Xenia Häberli
Christoph Hoigné
N°45 Donnerstag bis Mittwoch 5. bis 11.11.2009 www.kulturagenda.be
Sprechkonzert «Stottern und Poltern» im Schlachthaus Theater
Stiller Has startet seine Konzerttour im Berner Bierhübeli
Michael Pfeuti, Franziska von Fischer, Krishan Krone und Margrit Rieben (v.l.) stottern und poltern sich durch das Sprechkonzert.
Seinen Künstlernamen hat Endo Anaconda von den grössten Schlangen der Welt abgekupfert. Der charismatische Sänger kann faul sein wie eine Katze, stur wie Büffel und in seinen dadaistisch-poetischen Liedern offenbart er die empfindliche Seele eines Kolibris.
Gefangene Wörter
Hase frisst Steinbock im Hirschen
In «Stottern und Poltern – ein Sprechkonzert» suchen Ursina Greuel, Guy Krneta und Christian Zehnder nach der Schnittstelle zwischen Wort und Klang. Die Gruppe Matterhorn Produktionen bürstet ein Tabuthema gegen den Strich.
Im Emmental kam Endo Anaconda zur Welt, ins Emmental verzieht sich der Stadtwanderer zum Abschalten. Und ins Oberland, wenn er mit dem Stillen Has am Vorabend des Tourstarts das neue Programm «So verdorbe» testen will.
«Sprache ist auch Musik», ist Ursina Greuel überzeugt, «sie ist mehr als nur Informationsträger.» So sind denn die Stücke der Gruppe Matterhorn Produktionen um die Regisseurin und den Autoren Guy Krneta auch zunehmend musikalisiert worden. (In der «Fondue Oper» aus dem Jahr 2008 spielte Till Löfflers Musik eine Hauptrolle.) Im aktuellen Projekt, das Anfang Oktober in der Kaserne in Basel Premiere feierte und nun ins Schlachthaus Theater nach Bern kommt, treiben die Kultur-Bergler das Spiel mit Musik und Sprache auf den Gipfel. Getextet und komponiert von Guy Krneta und dem Basler Musiker und Stimmakrobaten Christian Zehnder, lotet das «Sprechkonzert» die Grenzen von Wort und Klang aus. Laute klonen und dehnen Menschen, die unter der Sprachstörung des Stotterns leiden, wiederholen oder dehnen Laute so, dass der Redefluss gestört wird. «Uns interessierte weniger der Stotterer als Person als vielmehr die Sprachstörung und ihre spezifischen Eigenschaften, die wir als musikalisches Stilmittel verwenden», erklärt Ursina Greuel. Dabei werde das Stottern durch die Formalisierung nicht etwa verharmlost. Die Theaterschaffenden haben sich im Vorfeld intensiv mit der Sprachstörung auseinandergesetzt, mit Logopädinnen und Betroffenen gesprochen. In der Inszenierung selbst werden assoziativ Zeichnungen von stotternden Kindern projiziert. Im Fokus des Interesses der Gruppe Matterhorn Produktionen stand vor allem der Moment, in dem eine Betroffene
oder ein Betroffener einen sogenannten Block hat. Ein Stotterer hat kein Bewusstsein über die Länge dieses Augenblicks, in dem ihm die Wörter im Mund hängen bleiben. Was passiert da genau? Guy Krneta und Christian Zehnder suchten einerseits aus der Sicht der Betroffenen nach Antworten und beschäftigten sich andererseits von sprachphilosophischer Warte aus mit dem Thema. Zwei Musiker, zwei Schauspieler Auf der Bühne treten nun der Kontrabassist Michael Pfeuti und Margrit Rieben an den Snaredrums in einen Dialog mit den beiden Schauspielern Franziska von Fischer und Krishan Krone. Die Szenerie zeigt keinen konkreten Raum. «Ich ging von einem Konzertsetting aus, das durch Licht eingegrenzt wird», erklärt Regisseurin Greuel. In das Projekt haben auch Stottererwitze Eingang gefunden. Ein heikler Punkt, sehen doch manche dies als klare Grenzüberschreitung. Greuel relativiert: «Die Witze sind Teil des Stücks, das auch zur Enttabuisierung des Stotterns beitragen kann. Man soll lachen dürfen, ohne dass man die Betroffenen damit angreift.» Zudem gehen die Witze in den meisten Fällen nicht auf Kosten der Stotternden, sondern der Nichtstotterer, wie zum Beispiel dieser: «Sag mal, stottert dein Bruder immer so? – Nein, nur wenn er spricht.» Simone Tanner \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Schlachthaus Theater, Bern Do., 5.11., bis Sa., 7.11., 20.30 Uhr und So., 8.11., 19 Uhr www.schlachthaus.ch
Hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht. Dampfende Misthaufen parfümieren die kristallklare Nachtluft. Über das Simmental spannt sich ein Firmament, das Städtern den Atem raubt. Grosser Bär und Kleiner Bär haben ihre Fixsterne poliert, vor dem Hirschen frieren die Leute fröhlich in der Schlange. Hier im Säli der kleinen, feinen Beiz in Erlenbach macht das Quartett um den Berner Sänger und Mundartpoeten Endo Anaconda erste Versuche am lebenden Publikum – bevor Stiller Has zum Tourstart das Berner Bierhübeli stürmt. Es ist eine besondere Nacht: Aller Halloween-Firlefanz ist weit weg, aber Allerseelen dräut zwischen den nahen Felswänden. «Mutterboden» im Emmental Der Saal ist klein, proppenvoll und gemütlich. Am Tannentäfer hängen Fotos, Schwarz-Weiss-Bilder von einem Viehmarkt. Kühe von vorn und hinten, skeptische Bauern im Schneeregen. Hinter der Bühne prangt ein mächtiges Geweih. «Es hat Steinbock zum Znacht gegeben», verrät Endo Anaconda, als die Hasen die Bühne erklimmen. «Das war sehr lecker, aber für Schifer Schafer ein Problem – sein Sternzeichen ist Steinbock.» Schafer, dieser schüchterne stille Schaffer und langjährige Weggefährte, hat die neue CD produziert. Auf seinem Gitarrenteppich kann sich Anacondas Stimme winden wie die Riesenschlange, deren Namen er entlehnte. «Schifer», sagt Endo, «ist die halbe Band.» Der Rest besteht aus der quecksilbrigen blonden Bassistin Salome Buser und dem soliden Markus Fürst am Schlag-
zeug, beide aus Basel und seit der letzten Tournee mit von der Partie. Ein Urviech auf der Bühne In der «Hirsch-Ku» gehts nun tierisch los. Anaconda, der seine grünbraunen Augen meist geschlossen hat und nur gelegentlich einen Hundeblick ins Publikum wirft, hat schlecht geträumt und bittet um Verzeihung für alle Viecher, die er gequält habe. Nun, wir wissen, dass der charismatische Sänger sich in seinem Refugium im Emmental («mein Mutterboden!») entspannt, indem er mit dem Diana-Luftgewehr herumballert. «Aber nur auf Scheiben – nie auf Lebewesen!» Am liebsten jedoch sitzt er dort in der Laube und geniesst die «Showtime»: das Heraustreiben der Kühe in der Früh, das Reintreiben vor der Dämmerung. Ein Handy-Funkloch macht die Kontemplation auf 1110 m.ü.M. vollkommen. Er sei ein leidenschaftlicher Stadtwanderer und Beobachter, sagt Anaconda. Im Emmental hingegen, wo er 1955 geboren wurde und seine ersten Jahre erlebte, wandere er selten. «Da fahr ich eher mit dem Auto in den Sternen, fein essen.» Volljährig, aber nicht ganz erwachsen «Braucht jemand einen gebrauchten Weihnachtsbaum?», fragt Endo ins Publikum, «ich habe alle Abfuhrdaten verpasst.» Und dann legt er los mit dem Titelsong der neuen CD «So verdorbe». Gesteht, dass er den Samichlous erschossen habe. Und beklagt, dass er immer «zviel oder zweni, aber nie gnue» habe. Besingt im schönsten Song der neuen Platte seine Liebe zur jungen Justine. Der hübschen Frauen wegen sei er
nicht nach Ostermundigen gezogen, versichert Anaconda, auch wenn dieser Berner Vorort nicht nur Ursi Andress und Michelle Hunziker, sondern auch TopModel Julia Saner hervorgebracht hat. Stiller Has feiert sein 20-Jahr-Jubiläum. Also ist die Formation längst volljährig. Ist sie auch erwachsen? «Irgendwie sind wir immer noch furchtbare Kindsköpfe», gesteht Anaconda, «und haben die Lust nicht verloren, Neues auszuprobieren.» Für die neue CD wurden fast nur First-Take-Aufnahmen verwendet: «Es darf auch etwas ruppig sein, ich mag dieses Garagenmässige.» Rock’n’roll und Melancholie Endo ist ein bisschen Berner Tom Waits, ein wenig Emmentaler Bob Dylan. Himmeltraurig schön besingt er eine scheiternde Liebe in Venedig. «Mach mi nid schwach. Näbel het’s ou z’Gäbelbach.» Auch wenn seine Texte meist triefen vor Blues und süsser Bitterkeit, der Sound ist satt und rockiger denn je. Der neue Song «Merci» tönt zuerst wie ein Gebet von Hildegard von Bingen. Anaconda bedankt sich artig für alles Mögliche, schlägt aber dann als gewiefter Hoppler beim Refrain einen Haken und fordert inbrünstig: «Aber i wott meh, meh als mönschemüglich isch!» Am Himmel kuschelt inzwischen eine ganze Herde von Schäfchenwolken um den fast schon vollen Mond. Im Hirschensaal ist es tropisch heiss, Anaconda schwitzt wie ein Bär. An der Wand hängt ein Poster des Dichters Friedrich Glauser – ein Seelenverwandter. Unangepasst und verletzlich, oszillierend zwischen Wahnsinn und Genie. Christoph Hoigné \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Bierhübeli, Bern Do., 5.11., und Fr., 6.11., 20 Uhr www.stillerhas.ch