «Il viaggio a Reims», «La Traviata» und «Il barbiere di Siviglia» aufgefallen ist. Clément: «‹La Bohème› ist sehr schön, aber auch sehr schwierig. Weil alle eine Idee im Kopf haben, wie diese Oper sein sollte. Es herrscht akute Kitschgefahr.» Mit dem Ende des ersten Aktes ist ihr ein überraschender Geniestreich gelungen, den man mit eigenen Augen sehen muss. Wenn die frisch verliebten Herzen von Rodolfo und Mimí im Duett dem siebten Himmel entgegenschweben, tut sich auf der Bühne wahrhaft Wundersames. Witz und Pathos trinken Brüderschaft Puccinis Partituren zeichnen sich dadurch aus, dass alles sehr genau notiert ist, wie Chefdirigent Srboljub Dinic´ erläutert: «Er beschreibt jedes Tempo, jede einzelne Klangfarbe.» Wenn Puccini vierfaches «piano» verlangt, wird Dinic´ seine siebzig Orchestermitglieder ganz schön im Zaum halten müssen. Nicht zu reden von gegen hundert Chorleuten samt Kinderchor der Könizer Musikschule. Die rund zweistündige, in vier Bildern durchkomponierte «Bohème» gehört zu den meistgespielten Werken der italienischen Oper und wurde 1896 uraufgeführt. Als Vorlage diente Giacomo Puccini der Roman «Les scènes de la vie de bohème» von Henri Murger. Wie die grossen Impressionisten mit dem Pinsel, vermochte es Puccini mit seinen Kompositionen, leblosen Dingen und alltäglichen Vorgängen Poesie ein-

zuhauchen. Selbst schwer Erträglichem verlieh er eine Leichtigkeit und durchwebte seinen Klangteppich stets mit leuchtenden Fäden des Humors. Auch wenn in seinen Opern der Tod allgegenwärtig ist, seine Melodien sind unsterblich schön. Puccini, der sich mit 33 in Torre del Lago an der toskanischen Riviera niederliess, war reich und berühmt geworden mit seinen Geschichten über Armut und unglückliche Liebe. Komponieren, lieben, essen, trinken … Giacomo Puccini komponierte im Stil des 19. Jahrhunderts und haderte sehr damit, dass es ihm nicht gelang, den Anschluss an die neue Zeit zu finden. Er studierte eifrig die Partituren von Schönberg, ohne sie zu verstehen. Privat liess Lebemann Puccini nichts aus. Er liebte schnelle Autos, schöne Häuser, gutes Essen und Trinken, und seine zahlreichen Frauengeschichten sind legendär. Als er in Paris weilte, schrieb der in Lucca geborene Komponist nach Buti, ein kleines Städtchen in den nahen Hügeln, man möge ihm postwendend von dem unvergleich­ lichen Olivenöl schicken, nichts anderes könne sein Heimweh besser lindern. Eines seiner Laster hat dem passionierten Raucher mit knapp 66 Jahren das Leben gekostet. Er starb 1924 in Brüssel, wo man vergeblich versucht hatte, seinen Kehlkopfkrebs zu operieren. Anders Mimí in der «Bohème»: Während ihre Freundin Musetta versucht, ihren letzten Schmuck zu verhökern, um Medizin für die Todkranke kaufen zu können, erlischt Mimís Lebenslicht leise in der ungeheizten Mansarde. Christoph Hoigné \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Stadttheater, Bern Premiere: Mi., 9.9., 19.30 Uhr www.stadttheaterbern.ch

Vom feinen Hut und vom edlen Zwirn sollte sich niemand täuschen lassen: Denn gute Manieren gehen den Tiger Lillies völlig ab. Derb sind ihre Lieder, schräg und komisch die Auftritte. Eine Freakshow eben, so wie auch die aktuelle CD heisst. Tiger Lillies’ Kuriositätenkabinett besteht in erster Linie aus drei Musikern. Da ist einmal der Sänger und Gründer der Band, Martyn Jacques. Geschminkt als Clown betritt er die Bühne und sieht in dieser Aufmachung auf den ersten Blick durchaus liebenswürdig aus. Ein Eindruck, der gerade mal so lange anhält, als er seinen Mund hält. Kaum setzt er mit unschuldiger Kastratenstimme und dem Akkordeon in der Hand zum ersten Song an, ist es vorbei mit der Gemütlichkeit. Es tritt seine Vorliebe für die dunkelsten Abgründe des Lebens zutage. Genüsslich zerrt er sie ins grelle Scheinwerferlicht der Bühne. Die Grenzen des guten Geschmacks Begleitet wird Jacques von Adrian Huge. Dieser drischt auf sein Recyclingschlagzeug ein, dass es nur so scheppert. Mit Vorliebe bearbeitet er sein Instrument mit zwei Gummihämmern. Ein andermal hängt er Wunderkerzen daran und lässt sie zum Song «Start a Fire» abbrennen. Dritter im Bunde ist Adrian Stout. Dieser bedient den Bass und nimmt hie und da auch die Singende Säge zur Hand. Zusammen ergibt das einen Sound, der rumpelt wie jener von Tom Waits und scheppert wie eine betrunkene Zigeunerkapelle. Neben den drei Musikern in Fleisch und Blut gehören zu den Tiger Lillies ebenso all

jene, die sie in ihren Liedern besingen. Ugly Joe ist einer von ihnen: so hässlich, dass jeder Spiegel zersplittert, in den er blickt. Wenn Martyn Jacques aber vom dreibeinigen Jake singt und ihn als Missgeburt und Abschaum bezeichnet, ist die Grenze des guten Geschmacks erreicht. Aber darum scheren sich die Tiger Lillies einen Deut. Genau so fern liegt ihnen Political Correctness. Das Verhältnis zu all den gestrauchelten Figuren der gesellschaftlichen Rumpelkammer schwankt zwischen abgrundtiefer Verachtung und zärtlicher Nähe. Ein Hauch von Altersmüdigkeit Die Tiger Lillies feiern heuer zwanzig Jahre Bühne. Das geht auch an einer so formidablen Truppe, wie die Briten sind, nicht spurlos vorüber. Auf den jüngsten CD-Produktionen ahnt man einen Hauch von Altersmüdigkeit. Zwar sind Musik und Texte nach wie vor ausgezeichnet: skandalös, überraschend und urkomisch. So wie man es eben gewohnt ist von den Tiger Lillies. Und genau da liegt das Problem. Was fehlt, ist der letzte Biss, ein Quäntchen Unvorhersehbarkeit: Alles bewegt sich im fein säuberlich eingezirkelten TigerLillies-Universum. Das Überschreiten von Geschmacks- und Genregrenzen ist zu sehr Programm. Zum Spektakel reicht es allemal noch, das haben die Briten zuletzt im Frühjahr an ihrem Konzert in der Roten Fabrik in Zürich bewiesen. David Loher \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Dampfzentrale, Bern So., 13.9., 20 Uhr www.dampfzentrale.ch


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