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Severin Nowacki
N°51 Donnerstag bis Mittwoch 17. bis 23.12.2009 www.kulturagenda.be
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Hildegard lernt fliegen bei Bee-flat
«Clochard» im Theater an der Effingerstrasse
Andreas Schaerer (r.) und seine Band heben mit dem Album «… vom fernen Kern der Sache» zum zweiten Mal ab. Doch den echten Hildegard-Kerosingeruch gibts nur live.
Catherine (Katharina Schlaak, l.) und Lucie (Christin Maria Balogh) sorgen sich um den schlafenden Clochard (Horst Krebs), Antoine (Jan Zierold) hat andere Probleme und ist konsterniert.
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Auf zu neuen Loopings Wie frei ist Freiheit? Mit dem zweiten Album knüpft Hildegard lernt fliegen nahtlos an den erfolgreichen Erstling an. In den ausgeklügelten Kompositionen des Stimmvirtuosen Andreas Schaerer saust die Band durch die Stile. Hildegard lernt fliegen – ein Bandname, der masslos untertreibt. Denn Hildegard fliegt schon längere Zeit stilsicher durch die Lüfte, mindestens seit zwei Jahren, als das erste Album erschien. Wobei sich beim Flug der Berner Band stilsi cher und waghalsig nicht ausschliessen: Diese Musik trudelt elegant durch jaz zige Arrangements aus ganz verschie denen musikalischen Luftschichten, die von Klezmer über Jazzrock bis zum lieblichen Song reichen. Dabei macht das Triebwerk Geräusche, die man sich kaum hat vorstellen können. Spannung und Brüche wie gehabt Der Flugschaudirektor ist Andreas Schae rer. Zusammen mit seiner fünfköpfigen Crew präsentiert er nun den zweiten Streich, «… vom fernen Kern der Sache». Er setzt mit seinen Kompositionen dort an, wo er letztes Mal aufgehört hat. Die Songs sind allerdings noch ein Stück ver trackter geworden, ihre Dramaturgie ist noch etwas theatralischer. Das macht sich bereits beim ersten Stück, «Lanjusto», be merkbar: Spannung baut sich auf, wieder und wieder, und heftige Brüche folgen. Für Andreas Schaerer liegt die wesent liche Entwicklung in der Band: «Wir sind dank den vielen Konzerten in den letzten Jahren musikalisch zusammen gewachsen.» Abseits der Schweiz konn te Hildegard lernt fliegen vor allem in Deutschland durchstarten, und zuletzt tourte die Gruppe in Österreich. Einen weiteren Schub habe der Band der neue Posaunist Andreas Tschopp verliehen. «Er ist sehr bereichernd und hat uns ein paar weitere Briketts in den Ofen ge legt», sagt Schaerer. Der Rest der Band
Dem Theater an der Effingerstrasse gelingt es in «Clochard», einer bekannten Geschichte eine neue Wendung zu geben. Plötzlich kippt der Stoff, der schon als Beziehungsklamotte verfilmt wurde, in eine unerwartete Tragik.
blieb unverändert: Matthias Wenger und Patrick Schnyder blasen in Saxo fone und Flöten, Marco Müller bedient den Bass. Schlagzeuger Christoph Stei ner greift auch mal auf die Schreibma schine zurück. Der Meister der Flugkunst ist und bleibt aber Schaerer selbst. Ihn als Sänger zu bezeichnen, ist, als würde man vom Finsteraarhorn sprechen, aber die Alpen meinen. Er umkurvt mit seinem Organ sämtliche Gipfel der vokalen Lautkunst, kauderwelscht, schnarrt und beatboxt, dass es eine himmelhohe Freude ist. Erst live merkt man, dass die Trompe te im einen Song ja gar nicht echt ist, sondern zwischen Schaerers Lippen herausgepresst. Und es bewahrheitet sich, dass das stupende Tempo seines Mundwerks keine Computertricks bei der Endbearbeitung der Aufnahmen be nötigt. Der kann das wirklich.
Antoine (Jan Zierold) und Catherine Clé ment (Katharina Schlaak) führen eine Galerie in Südfrankreich und ein einge klemmtes Leben. Mühsam stemmt sich Antoine gegen den Konkurs, die Lau nen seines Starmalers, die drohenden Betreibungen. Catherine flüchtet sich in eine Existenz als psychosomatisches Wrack, lebt von Migräne und Tabletten. Hoffnung hegt Antoine einzig, mit sei ner Assistentin Lucie (Christin Maria Balogh) eine Affäre zu beginnen. Was geplant ist als romantisches Tête-àTête in einem Restaurant am Hafen, en det damit, dass Antoine und Lucie den lebensmüden Bastien (Horst Krebs) aus dem Wasser fischen. Der Clochard sah keinen Sinn mehr im Leben, nachdem sein geliebter Hund gestorben war. In den Räumlichkeiten der Galerie kehren seine Lebensgeister zurück und er setzt sich bei den Cléments fest.
Kerosinduft an der Flugschau Live sogar noch besser. Zwar ist das zweite Album ein Gesamtkunstwerk geworden, mit einem wunderbaren Booklet von Peter Mäder und einem wit zigen Videoclip als Zugabe. Doch Hilde gard lernt fliegen ab Konserve zu hören, ist, wie eine Flugschau am Fernseher zu verfolgen. Den Geruch von Kerosin riecht man nur als Zaungast, und bei dieser Band verhält es sich ähnlich. Die Energie, die Hildegard lernt fliegen auf der Bühne an den Tag legt, ist beeindru ckend. Sprühende Funken zu wagemu tigen Loopings! Michael Feller
Charme und Frechheit Es folgt ein schonungsloses Aufdecken ihrer Lebenslügen. Mit einer Mischung aus Charme und Rotz, mit Einfüh lungsvermögen und Frechheit bedient Bastien die Sehnsüchte von Catherine und Lucie. Antoine, verzweifelt um die Rettung seiner Galerie bemüht, muss hilflos mitansehen, wie sich der «Para sit» in seinem Leben ausbreitet, Weis heiten von sich gibt wie «Lieber allein als schlecht gepaart» und Lobreden auf die Natur des Parasiten schwingt. Mit bürgerlicher Moral, an die sich der Auf steiger Antoine klammert, ist dem Pen ner nicht beizukommen. Wenn Ihnen die Geschichte irgendwie bekannt vorkommt, dann wahrschein
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Turnhalle im Progr, Bern So., 20.12., 20.30 Uhr. www.beeflat.ch
lich aus dem Fernsehen. Simone Fü redi, die Dramaturgin des Theaters an der Effingerstrasse, hat ein Stück be arbeitete, das in seiner ersten Fassung von René Fauchois stammt und 1919 unter dem Titel «Aus der Seine ge fischt» uraufgeführt wurde. Heute sind jedoch die beiden Filmversionen «Zoff in Beverly Hills» (mit Nick Nolte, Bet te Midler und Richard Dreyfuss) sowie «Boudu, ein liebenswerter Schnorrer» (mit Gérard Dépardieu) bekannter. An letzterer Verfilmung orientierte sich auch Füredi, als sie die Geschichte für ein kleines Ensemble adaptierte. Komödie mit Psychologie Regisseurin Livia Anne Richard schaute sich die Filme bewusst nicht an, um ei nen eigenen Zugang zum Stück und zu seinem Personal zu bekommen. «Wir haben versucht, nicht um jeden Preis witzig zu sein, sondern die Figuren ganz ernst zu nehmen. Dadurch erhalten sie ihre Brüche», erklärt sie ihren Ansatz. An der Effingerstrasse meistert Horst Krebs die schnellen Wechsel zwischen Rotz und Romantik, die das Charisma und die besondere Herausforderung des Bastien ausmachen. Der Rest des Teams (komplettiert durch Helge Herwerth als Maler Alexandros) belebt seine Charak tere, in dem es die Komödie mit psycho logischer Wahrheit beharkt. Wie sehr sich der Stoff zur Analyse von Befindlichkeiten eignet, zeigt sich an der Tatsache, dass er in jeder Bearbeitung eine andere Wendung genommen hat, obwohl die Geschichte im Grunde stets dieselbe blieb. Die absolute Aussensei terfigur des Clochards liefert einfach eine
perfekte Startrampe für aktuelle Gesell schaftskritik. In Hollywood geriet die, wen wunderts, zu einer seifigen Feier des leichten Lebens (üppiges Kleingeld vor ausgesetzt). In der Verfilmung mit Dépar dieu betrauert der Galerist zu Schluss die verpassten Chancen seines Lebens. Post-Its und Fettecken Die Ansiedlung im Kunstmilieu ist geschickt gewählt. Sie erlaubt gleicher massen Seitenhiebe auf den Kunstbe trieb wie auf die Bürgerlichkeit. Lucie beispielsweise sammelt die Post-Its, auf denen ihr Catherine pedantische Anweisungen gibt. Schliesslich liesse sich auch mit Fettecken Geld verdienen. Und in der angeblichen Kunst-Bohème ist das wildeste, was die Cléments fertig brachten, dass Catherine an der Kunst schule Modell für Antoine stand. Mit den Berechnungen, schönen Fassaden und unterdrückten Gefühlen, die das Geschäftsleben erfordert, haben die bei den ihre Ehe jedoch längst in ein Tief druckgebiet verwandelt. Aus Angst vor der Einsamkeit, erklärt Regisseurin Richard, verbandle man sich immer wieder neu und lande trotzdem stets im selben Strickmuster. «Clochard» funktioniert trotz dieser Thematik als leichtfüssige Komödie, in der zunächst nur Antoines hartnäckige Ablehnung von Bastien irritiert. Erst in der aller letzten Wendung erhält das Stück eine tragische Note, die die ganze Geschichte gegen den Strich bürstet und ihr Publi kum mit der Frage entlässt, wie frei denn Freiheit wirklich ist. Silvano Cerutti \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Theater an der Effingerstrasse, Bern Do., 17.12., bis Sa., 19.12., Di., 22.12., und Mi., 23.12., 20 Uhr Weitere Vorstellungen bis 17.1. www.dastheater-effingerstr.ch