Berner kulturagenda 2010 N° 27

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Christoph Hoigné

N°27 Donnerstag bis Mittwoch 8. bis 14.7.2010 www.kulturagenda.be

«Walterli – das Theater» im Hof des Bistrots Morillon

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Franticek Klossners Performance-Kunst im Haus der Universität

Eine Szene aus Timmermahns grotesker Welt der Familie Sunnegger: Vati (Marco Morelli) lehrt Walterli (Ursula Stäubli) das uralte Brotschuh-Handwerk.

«Schmelzendes Selbst»: In den Latex-Hüllen gefriert der Berner Künstler Selbstporträts in Eis ein, die anschliessend von der Decke tropfen. Obwohl vergänglich, hat der renommierte Sammler Rik Reinking «melting selves» gekauft.

Walterli ist Kult

Irritation sucht Dialog

«Walterli – das Theater» feiert Wiederaufnahme im Hof des Bistrots Morillon. Timmermahns Figuren Walterli und Vati sind durch die Hörspiele «Bubenfersen» bekannt geworden und haben eine grosse Fangemeine um sich geschart.

Performance ist riskant, Erfolg und Versagen der Kunst liegen nah beieinander. Den Berner Künstler Franticek Klossner schreckt das nicht, weil Performance so flüchtig und flexibel ist wie die Wirklichkeit.

Man muss Walterli einfach mögen. Er ist ein aufgeweckter und neugieriger Bub, ein fantasievoller Charmebolzen, der die Welt entdeckt. Und er löchert seinen Vati den lieben, langen Tag mit Fragen. Etwa, «warum am Zgraggen Jasmin sy Vati am Fürabe muess andere Lüt ga dr Pflanzplätz jäte», oder «warum am Lehrer Grüter syner Haar usgheie». Der Vati gibt geduldig Antworten, die meist noch schräger ausfallen als Walterlis Fragen. «Er ist ein warmherziger Besserwisser», beschreibt Schauspieler und Komödiant Marco Morelli den von ihm verkörperten Vati. Beckett’scher Gotthelf Anfang der 90er-Jahre hatte der Berner Poet und Maler Timmermahn die Figur Walterli als Bub der Familie Sunnegger im Theaterstück «Züsis Heimkehr» erfunden. Das Theater wurde ein grosser Publikumserfolg. Darauf erschienen die Hörspiele «Bubenfersen» 1 bis 3 mit Dialogen zwischen Walterli und seinem Vater. Vor zwei Jahren kehrten die beiden Charaktere auf die Bühne zurück. In «Walterli – das Theater» wurden die Hörspieldialoge als Sketches aneinandergereiht. Jetzt wird das Stück wiederaufgenommen in der Urbesetzung mit Marco Morelli als Vati und seiner Komödianten- und Lebenspartnerin Ursula Stäubli als Walterli. «Tygerwyb», «Riedschnäpf», «Trunds­ pluntschä» – das sind timmermahnsche Wortschöpfungen, von denen seine Texte leben. Begriffe, die den Eindruck erwecken, vielleicht vergessen, aber im Bernbiet verwurzelt zu sein. Vor allem diese ländlich anmutende Sprache dürf-

te es sein, die Walterli auf den ersten Blick wie Gotthelf für Kinder wirken lässt. Auch wenn das Theater durchaus für Kinder geeignet ist, hat Timmermahn seine Texte eigentlich für Erwachsene geschrieben. «Es gibt so viele Doppelbödigkeiten, Abschweifungen ins Erotische und eine fast Beckett’sche Ebene», sagt Morelli. So eröffnet sich einem eine groteske Ideenwelt, in der zum Beispiel Walterli das wild gewordene Schärlig Grosi in dem «frisch eingestreuten Zwingerli» unterbringt. Schräg und liebenswert Walterli ist längst Kult geworden. Seine Sprüche und Ausdrücke sollen bereits in den Wortschatz seiner Fangemeinde eingegangen sein. Morelli: «Wir müssen sehr texttreu spielen, weil ein grosser Teil des Publikums die Sketches auswendig kann.» Aber was ist das Faszinierende an dem kleinen Burschen und seinem schrulligen Vater? Morelli sagt: «Sie sind so schräg, dass jeder Stadtindianer sie mag, und so warmherzig, dass sie die anthroposophische Grossmutter genauso begeistern können». Damit bringt er auf den Punkt, was den Erfolg der Figuren ausmacht: Jeder findet etwas, das er an Walterli und seinem Vati mag, seien es die plakativen Witze, die stillen Doppeldeutigkeiten oder das grotesk Überzeichnete. Regine Gerber \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Bistrot Morillon, Bern Di., 13.7., bis Sa., 17.7., und Di., 20.7., bis Fr., 23.7., 20.15 Uhr www.bistrot-morillon.ch

Das Bild vom wilden Künstler – Klossner bedient es nicht. Seine Augen sind wach statt flackernd, seine Antworten freundlich statt provozierend, das Wohnatelier ist die Bleibe eines Ästheten. Kreatives Chaos? Beginnt in der Wirklichkeit vor der Haustür. Diese befragt und hinterfragt Klossner mit Arbeiten, die den Dialog mit ihrem Publikum suchen. Dieser Schlüsselbegriff seines Werks ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er auf eine Frage etwas irritiert antwortet: «Ich weiss gar nicht, wie Kunst nicht Dialog sein könnte, sonst ist sie doch nur Kunsthandwerk.» Interaktion ist spannender Klossner nennt sich selbst einen «transmedialen Künstler». Heisst in diesem Fall: Seine Arbeiten umfassen nicht bloss Bilder, Videos, Installationen und Skulpturen, sondern auch Performance. Die riskante Gattung ist schwierig zu definieren. Der Körper dient als Werkzeug, die Aufführung orientiert sich nicht am Theater, sondern an Überlegungen der bildenden Kunst oder sie versteht sich als Intervention in politische und gesellschaftliche Abläufe. Das Resultat verändert im besten Fall ein Leben, im schlechtesten Fall heisst es: «Das soll Kunst sein?» Ein Beispiel. Neulich sass Klossner an einer Coop-Kasse. Wer ihm ein Lied sang oder ein Gedicht aufsagte, erhielt 50 Prozent Rabatt. Ein verlockendes Angebot, würde man meinen. «Die meisten haben lieber den vollen Preis bezahlt», erzählt er. «Sie hatten Angst, sie könnten sich blamieren. Damit hatte

ich nicht gerechnet.» Die Arbeit ist typisch für Klossners Kunst des Dialogs. «Als ich in den 80ern mit Performance begonnen habe, wollte ich noch klare Statements abgeben», erklärt er. «Mit der Zeit habe ich begriffen, dass die Interaktion mit den Zuschauenden spannender ist. Inzwischen lege ich die Arbeiten schon darauf an, durch Irrita­tion Denkprozesse auszulösen.» Performance boomt, das weiss Klossner selbst am besten. Er hat an der Berner Hochschule der Künste den entsprechenden spartenübergreifenden Kurs aufgebaut und unterrichtet mit einem 10-Prozent-Pensum. Über die Gründe für diesen Aufschwung müsste man spekulieren, doch ein Vorteil der Performance liegt auf der Hand: Sie kann am schnellsten und flexibelsten auf eine Welt eingehen, die so vielfältig, schnell und flexibel geworden ist, dass sie nahe am Chaos rotiert. Das Vergängliche der Performance stört Klossner dabei nicht im geringsten. Kunst müsse nicht für die Ewigkeit gemacht werden, findet er – und lässt in einer berühmten Arbeit Männerbüsten aus Eis von der Decke tropfen. Undiplomatisches Schwarzweiss Reaktionen muss man im Normalfall provozieren. Doch die Zeiten, in denen Klossner als Punk mit Irokese im heimatlichen Oberland unterwegs war, sind lange vorbei. «Natürlich denke ich politisch», bestätigt der 50-Jährige, «aber nicht einfach links-rechts. Ich habe eine persönliche Haltung, aus der heraus ich gesellschaftskritische Fragen stelle.»

Und dann auf die Antworten eingehe, hätte er noch sagen sollen. Klossner ist kein Künstler vom hohen Ross herab. Wenn er mit einer Installation oder einer Aktion Empörung auslöst, setzt er sich mit den Empörten zusammen, mitunter wochenlang, und diskutiert. Er hängt es bloss nicht an die grosse Glocke. Den Gegensatz zum Chaos der Wirklichkeit bilden die einfachen, ursprünglichen Formen, die Klossner in seinen Scherenschnitten bevorzugt: «Das ist eine totale Flucht. Alles ist aufgelöst in Schwarz oder Weiss, Positiv oder Negativ. Die diplomatischen Grautöne des Lebens sind für einmal vollkommen extrahiert», schmunzelt er selbstironisch und etwas verzweifelt. «Aber auch klar definierte Silhouetten werfen vielschichtige Schatten!» Silvano Cerutti

Tag der Performance Die Performance-Klasse von Franticek Klossner präsentiert ihre individuell erarbeiteten Projekte. Der Anlass findet – typisch Klossner – im Dialog mit Studierenden des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Bern statt. So sollen sich Kunstschaffende und -vermit­telnde derselben Generation kennen und verstehen lernen. Die öf­fentliche Veranstaltung dient als professionelle Begleitung der Studierenden vom geschützten Hochschulrahmen in die freie Kunstszene. \\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\\

Haus der Universität, Bern So., 11.7., 17 bis 19 Uhr www.franticek.ch www.hausderuniversitaet.ch


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