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Die Lehre ist der Königsweg ins Berufsleben

Die Berufslehre ist ein Erfolgsmodell. Sie entwickelt sich permanent weiter. So bleibt der grosse Nutzen für Lernende, Lehrbetriebe und Wirtschaft erhalten. Doch die Veränderungen sind in weiten Teilen der Bevölkerung zu wenig bekannt.

Jürg Michel

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Die bildungsbezogene Weichenstellung Gymnasium oder Berufslehre bringt Belastung und Stress in sehr viele Familien. Der Kampf ums Gymnasium wird von Jahr zu Jahr mit zunehmender Verbissenheit geführt. «Kampfeltern» setzen mittlerweile nicht selten die Lehrpersonen unter Druck. Gymnasiumaspiranten besuchen zusätzliche, privat bezahlte Kurse oder Privatunterricht. Das ganze Prüfungssystem wird zur Klassenselektionsmaschine und es erstaunt nicht, dass der Bündner Grosse Rat derzeit diskutiert, die Prüfung ins Gymnasium abzuschaffen und die Zulassung durch eine dauerhafte Leistung in der Volksschule zu ersetzen. Ob das allerdings der richtige Weg ist? Ich zweifle. Aussagen wie «Wer nur eine Berufslehre ohne Berufsmaturität macht, erweist sich keinen guten Dienst für die Zukunft» sind auch bei uns zu hören. Und wenn sie polemisch untermauert werden, dem eigenen Kind würde ohne Matura die Zukunft gestohlen, werden viele Eltern verängstigt. Dabei sind solche elitären Miesmacher-Phrasen verheerend für die gesellschaftlichen Werte und besonders für jene 80 Prozent der Eltern in Graubünden, deren Kinder nicht ins Gymnasium eintreten. So hängt man der Berufslehre ein soziales Zeichen an, das nichts mit der Realität zu tun hat.

Auf die Jugendlichen zugeschnitten

Wenden wir uns deshalb der Realität zu: Wer eine Berufslehre – ob dies ein Forstwart, ein Polygraf oder ein Automobildiagnostiker ist – wählt, kommt in jungen Jahren in einer wichtigen Phase für die eigene Entwicklung in einen Arbeitsprozess, in dem er sich bewähren muss. Lernende müssen früh Verantwortung für sich selber und ihre Arbeit übernehmen. Sie müssen sich in ein Team einordnen, was nicht mit unterordnen zu verwechseln ist. Wir stellen immer wieder mit grosser Freude fest, dass die jungen Frauen und noch mehr die Männer beim Eintritt in die Lehre viele Hirngespinste im Kopf haben, nach der erfolgreichen Absolvierung der Grundbildung aber als gestandene, reife Persönlichkeiten dastehen, wenn sie das eidgenössische Fähigkeitszeugnis nach drei- bis vier Jahren in den Händen halten. In den letzten Jahren war vermehrt zu hören, dass Lehrabgänger zu stark vorgespurt sind und somit die Gefahr gross sei, auf dem Abstellgleis zu landen. Ich teile diese Haltung keineswegs. Wer den Mangel an Flexibilität von Lehrabgängern kritisiert, hat die Reformen der Berufsbildung in den letzten zwanzig Jahren nicht zur Kenntnis genommen. Der Anteil allgemeiner Kompetenzen wie etwa Sozial- und Methodenkompetenzen sind markant erhöht worden. Heute sind nahezu alle 250 Grundberufe auf einem absolut aktuellen Stand. Und die Nähe zu den Akteuren am Arbeitsmarkt sorgt dafür, dass auch künftige Änderungen der Bedürfnisse an die Berufsbildung auf die Lehrpläne durchschlagen werden. Gerade diese Nähe, die kein anderes Land im Rahmen der Berufsbildung in dieser ausgeprägten Form kennt, ist ein Alleinstellungsmerkmal, das sich von allen anderen Angeboten abhebt und auf das wir in der ganzen Welt beneidet werden.

Die Berufslehre hilft den Hauptakteuren – den Lernenden – enorm, sich persönlich zu entfalten und die eigenen Stärken zu fördern. Das gilt im Vergleich zu anderen Ausbildungswegen nicht nur für die Besten. Schulisch Schwächere vermag sie einerseits früh in ein berufspraktisches Umfeld zu integrieren, was sozialpolitisch sehr erwünscht ist. Anderseits verfügt gerade diese Gruppe sehr oft über technische und manuelle Fähigkeiten, die mit einem Selektionssystem der vollschulischen Ausbildung durch alle Maschen fallen. Ich habe in meinem Beruf in den letzten mehr als 20 Jahren nicht wenige Leute kennengelernt, die eine hohe Präzision und ein gutes Gespür für praktische Fragen aufweisen, die aber keinen korrekten Satz auf die Linie bringen können.

Kein Abschluss ohne Anschluss

Das Berufsbildungssystem hat sich enorm entwickelt. Die vielen positiven Veränderungen sind leider viel zu wenig bekannt. Bewusst wurde mir dies erst, seit ich mit der Einführung der Berufsausstellung Fiutscher im Jahre 2010 regelmässig die Gelegenheit erhalte, mit Eltern, Grosseltern, Tanten und Onkeln der Berufssuchenden zu sprechen. Das heutige karriereorientierte System ist nicht mehr zu vergleichen mit jenem, welches die früheren Generationen noch selber erlebt haben und in den Köpfen haften geblieben ist. Viel zu wenig bekannt ist aus meiner Erfahrung das Grundprinzip unseres Berufsbildungssystems: «Kein Abschluss ohne Anschluss». Wer eine Berufslehre wählt, kann während oder nach der Lehre die Berufsmaturität absolvieren, die einen prüfungsfreien Zugang zur Fachhochschule FH (Tertiär A) erlaubt. Oder wer eine Berufslehre abgeschlossen hat, kann sich später ohne Matur berufsbegleitend in der Höheren Berufsbildung (Tertiär B) spezialisieren. Es gibt mittlerweile rund 450 eidgenössisch anerkannte Abschlüsse der Höheren Berufsbildung HBB mit drei Stufen: der Höheren Fachschule HF, der Berufsprüfung BP und der sehr anspruchsvollen Höheren Fachprüfung HFP, früher Meisterprüfung. Die HBB-Absolventen sind in der Berufspraxis sehr häufig die Teamchefs, die Techniker, die tragenden mittleren Kader. In der KMU-Wirtschaft sind sie nicht selten Betriebsinhaber. Der Forstwart lässt sich nach bestandener Lehre zum Seilkraneinsatzleiter ausbilden, die er über spezielle Module wie Instruktionsmethodik oder Seilbahnkranbau erlernen kann, um sich anschliessend in der ibW (Försterschule Maienfeld) zum Förster HF ausbilden zu lassen. Mit dieser Weiterbildung wird die Aufnahme eines Bachelorstudiums möglich, mit dessen Abschluss der einstmalige Forstwartlernende in der Lage ist, das Ökosystem Wald auf nationaler und internationaler Ebene naturverträglich zu managen oder ein Masterstudium anzuschliessen. Diese Beispiele lassen sich beliebig vermehren. Wer ursprünglich Heizungsmonteur oder Spengler gelernt hat, macht heute mit HBB eine Spezialisierung in Solar-, Wärmepumpen- oder Sensortech-

Jürg Michel an Fiutscher.

(Bild: J. Michel)

nik oder wird zum Gebäudeautomatiker auf einem Niveau, das einem ausländischen Ingenieurstudium gleichwertig ist. Wer eine kaufmännische Lehre absolviert hat, spezialisiert sich in Rechnungswesen, Marketing oder Wirtschaftsinformatik auf einem Kompetenzniveau eines Uni-Bachelors aus dem Ausland. In der ganzen Wirtschaft wird die digitale Revolution bei uns besser bewältigt, weil auch 30- oder 40-Jährige über die Höhere Berufsbildung das neuste digitale Kompetenzniveau erwerben. Die Schweizer Wirtschaft würde zusammenbrechen ohne diese hoch qualifizierten Leistungsträger. Es sind Leistungsträger, die regelmässig mit einer Lehre ihre Karriere eingeleitet haben.

Volkswirtschaftlich matchentscheidend für Erfolg

Die Schweiz wird im ureigensten Interesse auch in Zukunft gut daran tun, die Berufsbildung stark zu fördern. Die volkswirtschaftlichen Vorzüge dieses Systems sind eklatant. Sie hängen nicht nur damit zusammen, dass die Arbeitslosenzahlen selbst unter Covid-Verhältnissen im Vergleich zum Ausland sehr tief sind. Wer etwas genauer analysiert, stellt fest, dass alle Eckgrössen, die zum Reichtum unseres Landes beitragen, in direktem Zusammenhang mit der Berufsbildung stehen, etwa die hohe Produktivität, die relativ günstigen Lohnstückkosten und die hohe Arbeitsqualität. Ginge es nämlich nach der Lehrbuchökonomie, wäre die Schweiz – gerade wegen der hohen Löhne – international kaum konkurrenzfähig. Weil wir aber dank der Berufsbildung massgeschneiderte Lösungen, hochstehende Qualität und Nischenprodukte anbieten, können wir für unsere Produkte höhere Preise erzielen und mit Erfolg exportieren. Die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft wird weit mehr von der Berufsbildung als von der akademischen Bildung geprägt, so auch die Swissness in der Arbeitsqualität, die für die Exportfähigkeit entscheidend ist.

Jürg Michel ist Direktor des Bündner Gewerbeverbands Unkompliziert und informativ

Alle zwei Jahre wird es in der Stadthalle in Chur Mitte November laut. Wenn geschweisst, gehobelt, gelötet, geschnitten, gemauert, gefräst oder gezöpfelt wird, ist Fiutscher-Time. Und 2020? Die vom Bündner Gewerbeverband (BGV) organisierte Berufsausstellung soll vom 11. bis 15. November 2020 zum sechsten Mal stattfinden. Sie zeigt mehr als 300 Berufe der Grundbildung und Weiterbildung. Zielpublikum der Ausstellung sind in erster Linie Jugendliche, die vor der Berufswahl stehen. Aussteller sind meist Organisationen der Arbeitswelt (OdA). Lernende und Ausbildner demonstrieren in ihren Berufskleidern, worauf es im Beruf ankommt, geben Tipps und stehen für Fragen zur Verfügung. Der unkomplizierte Umgang mit den Besuchern gehört zu den Highlights der Ausstellung. Während der Banker chic in Schale auftritt, präsentiert sich der Forstwart in seinem lässigen und funktionellen Overall. Fiutscher zeigt die Vielfalt der Berufsbildung und die Karrierechancen auf. Die Ausstellung bietet auch Weiterbildungsinteressierten ein grosses Spektrum an. Die meisten Institutionen, die in Graubünden Weiterbildungen anbieten, sind an Fiutscher präsent. Ob sie wegen Corona durchgeführt werden kann, entscheidet sich spätestens am 1. September 2020.

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