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Buchdrucker im Naturwaldreservat – Fluch oder Segen?
Im Vorprojekt zum Naturwaldreservat (in der Folge NWR genannt) Uaul Prau Nausch aus dem Jahr 2006 steht unter anderem: «Um einer möglichen Ausbreitung des Fichtenborkenkäfers im Uaul Prau Nausch verantwortungsbewusst begegnen zu können, soll zwischen dem Schutzwald und dem NWR ein Streifen von 150 m ausgeschieden werden. Dieser Streifen kann nicht der Reservatsfläche angehören, denn hier sollen jederzeit phytosanitäre Massnahmen ergriffen werden können. Ob dieser Streifen ausreichen wird, kann nicht abschliessend beantwortet werden.» Es sollte sich zeigen, dass der Streifen nicht ganz ausreichen sollte.
Christian Buchli
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Zuerst muss man wissen, dass das NWR Uaul Prau Nausch seit dem 1. Januar 2007 besteht und sich auf Gemeindegebiet von Tujetsch zuoberst in der Surselva befindet. Es ist 65,6 ha gross und liegt am Eingang zur Val Nalps. Das Reservat umfasst die nach Osten exponierte Bergflanke mit den Gebieten Ruinas, Uaul Tgom und Uaul Prau Nausch und erstreckt sich zwischen 1520 und 1910 m ü. M. Das Klima kann allgemein als rau eingestuft werden. Im betrachteten Gebiet herrschen natürlicherweise, sowohl in der hochmontanen als auch in der subalpinen Höhenstufe, Fichtenwälder vor. Der Holzvorrat ist (war) relativ hoch und die Bestände einschichtig. Die Anfälligkeit solcher Wälder auf Buchdruckerbe-
Abb.1: Übersichtskarte mit dem Perimeter des NWR Uaul Prau Nausch und der Bekämpfungszone. (Karte: AWN GR)
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Abb.2: Der Buchdrucker entwickelt sich stark im NWR. Die Käfernester sind sehr gut sichtbar. Blick von der Oberalpstrasse in Richtung Val Nalps. Situation im Juli 2015. (Bilder: AWN GR)
fall ist bekannt und das Risiko eines grösseren Befalls, wie eingangs erwähnt, auch erkannt. Was vermutet und auch etwas befürchtet wurde, trat dann auch ein. Angefangen hat alles mit dem heftigen Föhnsturm vom 29. April 2012. Der Buchdrucker fand die geworfenen Fichten im NWR und fing an, sich zu vermehren und auszubreiten. Um den Verlauf des Befalls aufzuzeigen und die Lösungsfindung nachzuzeichnen, werden in der Folge fiktive Telefonanrufe wiedergegeben. Tujetsch: «Das Wetter ist heute zwar schön bei uns, aber ich glaube, es ziehen dunkle Wolken über das NWR ein. Der starke Föhnsturm letzte Nacht hat auch im NWR gewütet, und ich schätze, es liegen rund 300 m³ am Boden. Ich kenne den Vertrag. Aber wäre es nicht sinnvoll, diese Schäden sofort zu beheben?» Der Förster klingt besorgt. Ilanz: «Sapperlot, so etwas musste ja passieren. Aber wir können nach nur fünf Jahren NWR nicht losmarschieren und sofort noch nicht einmal befallene Fichten entnehmen. Schlussendlich ist es ein NWR und eigentlich wollen wir ja genau solche natürlichen und dynamischen Entwicklungen zulassen. Der Borki ist noch nicht unter der Rinde, vielleicht haben wir Glück und es wird nur wenig passieren. Die Devise lautet: beobachten, ruhig bleiben und hoffen, dass es nicht ausartet.» Auch der Regionalforstingenieur in Ilanz macht keine Freudensprünge. Nach drei Jahren beobachten und ruhig bleiben. Tujetsch meldet sich mit bebender Stimme: «Mei-
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Abb.3: Blick in ein Käfernest im Juli 2015. Grundsätzlich eine natürliche und gewünschte Entwicklung in einem NWR.
ne Stimmung im Moment? Hilfe! Der Befall geht auch in diesem Jahr weiter. Aktuell schätze ich den Stehendbefall auf rund 500 m³. Die Buchdruckerpopulation explodiert und fliegt mir um die Ohren. Die Bäume sind rot und man sieht sie von überall sehr gut. Mein Telefon läutet permanent und die Bevölkerung macht sich Sorgen. Zusätzlich sind beim starken Schneefall im November 2014 nochmals 300 m³ Fichten umgeworfen worden. Etwas muss geschehen. Ansonsten kann ich für die Erfüllung des Vertrags nicht garantieren. Was sagen die Experten dazu?» Ilanz: «Chur ist informiert. Zusätzlich auch die ETH Zürich, die WSL Birmensdorf und die Pro Natura GR. Besprechung ist organisiert.» Die Meldung macht die Runde. WSL: «Im 2014 fand im NWR eine Stichprobeninventur statt, welche Informationen zur Waldstruktur liefert. Durch Eingriffe im NWR würde der Sinn und Zweck dieser Inventur zerstört. Falls Käfernester im nahegelegenen Schutzwald Uaul Surrein entstehen, heisst das nicht, dass die Käfer zwingend aus dem NWR kommen. Eine Prognose für den weiteren Verlauf des Befalls kann nicht gemacht werden.» ETH: «Das NWR liegt innerhalb des Lehrwaldes der ETH Zürich. Seit 1973 bestehen zwischen der ETH und der Gemeinde Tujetsch eine gute Zusammenarbeit und eine Vereinbarung, welche der ETH die Nutzung bestimmter Wälder für die Forschung und Lehre ermöglicht. Der Käferbefall im NWR kann Anlass für ein Forschungsprojekt sein. Interessant wäre es herauszufinden, warum einzelne Fichten befallen werden und andere nicht.» Am 10. Dezember 2015 wurden im Uaul Prau Nausch und im Uaul Surrein Fichtennadelproben zur Abklärung der Nährstoffversorgung geerntet. Die Proben wurden vom Institut für angewandte Pflanzenbiologie (IAP) analysiert. Das Resultat zeigt in allen Proben eine ausgezeichnete Nährstoffversorgung. Es haben sich leider keine neuen Ansätze für die Käferbekämpfung ergeben. Pro Natura GR: «Wir wurden spät über die Situation informiert. Der Prozessschutz ist aus unserer Sicht an erster Stelle. Falls möglich, sollte im NWR auf Massnahmen verzichtet werden.» Tujetsch: «Im Schutzwald Uaul Surrein sind auch bereits Käfernester entstanden. Dort müssen wir die Ausbreitung bekämpfen, was hohe Kosten verursacht und im schlimmsten Fall technische Massnahmen nach sich zieht. Die Bevölkerung meint, wir züchten die Käfer im NWR.» Ilanz: «Die Situation ist zwar spannend, aber auch ernst und verzwickt. Wollen wir das NWR für die Zukunft erhalten, braucht es eine Kompromisslösung, mit welcher alle Parteien einverstanden sind. Gemäss Reservatsvertrag können Eingriffe, die aus Gründen der Sicherheit oder aufgrund einer phytosanitären Extremsituation notwendig werden, festgelegt werden. Dies ist in diesem Fall gegeben. Das NWR dient als Brutstätte der Käfer und im nahen Schutzwald werden Käferbäume aus dem Bestand geflogen. Unsere Strategie ‹Ips› sieht vor, entlang der nördlichen Reservatsgrenze eine 300 m breite Bekämpfungszone umzusetzen. Die 150 m ausserhalb des NWR wurden ja bereits im Vorprojekt so festgelegt, zusätzlich kommen noch
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Abb.4: Gefällte Bäume im Bekämpfungsstreifen (September 2016). Abb.5: Die Bäume werden entrindet und liegen gelassen (September 2016).
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150 m innerhalb des NWR. In dieser Zone wird der Käfer konsequent bekämpft. Alle stehenden, frisch befallenen Bäume werden gefällt und entrindet. Liegende, frisch befallene Bäume werden ebenfalls entrindet. Die derart behandelten Bäume werden jedoch liegengelassen und dem natürlichen Zerfall überlassen.» Pro Natura GR, ETH, WSL, Tujetsch: «Mit dieser Strategie können wir uns einverstanden erklären. Im restlichen NWR finden keine Massnahmen statt, sondern nur im Bekämpfungsstreifen.» Diese Strategie wurde von allen Beteiligten abgesegnet und wie folgt umgesetzt. Im 2015 wurden 125 m³ innerhalb des Bekämpfungsstreifens aufgerüstet und entrindet. Im Herbst 2016 und im 2017 folgte eine konsequente Umsetzung der Bekämpfungsstrategie. Es wurden im 2016 325 m³ und im 2017 115 m³ Käferholz gefällt, entrindet und liegen gelassen. Im 2018 hat sich die Käfersituation im NWR entspannt. Seither waren keine Massnahmen mehr notwendig. Die entstandenen Käfer-Lücken sind von Weitem erkennbar. Mit der Zeit gewöhnt sich das Auge an die Lücken und die Bestände fangen an, sich zu verjüngen. Als Fazit kann gesagt werden, dass die Massnahmen auf zwei Arten gewirkt haben. Einerseits wurde der Käferentwicklung entgegengewirkt und andererseits wurden die Bewohner und Entscheidungsträger der Gemeinde Tujetsch ernst genommen. Mit einer pragmatischen Zusammenarbeit aller Beteiligten konnte das NWR somit erhalten werden. Im grössten Teil des NWR kann die natürliche und dynamische Waldentwicklung fortschreiten. Für die Zukunft ist es sicher spannend, die weitere Entwicklung im NWR Uaul Prau Nausch zu beobachten, in den Käfernestern und in der Bekämpfungszone. Es ist zu hoffen, dass sich ohne die Bekämpfung auf einem grossen Teil der Fläche auch eine gesunde Population von Antagonisten bilden konnte. Diese können im besten Fall eine weitere Buchdruckerkalamität schwächen oder gar verhindern. Falls dem so sein sollte, kann diese Geschichte eher als Segen denn als Fluch für den NWR betrachtet werden.