Mich Meienberg
Christoph Hoigné
N°26 Donnerstag bis Mittwoch 1. bis 7.7.2010 www.kulturagenda.be
Die «contemporary dance nomads» von Loutop zeigen auf der Münsterplattform ihr neues Stück
Margrit Rieben an der langen Nacht der elektronischen Musik
Gemeinsam und doch einsam: Moni Wespi, Kopf und Herz der Tanznomaden von Loutop, träumt davon, ihrer elastischen Hülle zu entschlüpfen. Der verspielte Pierre Bertrand dreht sich in seinem Reifen im Kreis, ohne vom Fleck zu kommen.
In der Dampfzentrale hat Margrit Rieben die Vuvuzela nicht dabei, dafür ihren «Brückengesang». Darin gibt es ein A zu hören, dass zu brummen anfängt.
Surrealer Zauber im Mondschein
Zum Genauhinhören
Die Tanznomaden von Loutop sind wieder da. Auf der Münsterplattform zeigen sie ihr nagelneues Stück, «Attaché», ein Trashmärchen voller Poesie, Magie und bittersüsser Schwere. Eine faszinierende Fusion von Zirkus, Tanz und Musik aus dem Moment.
In der Dampfzentrale erklingt ein Mix zeitgenössischer Kompositionen. Experimentelles kommt von der Berner Schlagzeugerin und Klangkünstlerin Margrit Rieben. Sie hat sich für ihren «Brückengesang» von einer Autobahnbrücke inspirieren lassen.
Der Sound: mal brachial, mal sphärisch Ein melancholischer Typ mit einem Schlafzimmerblick wie der französische Filmstar Jean Reno sitzt inmitten der runden Bühne und lässt kleine Metallringe kreisen. Es ist Klangtüftler Benjamin Chaval, geboren in Marseille. Er bringt eine dicke Saite in Schwingung, lässt eine Kette über seine Trommel schleifen, raspelt mit Stahlwolle über den Tonabnehmer einer Gitarre. Dabei entsteht ein eigenwilliger Soundtrack, der oszilliert zwischen brachialen Industrieklängen und einlullender Sphärenmusik. In einem drei Meter hohen Turm, an den sich eine halbmondförmige Rampe lehnt, versteckt sich sein winziges Labor mit Mini-Keyboard, Mischpult und abenteuerlichen selbst gebauten Klangerzeugern. Vom Turm herunter windet sich eine anthrazitfarben vermummte Figur, eine menschliche Raupe, eingewickelt in einen elastischen Stoff. Sie verrenkt sich in ihrer grauen Hülle und lässt einen spüren, wie gern sie aus dieser Haut fahren würde. Die 33-jährige Zürcherin Moni Wespi ist Kopf und Herz der 2006 gegründeten Compagnie Loutop. «Ausgehend
von einer Vision», sucht sich Wespi die geeigneten Bühnenpartner. «Während der drei Monate Probearbeit mit viel gemeinsamer Improvisation kristallisieren sich dann die einzelnen Charaktere heraus. Unser viertes Stück heisst ‹Abhängigkeit›. Aber es handelt von dem, was davor liegt: der Unmöglichkeit, ei-
Unterwegs in die blaue Stunde Loutop bedeutet: Die Utopie toppen, den Traum leben. Mit drei Wohnwagen, zwei Bussen und einem Lastwagen zieht die Compagnie samt Bühnentechniker sowie Köchin und Kassenfrau in Personalunion bis September durch die Schweiz und Frankreich bis nach Holland. Moni Wespi: « Jeder von uns hat sein eigenes Haus auf Rädern, auch wenn es noch so klein ist.» In jeder Stadt baut die Truppe fürs Publikum ihre Arena auf, ihr einziges Zelt ist das Firmament. Inzwischen hat das Tageslicht der blauen Stunde Platz gemacht, bereits blinkt der Abendstern durchs Laub der Platanen. Auf der Holzbühne rundet sich die Geschichte. Im Lichtkreis der Laterne stehen sich die Tänzerin und der Artist endlich gegenüber. Auge in Auge. Und als sie einen Schritt aufeinander zumachen, erlöschen die Scheinwerfer. Christoph Hoigné Christoph Hoigné
Stellen Sie sich vor, eine Strassenlaterne fährt in der Gegend herum, fremde Hände ziehen aus Ihrer Hose ein langes Kabel samt Telefonhörer oder aus Ihrem langen Kleid schlüpft ein anderer Mensch. Absurde Albträume? Märchenhafte Fantasien? «Attaché», das neue Stück von Loutop, geizt nicht mit surrealen Situationen, nachklingenden Bildern und bildhafter Musik.
nander zu begegnen», sagt sie. Und so kreisen die drei Protagonisten auf der runden Bühne eine Stunde lang umeinander, ohne sich wirklich näherzukommen. Sehnsucht prägt das Grundgefühl, nicht Erfüllung. Der französische Zirkusartist Pierre Bertrand ist der verspielte Junge mit dem Wuschelkopf. Neugierig erkundet er das geheimnisvolle Reich des exzentrischen Klangkünstlers und der Tänzerin. Er spielt mit Metallreifen, die immer grösser werden, lässt sie kreisen, bis sie so gross sind, dass er selber einsteigt und sich herumwirbeln lässt.
Von der Unmöglichkeit, einander zu begegnen.
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Münsterplattform, Bern Do., 1.7., bis Do, 8.7. (ausser 4.7.), 21 Uhr. Nach der Vorstellung Surprise-Act im Ono, Bern www.loutop.com
Diese. Frau. Mag. Vuvuzelas. «Ich bin wohl die Einzige weit und breit», sagt Margrit Rieben und lacht in den Hörer. Während es anderen das Nervenkostüm zerreisst, hört die Berner Schlagzeugerin im Summen der Plastiktröten rhythmische Muster, die aufflackern, um dann im Bienenschwarm der einträchtigen Stadionbeschallung zu verklingen. In der langen Nacht der elektronischen Musik ist der «Brückengesang» von Margrit Rieben eine von vier Kompositionen der Neuen Musik. Sie bringt nicht eine Vuvuzela-Kakofonie auf die Bühne, keine Angst, sondern lässt einen 35-stimmigen Chor aus den Boxen klingen. Rieben bezeichnet ihre Klanginstallation als ein «Stück für vier Lautsprecher». Chor ohne Zusammenhalt In den 16 Minuten von Riebens Stück geht es um genau einen Ton, das Stimmgabel-A. Jeder der Chorsänger hat ihn gesungen, während einer Viertelstunde. Die Stimmen hat Rieben einzeln aufgenommen und danach am Computer übereinandergelegt. Sie hat sich also einen virtuellen Chor gebastelt. Mit dem Resultat: Der Ton, erst rein wie ein Bergquell, entwickelt sich zu einem schmutzigen Teich, weil die einen Stimmen mit der Zeit gegen oben, die anderen gegen unten abweichen. «Plötzlich hört das Ohr Dinge, die gar nie passiert sind», sagt Rieben. Es entsteht ein Vibrieren, das sie an eine Autobahnbrücke erinnert. Und davon ist das Vuvuzelaorchester nicht weit weg. Rieben arbeitet mit ähnlichen Elementen: Die Abweichung des Tones schafft rhythmische und klangliche Strukturen, ob im
Stadion oder im Chor, der nie zusammen gesungen hat. «Brückengesang» ist in Riebens Zweitausbildung der Musik und Medienkunst entstanden, die sie jüngst an der Hochschule der Künste Bern abgeschlossen hat. Jetzt wird das Schlagzeug verkauft Margrit Rieben ist gelernte Schlagzeugerin. Im Aargau lehrt sie ihre Schülerinnen und -schüler zu grooven. In ihrem künstlerischen Schaffen interessieren sie andere Dinge. Darum wird sie demnächst ihr Instrument verkaufen, auf dem sie 21 Jahre lang gespielt hat. «Es ist ein Zeichen des Nicht-mehrschleppen-Wollens», sagt sie. Schlagzeug spielt sie fortan nur noch auf Dingen, die nicht Schlagzeug heissen, auf allerlei Perkussionsinstrumenten. Zum Beispiel anlässlich von Auftritten des Autorenkollektivs «Bern ist überall», an denen sie zusammen mit Christian Brantschen für die Musik sorgt. Zurück in die Dampfzentrale. Margrit Rieben wird nicht nur wegen ihres vuvuzelaähnlichen Autobahn-As dort sein, sie freut sich auch auf den ihr bekannten und von ihr geschätzten Antoine Chessex. Der Schweizer Komponist führt sein Stück «Dust» auf – dabei dreht er drei Violinenspuren live durch den Fleischwolf. Und trotz baldigem Verkauf ihres ehemaligen Arbeitsgeräts wird Margrit Rieben auch «Rind Vol. II» geniessen, ein Stück von How2 & Pez für drei Schlagzeuger. Michael Feller \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\
Dampfzentrale, Bern. Do., 1.7., 21 Uhr www.dampfzentrale.ch