Severin Nowacki
gtz.de
Dendron Edition
N°23 Donnerstag bis Mittwoch 10. bis 16.6.2010 www.kulturagenda.be
Die Lyrikerin Romie Lie wird vom Kanton Bern ausgezeichnet
Fussball-WM in Kulturhäusern
«Die Perser» im Theater an der Effingerstrasse
Zur Lyrik wurde sie praktisch gezwungen, zu ihrem Schaden war es nicht. Romie Lies Gedichte bestechen mit feinfühligen, präzisen Wahrnehmungen.
Fussball scheidet die Geister. Die einen jammern «Oh je!», die andern jubeln «O yeah!»
Königin Atossa (Andrea Gloggner) und Königssohn Xerxes (Armin Koestler) müssen die vernichtende Niederlage des persischen Heeres hinnehmen. Nur wenige haben überlebt.
Die Seismografin
WM?
Torheit der Masse
«Aufwind» heisst der schmale Band, Romie Lie seine Verfasserin. Die Berner Autorin ist nach einer wechselvollen Karriere zu Hochform aufgelaufen mit feinfühlig präzisen Beobachtungen. Dafür erhält sie den Berner Literaturpreis.
Das Kultur-Angebot dünnt sich aus, dafür flimmert die WM über die Leinwand. Doch auf Fussball-Muffel warten einige Oasen.
«Die Perser» ist das älteste überlieferte Drama der Welt. Peter Jecklin und Norbert Klassen vertrauen in ihrer Inszenierung im Theater an der Effingerstrasse auf die Gültigkeit der antiken Weisheit: Im Krieg bleibt die Vernunft auf der Strecke.
2002 erschien ihr erster Gedichtband, «Aufwind» ist bereits das vierte Buch. In der Vorbereitung erhielt sie zudem ein Stipendium des Schweizerischen Literaturinstituts, weshalb sie die Texte mit der Literaturkritikerin Beatrice Eichmann-Leutenegger sichten konnte. Die sehr naturverbundene Dichterin schockierte Eichmann erstmal mit der Nachricht, es stünden 500 Texte aus den letzten zweieinhalb Jahren zur Auswahl.
«Alle, die Fussball, volkstümlichen Schlager und Seidenmalerei langweilig finden, sind im Ono wie immer herzlich willkommen.» Daniel Kölliker ist einer der Veranstalter, die radikal wenig anfangen können mit der Kickerei und deshalb garantiert fussballfreie Kultur bereithalten. Auch in der Dampfzentrale oder in der Cappella finden die Leidensgenossen Zuflucht. Grundsätzlich sind auch Kinos oder Museen eine Möglichkeit, dem Wahnsinn zu entfliehen – «auch wenn wir nicht Fundis sind», wie Judith Hofstetter vom Lichtspiel ergänzt.
Mexikanische Wrestlingmasken bedecken Ohren und Nasen der Schauspieler. Das erstaunt – obwohl das Maskenspiel ein Element des antiken Theaters ist. Die Kampfmasken verunmöglichen Mimik der Schauspieler. «Das Stück ist grausam genug. Die Zuschauer ertragen keine zusätzlichen Gefühle auf den Gesichtern», erklärt Regisseur Peter Jecklin. Zudem werde so mehr Projektionsfläche für die Zuschauer geschaffen. Dies ist auch die Idee hinter dem spartanischen Bühnenbild. Ein Hocker, ein Messer, ein paar Schnupftücher, viel mehr Requisiten sind auf der Bühne nicht vorhanden. «Eine einfache Form verhindert Ablenkung», sagt Jecklin.
Wenn Ihnen gesagt wird, ein Gedichtband behandle das Leben im Ablauf der vier Jahreszeiten, geht es Ihnen vielleicht gleich wie seiner Verfasserin: «Ich fand das langweilig und hatte das Gefühl, mich zu wiederholen.» Trotzdem erhält die Berner Lyrikerin Romie Lie für «Aufwind» eine Auszeichnung, und zwar zu Recht. Doch dazu später mehr. Der Name Romie Lie dürfte vielen nicht geläufig sein, und die Bibliografie der Schriftstellerin, die seit 1981 berufsmässig Autorin ist, nimmt sich dünn aus. Zwei Mal gab es längere Perioden ohne Buchveröffentlichungen. Nach dem ersten Buch, «Liebe Sonja», von 1983 erschien das nächste erst zehn Jahre später, es folgte ein Jahr später ein drittes, dann wieder eine Pause. «Geschrieben habe ich die ganze Zeit über und immer mit 100-prozentigem Einsatz. Doch das Echo der Verlage fiel unterschiedlich aus», sagt Lie. Unfreiwillig Lyrikerin «1992 wurde ich von einer Zecke gebissen», erzählt die Dichterin, «doch erst 1999 wurde die Borreliose diagnostiziert.» Lie kam ins Spital, lag sieben Wochen am Tropf, mit den Spätfolgen der Erkrankung kämpft sie heute noch täglich. «Damals im Spital hatte ich zu wenig Kraft für Prosatexte. Also wich ich auf eine kürzere Form aus», blickt sie zurück. Das positive Echo, das sie fast umgehend auf die Gedichte erhielt, musste sie erst verdauen: «Ich hatte meine Prosa so gehegt und gepflegt. Lyrik entsprach nicht meiner künstlerischen Vision.»
Wahrnehmung des Aussen Entstanden ist eine mehrfache Verdichtung: In der Textform, in der Konzentration der Auswahl, der Aufteilung auf die Jahreszeiten, denen je eine Zeile des titelgebenden Gedichtes zugeordnet wurde. Das liest sich auf den ersten Blick oft wie feinfühlige, persönliche Naturbetrachtungen, doch der Eindruck täuscht: «Es ist weniger mein eigenes Erleben als meine Wahrnehmung der Welt. Ich bin eine Seismografin. Aber es sind nicht meine eigenen Ausschläge.» Dabei beschreibt Lie textlich zwingend, was emotional oft ambivalent bleibt. Das macht «Aufwind» nicht einfach zu einem weiteren Streifzug durch die Jahreszeiten, sondern zu einem fesselnden Blick auf das Leben. Silvano Cerutti \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Weitere Auszeichnungen gehen an: Kurt Marti, Erica Pedretti, Arno Camenisch, Pedro Lenz, Guy Krneta, Christoph Simon und Marco Schibig Preisverleihung und Lesung: Schlachthaus Theater, Bern Di., 15.6., 20.30 Uhr www.romie-lie.ch
Länderspezifische Küche in der Reitschule Vielerorts wird das Programm stark ausgedünnt. Einige tun das eine, ohne das andere zu lassen: Der Kulturhof Köniz zeigt die Fussballspiele, wobei der Kulturbetrieb noch weiterläuft. Zu den fussballmässig ganz angefressenen gehört die Reitschule. In der neuen Küche des Sous le Pont werden ab der zweiten Turnierhälfte Spezialitäten aus den Ländern gekocht, deren Vertreter im Innenhof gerade über die Grossleinwand kicken. Und auf den Leinwänden des Kinos werden donnerstags Filme über Südafrika gezeigt. Das Café Kairo ergänzt die Übertragungen von Donnerstag bis Samstag mit DJs. Auch im Bad Bonn sorgen die DJs nach den Spielen für eine Verlängerung der Feststimmung. Ob Pro oder Contra: Die WM kann beginnen! mfe \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Fussball-Weltmeisterschaft 11.6. bis 11.7.
Alle bringen einander um Zweieinhalbtausend Jahre ist es her, seit der grosse Tragödiendichter Aischylos als griechischer Soldat den Kampf zwischen Griechen und Persern miterlebte: Die Seeschlacht bei Salamis setzte den persischen Expansionsgelüsten ein abruptes Ende. Das persische Heer wurde von den zahlenmässig unterlegenen Truppen der Griechen vernichtet. Aischylos nutzte diesen Stoff für ein Drama über Niederlage und Folgen des Krieges. «Die Perser» ist das einzige Stück der griechischen Antike, das auf einem realen Ereignis und nicht auf einem mythischen Stoff basiert. Aischylos wollte seinen Volksleuten vor Augen führen, wie die Perser durch ihre Rachegelüste und ihre Unvernunft in den Abgrund getrieben wurden. Das Erstaunliche daran: Aischylos versetzt sich in die Lage der Verlierer und warnt die Sieger so
vor der Hybris, vor Hochmut und Grössenwahn. In der Fassung von Matthias Braun von 1961, die die Grundlage der Inszenierung von Klassen und Jecklin darstellt, lösen sich aber die Seiten der Verlierer und Gewinner in eine Masse von einzelnen Menschen, gar von einzelnen Händen auf. «Alle bringen einander um, sogar das Blut will das Wasser umbringen», beschreibt Jecklin. Trotzdem verzichtet das Regieduo darauf, das Stück in einen modernen Kontext zu setzen: «Die zentralen Themen sind zeitlos», sagt Jecklin. Nichts hat sich geändert Der Link zur jüngsten Geschichte ist tatsächlich schnell gemacht. Der Königssohn Xerxes will in einem geerbten Krieg die Niederlage seines Vaters rächen, um sich als würdiger Nachfolger zu beweisen und den Griechen die persische Ordnung aufzuzwingen: Da denkt man gleich an George W. Bush, dessen Vater und den Irak-Konflikt. «Wenn wir uns heute umschauen, hat sich nicht viel geändert», stellt Jecklin fest und nennt es «Torheit der Regierenden». Er sieht uns aber auch alle in Xerxes wieder: «Wir ruhen uns auf Selbstgerechtigkeit aus und lassen uns von Gefrässigkeit leiten.» Ob denn Xerxes ein Bösewicht sei? Jecklin verneint vehement: «Er konnte einfach nicht anders.» Regine Gerber \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Theater an der Effingerstrasse, Bern Do., 10.6., bis Sa., 12.6., und Mo., 14.6., bis Mi., 16.6., 20 Uhr Weitere Vorstellungen bis 1.7. www.dastheater-effingerstr.ch