Berner kulturagenda 2010 N° 1

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ZVG

Maria Lenz

N°1 Donnerstag bis Mittwoch 7. bis 13.1.2010 www.kulturagenda.be

Hohe Stirnen mit «Tanze wie ne Schmätterling» im Ono

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Patrik Neuhaus (links) und Pedro Lenz liefern sich in ihrem neuen Programm einen musikalisch-­ erzählerischen Schlagabtausch erster Güte. Worte und Musik sind ihre Fäuste, die Bühne der Ring.

Neville Tranters Puppen als «Dido und Aeneas» im Stadttheater Unterschätzen Sie nie die Ausdruckskraft der mannshohen Puppen mit den Klappmündern. Mit der richtigen (diskreten) Unterstützung spielen sie nicht nur griechische Dramen, sie singen sie sogar.

Coiffeuse trifft Legende Liebestod einer verwöhnten Königin Rechts auf der Bühne sitzt der Schriftsteller Pedro Lenz hinter einem kleinen Tischchen. Den Text vor sich und seinen stechenden Blick ins Publikum richtend, erzählt er in seinem Oberaargauer Dialekt von einem kleinen, schwarzen Jungen aus Louisville, Kentucky. Sein Name ist Cassius Clay – damals noch. Lenz beginnt am Anfang, da, wo der kleine Junge sich entscheidet, Boxer zu werden, um sich wehren zu können. Der filmischatmosphärische Einstieg ins neue Programm, «Tanze wie ne Schmätterling», wird durch das Pianospiel von Patrik Neuhaus verstärkt. Er komplettiert das Duo Hohe Stirnen und sitzt links hinter seinem Instrument. Zwischen Lenz und Neuhaus deutet ein kleines Poster auf den Hauptdarsteller des Abends hin: Muhammad Ali, the greatest. Kindheitserinnerungen Pedro Lenz’ erste Erinnerungen an den grossen Boxer gehen zurück nach Langenthal, zurück in seine Kindheit: «Als ich Kind war, kamen seine Boxmatches morgens um drei Uhr am Fernsehen. Nur wenige der Klasse durften sie sich ansehen. Später hat man Ali dann als Bluffer verschrien.» Erst noch später begriff Lenz, dass Muhammad Ali sein «I’m the greatest»-Gerede bewusst ins­ zenierte. Die Faszination für den Boxer liess ihn seither nicht mehr los. In «Tanze wie ne Schmätterling» begegnet die Sportlegende der Coiffeuse Regula Geiger 1971 in Zürich. Im Jahr, in dem die Schweizer Frauen erstmals an die Urne gehen dürfen, kämpft Muhammad Ali im Zürcher Hallenstadion gegen den deutschen Meister Jürgen Flin. Doch

zuvor will er sich die Haare schneiden lassen. Der Facility-Manager des Hallenstadions empfiehlt Ali seine Kollegin Regula Geiger. Sie kommt aus dem oberaargauischen Madiswil, wo man sogar beim Träumen bescheiden bleibt. Chopin und die Rebellion Immer wieder webt Lenz Ali-Zitate in die Geschichte ein. Des Boxers Kampfmotto «Float like a butterfly, sting like a bee» (Tanz wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene) steuerte den Titel bei. Basierend auf einer guten Recherche, gibt Lenz der Boxlegende und seinem Kontrahenten Flin ein Gesicht. Kontrastierend dazu erfindet er zwei einfache Menschen aus seiner oberaargauischen Heimat. Die einzelnen Szenen reihen sich aneinander wie die Runden in einem Boxmatch. Agil und wendig – wie Muhammad Ali – wechselt Lenz die Er­zählperspektiven und streut dazwischen rhythmische Trainingsszenen ein: «Links, rechts, rechts, links, links.» Perfekt auch das Sparring mit Patrik Neuhaus am Piano. Der Musiker bietet den gesprochenen Worten mit seinem Spiel die Stirn. Zwischendurch übernimmt er gar das Zepter, stimmt mit dem Romantiker Chopin das Thema Ästhetik und Rebellion an, das Lenz weiterspinnt zur Geschichte der bescheidenen, aber emanzipierten Frau und dem selbstverliebten Boxer und Kämpfer gegen die Apartheid. Simone Tanner \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Ono, Bern. Mi., 13.1., 20 Uhr (ausverkauft), und Do., 14.1., 20 Uhr (ausverkauft, Verlosung) www.pedrolenz.ch

Der Puppenspieler Neville Tranter und die Freitagsakademie Bern inszenieren im Stadttheater die Oper «Dido and Aeneas» von Henry Purcell. Das Kammerensemble untermalt dabei mit historischen Instrumenten eine unglückliche Liebesgeschichte. In den späten 70er-Jahren flog der ­Australier Neville Tranter mit seinem «Stuffed Pupped Theatre» nach Holland. In Amsterdam trat er gemeinsam mit anderen Strassenkünstlern im Rahmen des «Festival of Fools» auf – und beschloss, sich definitiv in Holland niederzulassen. Gemäss seinem Credo, dank der Puppen ein besserer Schauspieler zu sein, entwickelte er seine lebensgrossen Figuren ständig weiter. Bald machte er sich einen Namen mit so poetischen wie ausdrucksstarken und intensiven Inszenierungen. Doch seine Klappmaulpuppen können mehr, als den Schauspieler Tranter besser machen: Sie singen auch. Zum Beispiel in Koproduktionen mit der Freitagsakademie, dem renommierten Berner Kammerensemble, das mit historischen Instrumenten die Barockzeit wiederaufleben lässt. Allein mit den Konsequenzen In der letzten Spielzeit präsentierten die Musiker und der Puppenspieler Händels Oper «Acis und Galatea». In dieser Liebesgeschichte aus Ovids «Metamorphosen» wird ein Hirte durch die Boshaftigkeit eines Riesen von seiner Geliebten, einer Nymphe, getrennt. Auch bei der diesjährigen Produktion handelt es sich um ein Musiktheater aus der Barockzeit, das ein antikes Liebesdrama behandelt. «Dido und Aeneas» war die erste und einzige Oper des englischen Komponisten Henry Purcell (1659–1695) – wenn man von seinen ­Semiopern absieht, einer barocken Mischform von Oper und gesprochenem Drama.

Der Librettist Nahum Tate entnahm die Geschichte der «Aeneis» von Vergil. Nach dem Untergang Trojas kommt der Held Aeneas nach Karthago. Die mächtige Königin Dido verliebt sich in den Fremden. Ihre Feindin, eine böse Zauberin, zerstört das Glück, indem sie Aeneas zur Abreise bewegt. Die gekränkte Dido straft ihren Geliebten zwar mit Verachtung, stirbt aber dennoch an gebrochenem Herzen. Vergil hinterfragte die Verantwortung einer höheren Schicksalsmacht, indem er ein Drama zwischen Liebe und Pflichtgefühl entwickelte, das den Menschen mit den Konsequenzen seiner Taten allein lässt. Neville Tranters griechischer Held und seine Königin entsprechen keinem gängigen Schönheitsideal. Ganz bewusst hat er Aeneas mit abstehenden Ohren ausgestattet und Dido ein wenig zu gross gestaltet, um eine Idolisierung zu verhindern. «Es ist sehr wichtig, dass

man sich mit meinen Puppen identifizieren kann», begründet er. Eine Figur hat er dazuerfunden. Es handelt sich um die Katze der Königin. Sie ist fett und faul und versinnbildlicht den dekadenten Lebensstil Didos. Bekanntes Klagelied Purcells Oper in drei Akten enthält fast keine eigenständigen Arien, dafür spielt der Chor eine tragende Rolle. Das bekannteste Stück ist Didos Klagelied «When I am Laid in Earth». Die Sopranistin Susanne Rydén leiht Dido ihre Stimme, der Tenor Georg Poplutz bestreitet den Part des Aeneas. Jede Klappmaulpuppe wird von mindestens zwei Personen bedient, einem Sänger und einem Spieler, der die Puppen bewegt. So entsteht schliesslich die perfekte Illusion, in der die Puppen lebendig werden und uns mit ihrem Schicksal mitleiden lassen. Helen Lagger \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Stadttheater Bern Premiere: So., 10. 1., 18 Uhr Weitere Vorstellungen bis 31.1. www.stadttheaterbern.ch

ZVG

Was, wenn Regula Geiger aus Madiswil dem Boxer Muhammad Ali die Haare schneidet? Worüber spricht die einfache Frau aus dem Oberaargau mit der lebenden Legende? Die Berührungspunkte sind zahlreicher als angenommen, wie das Duo Hohe Stirnen aufzeigt.

Symbiotische Beziehung: Seine Puppen leben durch ihn, und Neville Tranter gewinnt durch sie schauspielerische Ausdrucksmöglichkeiten.


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