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Ökologische Bedeutung von Borkenkäfern Schiers und der Nationalpark Bayerischer Wald: Erfahrungsfeld
Ökologische Bedeutung von Borkenkäfern
Üblicherweise werden Borkenkäfer vor allem als Schädlinge wahrgenommen. Tatsächlich können einige Borkenkäferarten in Jahren von Massenvermehrungen wichtige vom Menschen erwartete Waldleistungen wie Holzproduktion, Schutz vor Naturgefahren oder Erholung massiv beeinträchtigen. Borkenkäfer erfüllen aber auch wichtige Funktionen im Ökosystem.
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Dr. Beat Wermelinger
Pioniere beim Holzabbau
Borkenkäfer leisten einen zentralen Beitrag zum Holzabbau. So sind gewisse Pionierborkenkäferarten in der Lage, als erste Insekten in die noch intakte Rinde frisch abgestorbener Bäume einzudringen und dort ihre Brutsysteme anzulegen. Insbesondere die Rinde von Nadelbäumen besitzt zu Beginn noch verschiedene toxisch wirkende Harz- und Gerbstoffe, die eine rasche Besiedlung durch holzabbauende Pilze erschweren. Durch die Ein- und Ausbohrlöcher der Käfer entstehen jedoch Eintrittspforten für diese Pilzsporen und das Recycling der im Baum gespeicherten Nährstoffe für das Wachstum anderer Kraut- und Holzpflanzen kann beginnen. Auch das Bohrmehl und der Kot der Käfer und Larven kann schnell von Mikroorganismen und Pilzen besiedelt und abgebaut werden. Ausserdem löst die Frasstätigkeit der Larven und Jungkäfer die Rinde vom Splintholz (Abb. 1). Dadurch wird der Holzkörper für weitere Insekten und Pilze zugänglich. Ferner schleppt zum Beispiel der Buchdrucker – der ökonomisch wichtigste Borkenkäfer – oft einen Pilz ein, der ihm die Besiedlung erleichtert, den Wassertransport im Holz unterbricht und Zellinhaltstoffe abbaut. Ähnliches bewirken die Ambrosiakäfer, die aktiv einen Pilz als Nahrung für ihre Brut ins Holzinnere eintragen (siehe Beitrag S. 16). Neben Borkenkäfern sind auch Holzwespen typische Erstbesiedler und Abbaupioniere von frisch abgestorbenen Bäumen. Auch sie bringen einen Pilz ein, der den Larven den Abbau von Holz erlaubt.
Abb.1: Die Bohrlöcher von Borkenkäfern schaffen für holzabbauende Pilze einen ersten Zugang zum Holz. Nach dem Abblättern der Rinde infolge des Reifungsfrasses der Käfer liegt das Holz vollends frei für die Besiedlung durch
holzzersetzende Pilze. (Bilder: B. Wermelinger)
Nahrung für andere Organismen
Durch ihre verborgene Lebensweise unter der Rinde oder gar im Holz sind Borkenkäfer gut geschützt gegen generalistische Räuber und parasitische Insekten. Trotzdem dienen sie einer Vielzahl von verschiedenen Organismen als Nahrung. Verschiedene Vögel ergreifen die Gelegenheit, fliegende oder auf der Rindenoberfläche herumlaufende Käfer zu packen. Das sind aber eher Zufallstreffer. Spechte hingegen sind als einzige Vögel in der Lage, mit ihrem Schnabel Borkenkäfer nicht nur auf der Rindenoberfläche zu erbeuten, sondern auch aus der
Rinde oder dem Holz herauszuhacken. Zwar sind einzelne Borkenkäferlarven nicht eine ergiebige Nahrungsquelle, aber, da sie meist zahlreich vorhanden sind und mit geringem Aufwand aus der Rinde hervorgeholt werden können, trotzdem eine lohnende Beute. Die Nutzung von Borkenkäfern als Nahrung ist je nach Spechtart saisonabhängig. Im Winter sind andere Nahrungsquellen wie Raupen oder Ameisen Mangelware oder schlecht zugänglich, sodass bei einigen Spechtarten die Borkenkäfer dann bis 99 Prozent der Nahrung ausmachen können. Der Dreizehenspecht ist sogar auf Borkenkäfer spezialisiert und ein wichtiger natürlicher Feind (siehe Beitrag S. 26). Neben den Spechten gibt es zudem eine grosse Zahl von Insektenarten, die sich räuberisch oder parasitisch von Borkenkäfern ernähren und deshalb auf diese Nahrung angewiesen sind. Darunter sind verschiedene räuberische Käfer und Fliegen sowie parasitische Wespen (Schlupfwespen, siehe Beitrag S. 25).
Transport
Borkenkäfer können auch Transportvehikel für andere Organismen sein. Schon erwähnt wurde der Transport von Pilzsporen, die mit den ausfliegenden Käfern gezielt zu einem nächsten Baum getragen werden und sich dort wieder vermehren können. Auch verschiedene Milben benutzen Borkenkäfer als Transportmittel (sogenannte Vektoren; Abb. 2). Es handelt sich dabei um Milbenarten, die in kurzlebigen Habitaten vorkommen und sich von verschiedenen Abfallstoffen und Pilzen in den Borkenkäfergängen ernähren. Da Milben flugunfähig sind, sind sie für ihre Ausbreitung auf solche Vektoren angewiesen. Sie heften sich auf oder unter den Deckflügeln oder an der Brust von ausflugbereiten Borkenkäfern fest und erreichen so neue Lebensräume. Am neuen Ort gelangen die Milben dann durch die Einbohrlöcher der Käfer in deren Brutsysteme. Beim Buchdrucker fand man in einer Untersuchung, dass 30 Prozent aller Käfer von Milben besetzt waren. Die Milben schaden dem Vektor nicht, da sie sich in einem inaktiven Wandernymphenstadium befinden. Im Gegenteil, die Käfer transportieren auch räuberische Milben, die sich von Nematoden ernähren, die von Borkenkäferbrut leben. Somit profitieren beide: die Milben vom Transport durch die Käfer, die Käfer von der Reduktion pathogener Nematoden.
Abb. 2: Von toter organischer Substanz lebende Milben sind als flügellose Tiere für den Wechsel auf neue Käferbäume auf den Transport durch Borkenkäfer angewiesen.
Abb.3: Geschwächte Bäume werden von Borkenkäfern bevorzugt befallen und ausgemerzt.
Erhöhen der Waldvitalität
Jeder gesunde, sich vom Menschen unbeeinflusst entwickelnde Wald enthält auch alte, geschwächte oder kranke Bäume. Solche Bäume werden bevorzugt von bestimmten Borkenkäferarten wie dem
Buchdrucker besiedelt und zum Absterben gebracht (Abb. 3). Der Ausfall dieser Individuen schafft Platz für junge, nachwachsende Bäume, bringt Licht in den Bestand, erzeugt Totholz und fördert damit die generelle Vitalität eines Waldes.
Borkenkäfer als Lebensraum-Gestalter
Einige Borkenkäferarten wie der Buchdrucker können ihre Lebensräume stark beeinflussen und gestalten, sie sind damit sogenannte Ökosystem-Ingenieure. In einem Käfernest herrschen nach dem Absterben der Fichten gegenüber dem intakten Bestand stark veränderte klimatische Bedingungen. Das entstandene Totholz stellt eine essenzielle Ressource für eine grosse Zahl von Organismen dar. Pilze, Flechten und Insekten – zu Beginn vor allem Käfer – entwickeln sich im oder auf dem neu entstandenen Substrat. Spechte wiederum nutzen die sich im Holz entwickelnden Larven als Nahrung und bauen ihre Nisthöhlen in die abgestorbenen, aber noch aufrechtstehenden Bäume. Ausserdem können sie ganze Rindenplatten mit Jungkäfern vom Stamm lösen, die hinunterfallen und von anderen Vögeln aufgepickt werden. Alte Spechthöhlen sind wieder Brut- und Schlafgelegenheiten für andere höhlenbrütende Vögel, Kleinsäuger und Fledermäuse. Unter den umgestürzten toten Bäumen finden Amphibien geeignete Überwinterungsorte, und auf Stämmen und Strünken, die aus der Bodenvegetation ragen, können sich Reptilien sonnen. Das sich über Jahrzehnte zersetzende Holz wird je nach Abbaugrad von den unterschiedlichsten Käfer-, Hautflügler-, Fliegen- und Mückenarten als Lebensraum genutzt (Abb. 4). Und schliesslich zerlegt eine grosse Zahl verschiedener Pilzarten die für andere Arten unverdaulichen Holzbestandteile wie Zellulose und Lignin. In der Schweiz sind fast 5000 Organismenarten (rund ein Viertel aller im Wald lebenden Arten) solche Totholznutzer; viele davon stehen auf Roten Listen bedrohter Arten. Eine Untersuchung im Nationalpark Bayerischer Wald zeigte, dass die durch Borkenkäferbefall entstandenen Bestandesränder Hotspots der Insekten-Biodiversität sind. Speziell die Totholzkäfer sowie die Wildbienen- und Wespenvielfalt war in den ehemaligen Befallsherden ungleich grösser als im intakten Wald. Wenn nach einer Massenvermehrung Fichtenbestände gar flächig absterben, verändern sich ganze Landschaften. Wo der Wald sich vorher als dichter
Abb.4: Der Schulterbock (Oxymirus cursor) entwickelt sich in verpilzten Stämmen und Strünken von Fichten, wie sie zum Beispiel in alten, ungeräumten Käfernestern zu finden sind. Abb.5: Der Buchdrucker kann als ökologisch wertvolle Störung wirken: Nach einem Befall entsteht ein neues Habitat mit Krautpflanzen, Pioniergehölzen und viel Totholz. Dieser Lebensraum wird von unzähligen Organismen genutzt, bis wieder ein geschlossener Wald mit anderen Bewohnern entsteht.
Fichtenbestand präsentierte, entsteht für einige Jahre oder Jahrzehnte ein offenes, besonntes Habitat (Abb. 5). Es setzt natürlicherweise eine neue Waldentwicklung ein mit neuen Lebensräumen für eine riesige Zahl von Pflanzen und Tierarten. Die Sukzession beginnt mit einem starken Wachstum von verschiedensten Kraut, Stauden und Strauchpflanzen wie Walderdbeere, Weidenröschen, Farn, Himbeere oder Brombeere, gefolgt von Pioniergehölzen wie Weide, Birke, Vogelbeere bis schliesslich wieder die Schlussbaumarten dominieren. Dieser Prozess kann je nach klimatischen Bedingungen mehrere Jahrzehnte dauern. In dieser Zeit unterscheidet sich das ehemalige Käferbefallsgebiet komplett vom umgebenden Wald und bietet nicht nur pflanzenfressenden und blütenbesuchenden Insekten Nahrung, sondern ist auch Lebensraum einer reichen Kleinsäuger und Vogelfauna. Zudem werden solche Flächen gerne vom Wild als willkommene Äsungsflächen genutzt.
Veränderte Standortbedingungen
In Käfernestern verändern sich auch die hydrologischen und chemischen Eigenschaften des Bodens. Der Wasserabfluss aus dem Boden ins Grundwasser und in Bäche nimmt zu, ebenso vorübergehend der Nitratgehalt des Grundwassers. Der kurzfristig massiv erhöhte Nadelfall, die höhere Sonneneinstrahlung und das veränderte Bodenklima erhöhen die StickstoffMineralisierungsrate, was sich auch längerfristig in einem höheren Stickstoffgehalt in den neuen Nadeln der überlebenden Bäume niederschlägt. Grossflächige Borkenkäferbefälle von regionalem Ausmass führen dazu, dass die betroffenen Wälder weniger Kohlenstoff binden und vorübergehend von einer Kohlenstoffsenke zu einer Quelle werden können. Die überlebenden Bäume und der nachwachsende Jungwuchs haben dies aber nach ein bis zwei Jahrzehnten kompensiert. Borkenkäfer haben somit nicht nur eine ökonomische, für uns Menschen meist negative Bedeutung, sondern sie sind auch ein wesentlicher Bestandteil in der natürlichen Walddynamik, im Nahrungsnetz, beim Umsatz von Nährstoffen und beim Schaffen neuer Lebensräume.