Berner kulturagenda 2009 N° 44

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Kunstmuseum Bern

Christian Lichtenberg

N°44 Donnerstag bis Mittwoch 29.10. bis 4.11.2009 www.kulturagenda.be

Festival «Zoom in» im Berner Münster

Giovanni Giacometti im Kunstmuseum

Konzentriert sich auf das Wesentliche, bleibt aber für alles offen: Christian Kobi, Saxofonist und Leiter des Festival­s «Zoom in».

Technisch betrachtet, hat Giacometti «nur» Strich neben Strich gesetzt. Doch aus seiner «Sommerwiese» (1910) strahlt die Hitze des Bündner Sommers.

Kunst der Entscheidung «Der Kampf um das Licht» «Das Prinzip Improvisation kennt jeder Mensch aus seinem Alltag. Es geht darum, kurzfristig Entscheidungen zu treffen und auf Situationen sinnvoll zu reagieren», lautet Christian Kobis’ einfache Formel dafür, welchen Grundsätzen frei improvisierende Musikerinnen und Musiker auf der Bühne folgen. Den Prozess, aus dem Moment Musik zu erfinden und sinnvoll zu ordnen, bezeichnet der Initiator und Leiter von «Zoom in» als «instant composing». Dabei werden vor dem Auftritt keinerlei musikalische Konzepte definiert. «Unsere einzige Abmachung besteht darin, wie lange wir spielen werden», sagt der Saxofonist über sein am Sonntag anstehendes Duo-Konzert mit der Pianistin Sylvie Courvoisier, einer der bekanntesten Grenzgängerinnen der musikalischen Avantgarde. Intuitiv mit Blick fürs Ganze Musik machen ohne Netz und doppelten Boden also? Kobi relativiert: «Natürlich spielen wir nicht aus dem Nichts heraus – jeder Musiker bringt seinen persönlichen Rucksack mit. Die tägliche Beschäftigung mit neuen Klängen und Spieltechniken schult das Gefühl für formale Zusammenhänge und sinnvolle Reaktionen. Improvisation hat einen stark intuitiven Charakter – aber nicht nur. Über der spontanen Äusserung darf der Blick für das grosse Ganze nicht verloren gehen. Im Vordergrund steht immer das Kunstwerk.» Das Publikum indes ist angehalten, sich mit offenen Ohren auf die Dinge einzulassen, die da kommen mögen: das Vo-

kalensemble Millefleurs zum Beispiel, eine international besetzte, ebenfalls frei improvisierende und als solche einzigartige Grossformation. Oder der Perkussionist Christian Dierstein, dessen Soloauftritte stark von aussereuropäischer Musik beeinflusst sind. Suche nach dem Lebenssinn Eine Abweichung vom Konzept der Improvisation, wenn auch nur eine scheinbare, bildet die 1988 uraufgeführte Raumkomposition «La lontananza nostalgica utopica futura» von Luigi Nono, dem wohl bedeutendsten italienischen Komponisten der Nachkriegszeit. Zentrales Thema des Werks, das durch eine von Notenständer zu Notenständer wandelnde Geigerin verkörpert wird, ist das ziellose Umherstreifen des Menschen auf der Suche nach dem Lebenssinn. Die in Bern bestens bekannte, brillante Violinistin Patricia Kopatchinskaja spielt diesen – von Nono ausnotierten – Solopart, während Klangregisseur Volker Böhm mit Klangfragmenten ab achtspurigem Tonband improvisierend auf sie zu reagieren hat. Sicher: So viel Unberechenbarkeit ist eine Herausforderung, auch fürs Publikum. Woran kann man sich halten? «Gebt euren Sinnen eine Chance. Jeder kann sich sein eigenes Bild machen.»

Gisela Trost

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Münster, Bern Fr., 30.10., bis So., 1.11., 20 Uhr www.zoominfestival.ch

Er habe, lobte einst die «NZZ», zusammen mit Amiet die Schweiz auf van Gogh vorbereitet. Inzwischen steht Giovanni Giacometti jedoch im Schatten seines Sohnes Alberto. Das Kunstmuseum Bern gibt nun Gelegenheit, in den wunderbaren Farbkosmos von Giacometti senior einzutauchen. Man möchte den Satz schon wieder streichen, weil jeder Artikel in Krankenkassenheftli und jedes Rezept für Kürbissuppe im Moment so anfängt. Aber dann muss man eben doch zugeben, dass nur wenig besser passt bei Giacometti, als das Kunstmuseum für sein Timing zu loben: Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, den Bündner auszustellen als ab Ende Oktober. Die Nächte werden länger und der Nebel steht uns auch tagsüber vor der Sonne. Das Timing stimmt auch in einem weiteren Punkt. Das Publikum kann nachvollziehen, was die gutbetuchten Sammler bereits getan haben: Giovanni Giacometti wiederentdecken. Seit die Preise für Bilder von Ferdinand Hodler und Cuno Amiet, Freunde und Weggefährten des Bündners, gestiegen sind, erzielt auch Giacometti (1868–1933) neue Rekorde an den Auktionen. Die drei gelten als wichtigste Neuerer der Schweizer Malerei um die Jahrhundertwende. Weltoffen und neugierig Anders als Amiet oder Hodler reiste Giovanni Giacometti aber deutlich weniger. Nachdem er seine Studienzeit in München und anschliessend in Paris aus Geldgründen hatte abbrechen müssen, kehrte er zurück nach Stampa, ein kleines Dorf im Bergell, wo er seine Familie gründete. Die lieferte ihm später, neben dem Dorf und der Bergwelt, die wichtigsten Motive für seine Bilder, unermüdlich, immer und immer wieder. Man darf aber nicht glauben, man habe es bei Giacometti deswegen mit einer

Art genialischem Eremit zu tun. Der Bündner war weltoffen, belesen und neugierig. Letzteres wird in der Berner Ausstellung augenfällig. Die Bilder sind nach Motiven geordnet, weshalb nebeneinanderhängende Exponate teils Jahrzehnte auseinanderliegen. So ist deutlich zu erkennen, welche Entwicklungen Giacometti durchlief und wie er sich immer wieder an neuen Strömungen der Malerei versuchte. Am Symbolismus, beispielsweise, oder am Expressionismus, wobei er in beide Strömungen nur kurze Ausflüge machte. Er hatte sein Thema längst gefunden. Monate im Schatten «Für uns sind die trüben Tage auch vorbei und die Sonne scheint nun wieder auch durch unsere Fenster. Da weiss man, was für ein Leben in den Sonnenstrahlen liegt», schrieb Giacometti in einem Brief. «Ich ertrage gerne diese zwei Monate im Schatten, um diesen Augenblick zu geniessen.» Stampa liegt von November bis Mitte Februar im Schatten. Im Grunde ein Wahnsinn für einen Maler, der sich selbst als «Koloristen» bezeichnete. Kein Wunder also, dass der fleissige Briefeschreiber den «Kampf um das Licht» als «die Triebfeder meiner Arbeit» bezeichnete. Das ist es, was die teils erstaunlich kleinen Bilder Giacomettis zu einer intensiven Erfahrung macht. Gerade weil er es jedes Jahr monatelang entbehren musste, erfasste Giacometti die Lebensnotwendigkeit von Licht schärfer als andere. Die Gestaltung des Lichts im Bild

ist nicht bloss ein weiteres Stilmittel, sondern ein eigentlicher Kern. Und Giacometti, der seinem später viel berühmteren Sohn Alberto als erster Lehrer diente, war ein Meister des Lichts. Seine «Sommerwiese» (1910) gibt über ihre teils schweren Farben so viel Hitze ab, dass man sich unweigerlich an das Gefühl erinnert, in der trocken wabernden, würzigen Luft über einer ebensolchen zu stehen. Und die «Wintersonne» (1926) breitet nicht nur ein wunderbares Panorama aus, sondern verströmt auch ein so intensives Strahlen der vom Schnee reflektierten Sonne, dass man sich unwillkürlich fragt, ob die Sonnenbrille auf der Nase sitzt oder nicht. Deshalb der klischierte Anfang mit den Nächten und dem Herbstnebel. Sie bringen Giacometti einfach noch deutlicher zum Leuchten als sonst. Silvano Cerutti \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \u\n\g\ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ s Kunstmuseum, Bern Verlo

Vernissage: Do., 29.10., 18.30 Uhr Ausstellung bis 21.2.

Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte, Winterthur

Schwer vorhersagbar, was am Festival «Zoom in» im Berner Münster zu hören sein wird. Sicher ist, dass auch die sechste Ausgabe mit hochkarätigen Musikerinnen und Musikern aus dem Feld der freien Improvisation aufwartet. Und mit Patricia Kopatchinskaja die Einzige, welche ab Noten spielt.

«Wintersonne», (1926). Gleissende, blendende Intensität der Farbe.


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