Benjamin Würgler
Severin Nowacki
N°15 Donnerstag bis Mittwoch 15. bis 21.4.2010 www.kulturagenda.be
Das Theater an der Effingerstrasse zeigt Fontanes «Effi Briest»
Mode, Tanz und das Sinfonieorchester Variaton in der Dampfzentrale
Effi (Carin Lavey) und Innstetten (Jan Zierold). Die für die Verhältnisse von 1894 emanzipierte Frau ist für «gleich und gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe». Doch «wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein können», dann ist sie für Reichtum.
«Haute Coulture» heisst das neue Programm von Variaton. Das junge Berner Orchester verbindet darin Orchestermusik und Modeschau. g un
Vom Wildfang zur Dame
Tisch mit drei Beinen
Das Theater an der Effingerstrasse bringt Fontanes über hundertjährigen Ehebrecherroman auf die Bühne. Markus Kellers Inszenierung wagt keine Experimente und legt den Fokus auf die Protagonistin. In der Rolle der Effi überzeugt Carin Lavey. Wie ein junges Reh hüpft die lebenslustige Effi (Carin Lavey) vor den Augen des Publikums und dem wachsamen Blick ihrer Mutter (Suzanne Fabian) vom linken zum rechten Bühnenrand des Theaters an der Effingerstrasse und wieder zurück. «Immer Tochter der Luft», seufzt die Mutter halb bewundernd, halb enerviert. Sie ist unverkennbar, die Eingangsszene aus Theodor Fontanes grossem Roman «Effi Briest» aus dem Jahr 1894. Für Thomas Mann einer der wichtigsten Romane überhaupt. Die meisten Zuschauer haben das zum Literaturkanon zählende Werk irgendwann einmal in der Schule behandelt. Es wurde mehrmals verfilmt, unter anderem von Rainer Werner Fassbinder und zuletzt 2009 von Hermine Huntgeburth mit Julia Jentsch in der Hauptrolle. Kritik an der Gesellschaft Fontane übte mit «Effi Briest» harsche Gesellschaftskritik am preussischen Adel des ausgehenden 19. Jahrhunderts und zeichnete ein für diese Zeit emanzipatorisches Frauenbild. Sein Ehebrecherroman erzählt die Geschichte einer Frau, die an den gesellschaftlichen Konventionen zerbricht. Von ihren Eltern zur Ehe mit dem 20 Jahre älteren Landrat Baron von Innstetten gedrängt, vereinsamt Effi allmählich im grossen Haus im Kurort Kessin. In Major Crampas findet sie einen Seelenverwandten und stürzt sich in ein kurzes Techtelmechtel mit ihm. Erst Jahre später kommt Innstetten dahinter. Für den «Mann von Charakter» wiegt der Ehebruch zu schwer, als dass er seiner Frau verzeihen könnte. Seine Prinzipien und
die Regeln der Gesellschaft obsiegen gegen die Menschlichkeit. Er erschiesst Crampas im Duell, verstösst seine Frau und nimmt ihr die gemeinsame Tochter Annie weg. Effi geht darob zugrunde. Der künstlerische Leiter des Theaters an der Effingerstrasse, Markus Keller, hat den dicken Roman auf eine zweistündige Bühnenfassung zusammengekürzt, die den wichtigsten Aspekten des Romans gerecht wird. Während Keller auf viele Motive und Symbole verzichtet, misst er der Handlung und der Fontan’schen Sprache mit ihrem berühmten Plauderton eine umso wichtigere Bedeutung zu. Den Hauptfokus legt Keller in seiner Bühnenadaption auf die Protagonistin und ihre Entwicklung. Überzeugend verwandelt sich Carin Lavey als Effi vom ungestümen, leidenschaftlichen Wildfang in eine Dame der Gesellschaft und endet als gebrochene Frau. Die überschwänglichen Gesten der jungen Effi weichen einer beherrschten Körpersprache und dem zunehmend trauriger werdenden Blick einer einsamen, unglücklichen Frau. Auch die andern Ensemblemitglieder – das Personal der Vorlage wurde auf neun Figuren reduziert – vermögen zu überzeugen, allen voran Robert Runer als Sympathiefigur Vater Briest. Innstetten (Jan Zierold) bleibt als steifer, karrieresüchtiger Prinzipienreiter etwas eindimensional, während er bei Fontane auch liebenswerte Züge aufweist. Auch an anderer Stelle weicht der Regisseur leicht von der Vorlage ab. Theodor Fontane war ein Meister der Andeutungen. Die zahlreichen Auslassungspunkte zeugen davon. So be-
schreibt er die Liaison zwischen Effi und Major Crampas (Helge Herwerth) im Roman nirgends explizit, sondern deutet bloss an. Auf der Bühne des Effingertheaters hingegen wird leidenschaftlich geküsst. Das Bühnenbild (Peter Aeschbacher) ist schlicht bis spartanisch. Die zahlreichen Szenenwechsel werden mit einfachen Mitteln (Vorhänge) und einer geschickt eingesetzten Lichtführung dargestellt. Bloss die auffällig modernen Stühle wollen nicht so recht ins schlichte Setting und zu den historischen Kostümen (Sybille Welti) passen. Nahe am Roman, mit wenigen Ausnahmen Eine wichtige Funktion bekommen die Briefe Effis an ihre Eltern. Laut vorgelesen, lockern sie das Stück auf und übernehmen mal die Rolle des Erzählers, mal beleuchten sie das Innenleben Effis. Experimente wagt Markus Keller in seiner konventionellen Inszenierung keine. Seine Bühnenfassung bewegt sich abgesehen von oben erwähnten Ausnahmen nahe am Roman. Seine Effi bleibt jene aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, so, wie sie Fontane gezeichnet hat, und so, wie sie das Publikum liebt. Am Schluss nimmt Keller die Eingangsszene mit dem herumhüpfenden Mädchen wieder auf. Mutter Briest fragt sich, ob sie wohl am Tod ihrer Tochter auch eine Schuld trifft. Der letzte Satz gehört Briest, Fontanes typischen Auslassungspunkten und dem Zitat, das in die Geschichte einging: «Ach Luise, lass … das ist ein zu weites Feld.»
Simone Tanner
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Theater an der Effingerstrasse, Bern Aufführungen bis 29.4. www.dastheater-effingerstr.ch
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Das Variaton-Orchester will die Orchestermusik entstauben und mit Ausflügen in andere Sparten Jung und Alt in den Konzertsaal locken. Im sechsten Projekt macht es einen Abstecher in die Modestädte New York, Mailand und Paris. Am Anfang war die Diagnose: Die sinfonische Musik geht an Krücken. Sie spricht die jungen Leute nicht mehr an, weil sie immer dasselbe spielt und Angst hat vor dem Mut zum Experiment. Dem wollte das Projektorchester Variaton Abhilfe verschaffen. Der Name deutet es schon an: Anders an die Sache herangehen, als man es von einem Orchester gewohnt ist. Ein Hoch auf die Haute Couture Variaton macht dies mit Ausflügen in andere Musik- und Kunstsparten. Mal verbindet das junge Berner Orchester Klassik und Jazz, mal spürte man den Gemeinsamkeiten mit der Elektro-Musik nach. Nun, im sechsten Projekt, fährt Variaton in Richtung Kunsthandwerk und widmet sich der Mode – «Haute Coulture» heisst das Programm. Hinter dem Wortspiel steckt nicht nur die Modewelt, sondern auch die Hochkultur. Ein Terminus, der einen gleich an ein Sinfonieorchester erinnert. Diesen Zusammenhang bricht das Laienorchester mit Ironie und Innovation. «Bei uns soll das Ganze überzeugen», sagt Flavia Barth von Variaton, die für das Grobkonzept verantwortlich war. Will heissen: Mit einem Profi-Orchester kann man sich in Sachen Intonation nicht ernsthaft messen – also soll es das erweiterte Konzerterlebnis richten. Wie sieht es denn aus, wenn die Musik mit der Mode zusammenspannt? Variaton hat vier junge Modedesignerinnen eingeladen, ihre Kollektionen zu den Klängen des Orchesters zu präsentieren. Und jetzt stöckeln für einmal nicht knochendürre Mannequins über den
Laufsteg, sondern tanzen Schauspielerinnen auf der Bühne in den Gewändern der Designerinnen. Dazu spielt das Orchester Stücke, die Orchestermusiker eigens für die Modeschau komponiert haben und die auf die tänzerische Präsentation abgestimmt sind. Nach dem Prolog (Andrea Stieger und Mirjam Egloff, Mode) bilden die drei typischen Modestädte thematische Stationen im Programm: Mailand (Simon Heggendorn, Komposition, und Linda Zobrist, Mode), Paris (Alexander Sloendregt, Komposition, und Verena Härdi, Mode) sowie New York (Christoph Fey, Komposition, und Jasmin Frei, Mode). Die beiden jungen Choreografinnen Flurina Meier und Michèle Mattle haben die drei Sparten Musik, Tanz und Mode zusammengeführt. Variaton-Sprecherin Flavia Barth beschreibt das Konzept als «Tisch mit drei Beinen», bei dem alle drei Pfeiler gleich lang sein müssten, damit es auch gelingt. Entspannung für die Augen Damit die Augen vor lauter Tanz und Kleider auch mal wieder etwas ruhen können, umrahmt das Orchester die Stationen mit jüngerer klassischer Musik; mit Nino Rota, Arthur Honegger, Claude Debussy und Leonard Bernstein. Schliesslich soll bei all dem edlen Zwirn nicht in Vergessenheit geraten, dass da auch ein Orchester am Werk ist. Die Leitung hat Droujelub Yanakiev. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Dampfzentrale, Bern Di., 20.4., und Mi., 21.4., 20 Uhr www.dampfzentrale.ch