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Aus Waldreservaten entstand ein UNESCO-Weltnaturerbe
Am 28. Juli 2021 hat das Welterbekomitee der UNESCO entschieden, die alten Buchenwälder in den Tälern Lodano, Busai und Soladino (TI)1 sowie auf dem Bettlachstock (SO) in die Welterbeliste aufzunehmen. Die Kandidatur wurde von einem internationalen Gremium von Buchenexperten vorgeschlagen. Ein wertvolles genetisches Reservoir ist für die Buche geschaffen worden, gleichzeitig aber auch für zahlreiche assoziierte und von diesen Lebensräumen abhängigen Tier- und Pflanzenarten.
T. Schiesser, D. Bettelini
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Lodano, Busai und Soladino: zwei Naturwaldreservate, ein «Bottomup»Prozess
Eigentlich begann alles schon Ende Jahr 2004, als der ehemalige Präsident Claudio Tunzi der Bürgergemeinde (Patriziato) von Lodano mit dem Kreisforstamt in Cevio im Maggiatal Kontakt aufnahm und sich erkundigen wollte, ob es möglich sei, im LodanoTal in der Gemeinde Maggia ein Waldreservat auszuscheiden. Als er 2009 aus dem Amt zurücktrat, war das Waldreservat allerdings noch nicht ganz offiziell gegründet. Auch der neue Präsident Christian Ferrari stand diesem Thema sehr offen und ideenreich gegenüber, sodass das Waldreservat im Jahr 2010 definitiv gegründet werden konnte. Im Jahr 2013 kam die grosse Überraschung: bei einer Begehung vom Forstdienst mit den zwei WSLExpertinnen Brigitte Commarmot und Martina Hobi wurden ein Teil der Buchenwälder besichtigt und Bohrkernproben für die Altersbestimmung der Bäume entnommen. Im Jahr 2014 wurden die Buchenwälder des LodanoTales in die vorübergehende sogenannte Wien Shortlist der markantesten Buchenwälder Europas vorgeschlagen. Schon seit dem Jahr 2007, mit der Einschreibung der ersten Buchenwälder in den Karpaten in der Welterbeliste der UNESCO (Gut, das heute als «Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas» bezeichnet wird), ist der ausserordentliche Wert von Europas Buchenurwäldern und alten Buchenwäldern anerkannt worden. Dieser Umstand führte dazu, dass das Naturwaldreservat im Jahr 2016 auf praktisch das ganze Tal definitiv ausgeweitet wurde, von der Talsohle bis hinauf zur Waldgrenze. Somit wurden 766 ha Wald unter den Schutz des Naturwaldreservates gestellt. Wenig später engagierten sich die benachbarten Bürgergemeinden von Giumaglio und Someo für die Gründung des angrenzenden Waldreservates Valli Busai und Soladino: der Holzschlag lohnt sich seit langem nicht mehr und der Biodiversität wird im Tal immer mehr Bedeutung geschenkt. Die Entschädigungsgelder werden für die Instandsetzung vor allem von Wanderwegen genutzt, um die verlassenen Seitentäler wieder zugänglich zu machen. Es tobt sich also etwas, Erinnerungen tauchen auf, die Begeisterung und das Interesse zum Wald steigen wieder. Im Juni 2020 fand die definitive Gründung des Naturwaldreservates Valli Busai und Soladino statt, das zusammen mit dem Naturwaldreservat Valle di Lodano momentan mit 2048 ha das zweitgrösste Naturwaldreservat der Schweiz ist (nach dem Schweizer Nationalpark) (Abb. 1).
Kandidaturdossier und Beurteilung durch IUCNExperten
Parallel dazu ging es mit der UNESCOKandidatur weiter. Am 9. Dezember 2016 befürwortete der Bundesrat die offizielle Kandidatur. Ende Januar 2020 ist das dazugehörige Dossier der Welter
Abb.1: Negative Einflüsse auf den Welterbeperimeter der Buchenwälder sind dank der Schutz-Pufferzone (ebenfalls mit Naturwaldreservat-Status) und der im kantonalen Richtplan festgelegten Landschaftspufferzone praktisch auszu-
schliessen. (Bild: Sezione Forestale Ticino)
be-Kommission der UNESCO zugestellt worden. Im Sommer 2020 kam ein IUCN-Experte (International Union for Conservation of Nature) im Auftrag der UNESCO vorbei, um sich die Buchenwälder vor Ort anzuschauen. Der dänische Experte Jan Woollhead hatte die Gelegenheit, diese Waldreservate und die Buchenwälder zu besichtigen, begleitet durch Vertreter des Bundesamtes für Umwelt, der kantonalen Verwaltung, der lokalen Behörde und Naturschutzvereinen. Somit konnte der IUCN-Experte sich während einigen Tagen ein gutes Bild machen. Eine vollständige Übersicht ist in so kurzer Zeit nicht möglich; sogar das lokale Forstdienstteam hat den grössten Teil dieser Wälder noch nie begangen! In diesen Seitentälern sind seit den Sechzigerjahren keine Holzschläge mehr durchgeführt worden. Die Wälder sind somit der Natur allmählich überlassen worden. Die Buche nimmt einen wichtigen Platz ein: auf der Vegetationskarte dominiert sie flächenmässig gegenüber anderen Baumarten und Waldgesellschaften. Totholz ist in grossen Mengen und allen Durchmesserklassen zu finden und ein wichtiges Habitat für floristischen und faunistischen Raritäten (Abb. 2). Grosse, alte und dicke Bäume sind keine Seltenheit. Die WSL schätzt aufgrund der Bohrkernproben ein Alter von 150 bis 170 Jahre. Da und dort stehen auch einzelne alte Exemplare, die man auf mindestens 200 bis 250 Jahre schätzt. Die Sämlinge aus Naturverjüngung wachsen dicht und der Generationswechsel ist garantiert. Als Folge von ehemaligen
Abb.2: In den Jahren 2019–2020 ist ein Artenmonitoring in einem Buchenwald des Lodano-Tales durch die WSL und die BFH Zollikofen durchgeführt worden. Im Zwischenbericht ist festgelegt worden, dass zwei festgestellte Pilzarten erstmals in der Schweiz gefunden worden sind, dazu noch riesige Zunderschwämme und mehrere Käferartenraritäten (insgesamt mehr als 500 verschiedene
Käferarten!) (Bild: T. Schiesser)
Abb.3: Vielfältige Wälder.
Holzschlägen trifft man ab und zu auf grossflächige, veraltete Stockausschlags-Wälder, die etwa 60 bis 80 Jahre aufweisen. Das ursprünglich montane Verbreitungsareal hat sich nach unten auf die kolline und nach oben auf die untere subalpine Stufe erweitert. Vor dem Eingang des Valle del Soladino steht die Buche schon auf 560 m. ü. M., in Lodano sogar auf 360 m. ü. M. In den höheren Lagen bis 1750 m. ü. M., aber dann in einer Krüppelform oder Strauchform. Die klimatischen Änderungen haben schon erste Auswirkungen. Nicht alle Buchenwälder sind gleich: das Expertenauge erkennt verschiedene Waldgesellschaften, wel-
(Bild: T. Schiesser)
che durch den Höhengradient, die verschiedenen anzutreffenden morphologischen Verhältnisse und Expositionen geprägt sind. Einfach zu erkennen sind die verschiedenen Baumgrössen und -formen (alte, mit dicken Durchmessern und grossen Kronen, aber in der Höhe weniger entwickelte Individuen auf trockenen, südexponierten Lagen, lange Schäfte mit weniger Ästen und höhere Bäume auf nicht zu steilen, nordexponierten Hängen). In den Waldreservaten gibt es dunkle Wälder, wo nur die Buche wächst, aber auch weniger dichte Bestände mit Alpenrose und Goldregen, wo man nicht selten den Alpenbockkäfer (Rosalia alpina) entdeckt, oder Waldstücke mit starker Beimischung der Weisstanne. Je nach Witterung und Jahreszeit kann jederzeit Neues in diesem 807 ha grossen Wald entdeckt werden (Abb. 3).
Die grosse Verantwortung nach der UNESCO-Anerkennung
Die Tessiner Buchenwälder sind eines der 94 Objekte, die zusammen ein transnationales Netz in 18 europäischen Ländern gestalten und eine der nur vier Waldflächen, die die Alpenkette repräsentieren: die einzigen auf Silikatgestein (sauer), welche hauptsächlich dem Waldtyp Schneehainsimse-Buchenwald zugeordnet werden kann.
Abb. 4: Das Infozentrum in Lodano (Eigentum der Bürgergemeinde von Lodano), Gemeinde Maggia, wird sich jetzt inhaltlich auch dem UNESCO-Welterbe anpassen. (Bild: Ch. Ferrari)
Ihre Bedeutung kann wie folgt erklärt werden: die Buchenwälder sind «aussergewöhnliche Beispiele bedeutender fortlaufender ökologischer und biologischer Prozesse in der Evolution und Entwicklung von Land-Ökosystemen sowie Pflanzen- und Tiergemeinschaften» (Kriterium IX der Welterbekonvention). Seit dem Ende der letzten Vergletscherung hat sich die Buche von einigen wenigen isolierten Beständen im Süden und Südosten aus praktisch auf dem ganzen Kontinent verbreitet. Der Erfolg der Art verdankt sich ihrer Fähigkeit, sich an eine Vielzahl klimatischer und geografischer Bedingungen anzupassen. Am 1. Januar 2022 wurde eine lokale strategische Gruppe «Buchenwälder Naturwelterbe» gegründet, mit dem Ziel, eine gerechte Verwaltung und Förderung des UNESCO-Gutes im Valle Maggia zu gewährleisten. Sie besteht aus Fachleuten und Vertretern der Waldbesitzer und lokalen Institutionen (Abb. 4). Die Finanzierung des Bundes ist gewährleistet. Der kantonale Forstdienst ist bestrebt, ein langjähriges Monitoring der Waldentwicklung zu garantieren, und ist bemüht, dass diese Buchenwälder im nationalen Monitoring-Netzwerk der Waldreservate der WSL aufgenommen werden.
1 Im Februar 2019 wurde im «Bündner Wald» schon ein Artikel zu den «bizaren Buchen im Valle di Lodano» von Lukas Denzler publiziert.
Thomas Schiesser ist zuständig für den 7° Forstkreis (Valle Maggia). Davide Bettelini ist für den Bereich Forstliche Planung und Walderhaltung im tessiner Forstdienst zuständig.
Literatur und Quellen auf buendnerwald.ch