5 minute read
Die Buche – ein herausragender Habitatbaum
Alte Buchen sind ein Artenparadies. Je älter eine Buche wird, desto mehr Lebensräume bietet sie den Waldbewohnern. Aber auch jüngere Buchen können bereits Habitatbäume sein. Ein Wald mit vielen Arten aus verschiedenen Gruppen funktioniert dank der vielfältigen Beziehungsnetze zwischen den zahlreichen Organismen besser.
R. Bütler
Advertisement
Buchen können alt werden – sogar sehr alt! Ihre natürliche Lebensdauer wird in Lehrbüchern mit 160 bis maximal 300 Jahren angegeben. Neuere Untersuchungen anhand von Jahrringzählungen in
Abb. 1: Ein ungewohnter Anblick: Buchen entwickeln im Alter eine raue, borkige Rinde. Alte Buchen sind oft herausragende Habitatbäume.
(Bild: L. Larrieu, Naturwald in Rumänien) Italien, Bosnien und Herzegowina und der Ukraine ergaben jedoch, dass Buchen im Bestand ein Alter von mehr als 500 Jahre erreichen können! Im hohen Alter ist auch die Rinde nicht mehr «auffällig glatt und matt hellgrau ohne Längswülste», wie im Buch der Pflanzenporträts aller wild wachsenden Gehölze Mitteleuropas steht, sondern sie ist braun und borkig, ähnlich wie bei der Eiche (Abb. 1). Je grösser, dicker und älter eine Buche, desto stärker ist sie vom Leben gezeichnet: Stein- und Blitzschlag, Windböen oder meisselnde Spechte hinterlassen ihre Spuren, zum Beispiel als Spalten, Rindenverletzungen, gebrochene Äste oder Spechthöhlen. Solche Anzeichen des Alterns bedeuten jedoch nicht gleich das Ende. Im Gegenteil, sie sind heiss begehrte Nischen, in denen viele hochspezialisierte Bewohner des Waldes einen Lebensraum finden und machen eine alte Buche erst richtig attraktiv. Waldökologen unterscheiden 47 verschiedene Typen solcher Kleinstlebensräume – sogenannte Baummikrohabitate. Jedes weist seine eigene Artengemeinschaft auf (Abb. 2). Die Larven der Totenkopfschwebfliege beispielsweise entwickeln sich in Dendrotelmen oder die Raupen des seltenen Wespenglasflüglers leben an den abwehrgeschwächten Bereichen von Maserknollen oder Rindenkrebsen.
Ein Blick ins Detail
Schauen wir eine ältere Buche genauer an (Abb. 3). Sie trägt unterschiedliche Habitate für diverse Ansprüche. Die voluminöse Mulmhöhle (1) ist zum
Abb. 2: Dendrotelme (oben links) sind wichtig für Schwebfliegen (oben rechts: Totenkopfschwebfliege) und Maserknollen (unten links) dienen Glasflüglern (unten rechts: Wespenglasflügler).
(Bilder: R. Bütler, L. Larrieu (Dendrotelm), B. Wermelinger (Wespenglasflügler))
Beispiel für den extrem seltenen Feuerschmied Elater ferrugineus (Abb. 4 links) ein geeigneter Lebensraum dank ihrem stabilen Mikroklima. Dieser Käfer ist eine Urwaldreliktart, deren Larve sich während vier bis sechs Jahren im Mulm, einer Mischung aus abgebautem Holz und Exkrementen von Insekten, entwickelt. Sie lebt räuberisch von Eiern und Larven anderer, ebenfalls seltenen, auf Mulm spezialisierten Käfern. Es gibt nur 21 Fundorte in der Schweiz, davon auch einige in Graubünden, wobei die Hälfte vor 1930 beschrieben wurden. Im Laufe ihrer Jahrzehnte langen Entwicklung und Vergrösserung wird die Struktur der Mulmhöhle komplexer und die Vielfalt der assoziierten Arten nimmt zu. Sonnenexponiertes Holz ohne Rinde am Stamm (2) ist für Trockenheit und Wärme liebende Totholzinsekten ein idealer Lebensraum. Der abgebrochene Starkast (3) eignet sich für den Buchen-Schleimrübling Oudem-
Abb. 3: Eine ältere Buche mit mehreren Baummikrohabitaten, die spezialisierten Arten einen Lebensraum bieten.
(Bild: R. Bütler)
ansiella mucida, ein gelatinartiger Pilz (Abb. 4 Mitte), der auch längere Trockenperioden an dieser exponierten Stelle erträgt. Im Moosteppich (4) finden viele Insekten Schutz. Moos dient jedoch auch den spezialisierten Pillenkäfern als Nahrung (Abb. 4 rechts). An der Rinde unter der Mulmhöhle (5) entwickeln sich einige seltene, hochspezialisierte Moose und Flechten. Der Mulm hat nämlich einen hohen pH-Wert, und der Ausfluss aus der Höhle erhöht den pH-Wert der Rinde an dieser Stelle (siehe auch Abb. 5 unten).
Wichtig für das Funktionieren des Ökosystems
Früher sprach man von Holzschäden, heute von Baummikrohabitaten. Die waldökologische Forschung hat in den letzten Jahren die grosse Be-
Abb. 4: Der Feuerschmied (links) braucht Mulmhöhlen. Der BuchenSchleimrübling (Mitte) braucht Holz ohne Rinde. Die Nahrung des Pillenkäfers (rechts) ist Moos.
(Bilder: T. Németh, R. Bütler, L. Larrieu)
deutung von solchen Kleinstlebensräumen für die Artenvielfalt aufgezeigt. Deshalb werden Baummikrohabitate neu auch im Landesforstinventar der Schweiz LFI nach der europäischen Typologie differenziert aufgenommen (siehe Box). Vereinfacht gesagt, sind Buchen mit Holzschäden – Baummikrohabitaten – ein Artenparadies. Es gibt sogar einige Rekorde zu verzeichnen. In den mehrjährigen Pilzfruchtkörpern des Zunderschwamms auf der Buche (Abb. 5 oben) leben schätzungsweise 600 Arthropodenarten! In den bereits erwähnten Mulmhöhlen von Buchen wurden über 270 Käfer- und Wirbeltierarten nachgewiesen (Abb. 5 unten). Nimmt man noch die Pilze, Bakterien, Faulholzmotten, Bienen, Ameisen und andere Tiergruppen dazu, ergibt sich eine kaum vorstellbare Besiedlungsdimension aus Bestäubern, Abfallfressern, Räubern und Parasiten von Pflanzenfressern und so weiter. Baummikrohabitate sind also äusserst vielfältige Lebensräume. Sie sind Zufluchtsorte, Brut-, Überwinterungs- oder Nahrungsplätze. Habitatbäume, also Bäume, die Baummikrohabitate tragen, sind auch für den Waldbesitzer von gutem Nutzen. Denn die zahlreichen Bewohner von Habitatbäumen bestäuben, verbreiten Samen, bauen Holz ab, regulieren andere Arten und kümmern sich um vieles mehr. Dank dieser vielfältigen Beziehungsnetze funktionieren Wälder mit zahlreichen
Arten besser. Kümmern sich viele Arten um dieselbe Funktion, kommt dies einer Versicherung gleich: Fällt eine Art zeitweise aus, kann eine andere einspringen und die Funktion übernehmen. Es lohnt sich also, Habitatbäume zu schützen und deren Entstehung aktiv zu fördern.
Eine Frage der Zeit
Allerdings sind die Entstehungsraten von Habitatbäumen ziemlich langsam. Zwar kann ein Starkast durch eine Windböe innerhalb weniger Millisekunden abbrechen, für die Ausbildung einer grossen Mulmhöhle sind jedoch mehrere Jahrzehnte notwendig. Im Vergleich zur Weisstanne und anderen Nadelbäumen bildet die Buche jedoch bereits in jüngeren Jahren Baummikrohabitate aus. Bei einem Durchmesser von 50 bis 70 cm tragen 78 % der Buchen mindestens ein Baummikrohabitat, jedoch erst 21% der Tannen. Modellrechnungen ergaben natürliche Entstehungsraten von 0,82–1,28 Baummikrohabitaten pro Hektar und Jahr bei Buchen und 0,5–0,9 bei Tannen. Angesichts dieser niedrigen Entstehungsraten dauert es also etwa 100 Jahre, bis ein derzeit genutzter Buchenbestand alle im Naturwald potenziell vorhandenen Baummikrohabitate ausbildet. Es empfiehlt sich deshalb, bestehende Habitatbuchen zu belassen und jüngere Kandidaten bei der Durchforstung zu erkennen und zu erhalten.
Dr. Rita Bütler ist Verantwortliche Schnittstelle Forschung – Praxis für die Westschweiz, WSL Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft.
Habitatbäume erkennen? Dazu helfen der kürzliche publizierte «Taschenführer der Baummikrohabitate» www.wsl.ch/ tf-baummikrohabitate sowie das Merkblatt für die Praxis Nr. 64 «Habitatbäume kennen, schützen und fördern» www.wsl. ch/mb-baummikrohabitate der Eidg. Forschungsanstalt WSL. Weitere Produkte der WSL zum Thema: www.habitatbaum.ch, die virtuellen Waldrundgänge auf habitat. sylvotheque.ch, Tutorial und Kurzvideos auf YouTube (Suche in YouTube: Baummikrohabitate WSL).
Abb. 5: Zunderschwamm (oben), Mulm-
höhle mit Ausfluss (unten). (Bilder: R. Bütler)