PlaybGr_Jul22

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HELGE TIMMERBERG Der Bestsellerautor („Lecko Mio. Siebzig werden“), Jahrgang 1952, fragt sich für uns jeden Monat: Wie tickt das Jetzt? Und wie wird man schlau daraus?

FOLGE 4 Die TimmerbergKolumne

DER ERNST DER LAGE IM „CAFE HUMMEL”

D

as „Cafe Hummel“ hat viele Tische in seinen hohen Räumen, und alle waren mit Menschen besetzt, die dasselbe wie immer taten und die man deshalb Wiener nennt. Die gute alte Schule kultivierter Neurosen in Plauderstimmung oder tiefer Meditation. Auch dafür ist das Kaffeehaus gemacht. Ganz für sich sein, in ein Glas, ein Gefühl, einen Gedanken versunken und trotzdem nicht allein. Die Stimmen drum herum, die menschlichen Atome, die Wärme der Herde in der Oase der seligen sozialen Sicherheit und ihrer Gastronomie. Aber nun zieht wieder ein dunkler Sturm von Osten auf, immer von Osten. Was ist los mit dieser Himmelsrichtung? Die Hunnen, die Türken, die Russen, alle kamen von Osten. Und kommen wieder. So schaut’s jedenfalls aus. Putins Krieg war an fast allen Tischen des bummvollen „Cafe Hummel“ das dominante Thema und nun an unserem auch. Wie ich denn mit den neuesten Horrorbildern aus der Ukraine klarkomme, fragt mich ein ehemaliger Burgschauspieler, der nicht mehr auftritt, weil er mal von der sechs Meter hohen Bühne gefallen ist und seitdem unter einem Bühnentrauma leidet. „Ich bereite mich vor“, antworte ich. „Wie?“ „Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst und bin froh, wenn es weniger schlimm kommt“, fuhr ich fort. „Es ist zunächst mal nur ein innerer Prozess. Ich suche so

etwas wie eine feste Burg in mir, in der ich mich auf den Ernst der Lage einstelle.“ Der Ernst der Lage umfasste aktuell den Schrecken, dass sich die Russen im 21. Jahrhundert vor Kiew benahmen wie die Horden der Mongolen 1387 vor Isfahan. Ist Tamelan der Eroberer, auch Timur der Schreckliche genannt, Putins Vorbild? Er ließ die Köpfe von den 70.000 Bewohnern der Stadt zu Pyramiden aufschichten, um seine Feinde das Fürchten zu lehren, noch bevor seine Armeen auf sie treffen. Wenn Putin dieselbe Strategie verfolgt, wird er als Wladimir der Schreckliche in die Geschichte eingehen. Ich stehe vor dem „Cafe Hummel“ und leite den Heimweg mit einer Zigarettenpause ein. Der Himmel kann sich nicht entscheiden, ob er es regnen lassen will. Er entscheidet sich für den Kompromiss, und wieder muss ich die Straßen dieser Stadt dafür bewundern, dass ihnen jedes Wetter steht. Nieselregen fällt auf die rote Straßenbahn, die man „Bim“ nennt, weil sie an jedem Stopp „bim“ macht, und in den Lichtern der Straßenlaternen wird er zu einem fließenden Vorhang von silbernen Fäden. Ich habe wieder ein bisschen Frieden gefunden. Aber mein Safehouse in der großen Unsicherheit ist Wiens Schönheit trotzdem nicht mehr. Dafür lagen im „Cafe Hummel“ zu viele Zeitungen mit offenen Briefen von deutschen Intellektuellen herum. Und seitdem frage ich mich: Ist Alice Schwarzer wirklich der Meinung, dass sich die Klügere vergewaltigen lässt?

„Immer zieht der Sturm von Osten auf. Was ist los mit dieser Himmelsrichtung?“

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FOTO: FRANK ZAURITZ

Dem Zeitgeist schlottern die Knie, stellt HELGE TIMMERBERG fest. Auf Putin hat leider auch er keine Antwort – aber an Alice Schwarzer eine Frage


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