Berner kulturagenda 2009 N° 47

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ZVG

Philipp Zinniker

N°47 Donnerstag bis Mittwoch 19. bis 25.11.2009 www.kulturagenda.be

Das Musical «Sweet Charity» im Stadttheater Bern

Tony Allen bringt sein neues Album, «Secret Agent», zu Bee-flat

Um sie dreht sich alles: Die charismatische Griechin Vasiliki Roussi spielt die kleine Nachtklubtänzerin sweet Charity als unschuldig leuchtende Fee inmitten aufgebrezelter Schlampen. An ihrer Seite: ein wandelbarer Thomas Mathys.

Allen ist Mitbegründer des Afrobeats und vereint in seinem Spiel Jazz, Funk und westafrikanische Rhythmen. Damon Albarn von Blur sagt, der Tony-Allen-Groove habe ihn zum Tanzen gebracht.

Die Unschuld geht doppelt baden Agent Afrobeat «Sweet Charity» gehört nicht zu den bedeutendsten Musicals. Die einfallsreiche Inszenierung von Pascale Chevroton am Berner Stadttheater und die glänzend besetzten Hauptrollen garantieren dennoch unbeschwerte Unterhaltung. «Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.» Zwar dürfte Charity Hope Valentine, die Protagonistin des Musicals, noch nie von Goethe gehört haben, dieses Zitat passt aber zu ihr wie zig andere Klischees, die das 1966 in New York uraufgeführte Musical grosszügig bemüht. Das «Taxigirl» Charity tanzt im Cabaret und träumt mit hartnäckiger Naivität von einer Einbauküche und dem grossem Liebes­glück. Immer wieder fällt sie rein – auf die Männer und ins Wasser. Am Anfang und am Ende des Stücks steht sie pudelnass da und versichert verlegen lächelnd: «Es wird schon alles gut werden.» Sich selber in die Tasche lügen Das Stück des Autors Marvin Neil Simon mit Musik von Cy Coleman und Songs von Dorothy Fields handelt von der weit verbreiteten Eigenschaft vieler Menschen, sich selber etwas vorzumachen. Zum Beispiel, dass dieser oder jener nun wirklich die grosse Liebe sei. Aber eben: Alle Männer sind gleich. Sie nutzen Charity aus – als Kunden des Nachtklubs, in dem sie arbeitet, als Lover und Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft. Wie sagen ihre Kolleginnen so treffend: «Ihr Herz ist so gross wie ein Hotel. Die Kerle gehen ein und aus und lassen ihren Dreck zurück.» Dennoch behält Charity ihre Unschuld, auch wenn sie ihren Namen – Caritas, die Nächstenliebe – möglicherweise falsch verstanden hat. Obschon die Berner Inszenierung nicht mit aufwendiger Kulisse, Chor und Ballett spart, treten nur wenige Personen

aus der Masse hervor. Thomas Mathys überzeugt als «Sonnenbrille», Vittorio Vitale und Oscar Lindquist in einer Dreifachrolle – ein cleverer Schachzug, sind doch ohnehin alle Männer gleich. «Sonnenbrille» macht sich mit Charitys Handtasche aus dem Staub, während sie beinahe ertrinkt. Filmstar Vitale als 007-Abklatsch tröstet sich vorübergehend mit Charity, als ihm seine Geliebte Ursula (Bond-Girl Andress lässt grüssen …) die kalte Schulter zeigt. Der verklemmte Buchhalter Oscar schliesslich kriegt am Vorabend der Hochzeit kalte Füsse – Charity geht schon wieder baden. Überwältigende Vasiliki Roussi Was den Abend ausmacht, alle Kulissen und Tanzszenen in den Schatten stellt und für holzschnittartige Charaktere entschädigt, ist sie: die in Berlin lebende Griechin Vasiliki Roussi. Das MusicalMultitalent schwärmt, träumt, singt, plappert, tanzt, klettert und schwimmt durch den Abend, dass es eine Wonne ist. Sie hat den Sexappeal einer Lolita und spielt mit ihrem unschuldigen Charme locker ein ganzes Rudel Striptease-Kolleginnen an die Wand. Atemlos sieht man zu, wie sie alle Hoffnung auf eine Karte setzt, und beisst sich auf die Lippen, wenn das unausweichliche Scheitern auf sie niederprasselt. Verblüfft beobachtet man, wie die quirlige Roussi auf Baugerüsten herumturnt, im Lift stecken bleibt, filmreif in Ohnmacht fällt, am Baldachin eines Himmelbetts wie ein Eichhörnchen mühelos emporklimmt und sich in Windeseile im Stoff verpuppt.

Die elastisch mitgehenden Musiker des Berner Symphonieorchesters (Leitung: Michael Frei) sitzen sichtbar im Bühnenhintergrund, denn aus dem Orchester- wurde ein veritabler Wassergraben. Text und einzelne Songs sind deutsch, die wenigen musikalischen Kracher wie «Hey, Big Spender» oder «If My Friends Could See Me Now» im amerikanischen Original. Versatzstücke en masse Das Bühnenbild (Jürgen Kirner) schüttet eine ganze Kaskade von Verweisen aus: Der Springbrunnen erinnert an Fellinis «La dolce Vita», die Feuerleitern an die «West Side Story». Damit nicht genug. Eine Tanzszene bezieht sich auf den eks­ tatischen Gottesdienst in «Hair», Robin Belfond kommt in Personalunion als stummer Schutzengel mit Plastikflügeln und als schmieriger Zuhälter wie «Dr. Evil» aus «Austin Powers» daher, überhaupt hat es mehr Referenzen als eigene Geschichte. «Sweet Charity», nach dem 1957 gedrehten Film «Le Notti di Cabiria» von Federico Fellini entstanden, ist ein wahres Füllhorn von Versatzstücken. Zu den glanzvollen Regieeinfällen gehören der Lift, in dem Charity und Oscar stecken bleiben, sowie die Achter­bahn mit dem Wagen in Form von Superman. Während Charity erst zur Retterin des klaustrophobischen Oscars wird, kann der sich als Held aufspielen, wenn sie vor Höhenangst bibbert. Doch das Leben ist kein Filmplakat, Oscar kein Superman und seine sweet Charity eben auch kein Unschuldslamm. Christoph Hoigné \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Stadttheater, Bern Fr., 20.11., und Do., 26.11., Weitere Vorstellungen bis 14.5. www.stadttheaterbern.ch

Die Geschichte des Afrobeats ist auch diejenige zweier Musiker, Fela Kuti und Tony Allen. Sie beginnt Ende der 1960er-Jahre, und für Kuti ist sie Ende der 90er vorbei. Seither erlebt Tony Allen, Grossmeister der Schlagkunst, seinen zweiten Frühling. Es scheint ihm fast die Brillengläser zuzufrosten, so cool sitzt Tony Allen am Schlagzeug. Der da eitel Pose macht, hat einiges zur Musikgeschichte Afrikas und der ganzen Welt beigetragen. Hinter den scheinwerferresistenten Agentenscheiben verbirgt sich einer der Besten seines Fachs, ein Drummer, der Melodien trägt, als wären sie sein Federkleid. Der Mitbegründer des Afrobeats ist Meister der Akzente und setzt sie selbst in den leisesten Zwischenschlägen gekonnt. Tony Allen ist ein Schlagzeuger, bei dem schon das Anzählen groovt. Und was darauf folgt, ist ein Balancestück mit Salti auf dem Grat zwischen Virtuosität und banddienlichem Teamplay. Highlife mit Jazz und Funk Mit 18 begann der Elektromonteur zu trommeln. Wenige Jahre später beeindruckte er Fela Kuti und gründete mit ihm, je nach Zählweise 1969 oder Anfang der 70er, die Band Afrika 70, der er bis 1979 angehörte. Kuti, der leicht egomanische Sohn einer nigerianischen Frauenrechtlerin, hatte schon in früheren Bands eigene musikalische Pfade vorgespurt. Zusammen mit Tony Allen wurde daraus der Afrobeat: Zum Highlife, einer westafrikanischen PopMusik der 60er, kamen Jazz und Funk. Wie es der Name sagt, sind darin die Rhythmen das entscheidende Element. In der Nachkolonialzeit Westafrikas entstanden, war der Afrobeat lange politisch und griff in den Texten die Unterdrückung der Schwarzen durch die europäischen Besatzer auf. Später verstieg sich Fela Kuti zur Behauptung, Kondome seien eine weisse Erfindung

zur Einschränkung der schwarzen Geburtenrate. 1997 starb er an Aids. Paris entdeckt den Afrobeat aufs Neue In seiner Wahlheimat Frankreich feierte Tony Allen Ende der 1990er-Jahre sein Comeback. Plötzlich wollte tout Paris etwas von ihm und vom Chic des Afrobeats. Er arbeitete mit Elektrokünstlern (Doctor L) und vielen anderen zusammen und trat 2007 mit Damon Albarns The Good, The Bad & The Queen in Erscheinung. Auf sein Comeback angesprochen, sagte er kürzlich in der Fachpresse: «Warum die Nachfrage nach Sessions mit mir so gross ist? Keine Ahnung. Ich sitze zu Hause auf meinem Arsch und das Telefon klingelt. Meistens sage ich ja.» Auf seinem neuen Soloalbum, «Secret Agent», spielt Tony Allen den klassischen Afrobeat der 70er-Jahre: Jazzfunk-Rhythmen in flottem Tempo, mehrstimmige Afrogesang-Einwürfe. Dynamik, Spielfreude und Raffinesse des Bandleaders bestimmen die Sprache der Platte. Die Politik hat in der Musik allerdings nicht mehr den Stellenwert von einst. Für seine Tournee bricht Allen mit der chauvinistischen Afrobeat-Konvention und besetzt den Posten des Leadgesangs mit einer Frau: Orobiyi Adunni alias Ayo wurde in Laos von Allen entdeckt. Sie schlägt die Brücke vom traditionellen Yoruba-Gesang zum knisternden R’n’B. Dazu setzt er auf einen Dreier-Bläsersatz und natürlich auf sein eigenes Spiel. Eine beschwingende Mischung. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Turnhalle, Bern. Mi., 25.11., 20.30 Uhr www.bee-flat.ch


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