Caritas-Magazin Juni 2022

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CARITAS Nr. 3 / Juni 2022

Magazin

Ukraine: Caritas hilft vor Ort Seite 4

Migration

Menschen

Schweiz

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Gastfamilien für Prix Caritas: innovative Einen Schritt von Flüchtlinge Online-Dienste Armut entfernt


Offener Brief

Liebe Spenderinnen, liebe Spender Caritas Schweiz ist da, wo Menschen auf Hilfe angewiesen sind. Solche Orte gibt es zurzeit viele, leider zu viele. Der Krieg in der Ukraine hat Ver­ wüstung und grosse Not gebracht und zu einer immensen Zahl von Ver­ triebenen geführt. Es sind Menschen, die um ihr Leben fürchten und sich, ihre Kinder und Angehörigen in Sicherheit bringen. Caritas Schweiz ist an der polnischen Grenze präsent, zusammen mit ­Caritas Polen. In den «Tents of Hope» helfen wir den Menschen mit Ver­ pflegung, medizinischer Notversorgung und Unterkunft. Auch die Zurück­ gebliebenen, die in den umkämpften Gebieten ausharren, lassen wir nicht allein. In über 60 Sozialzentren der ukrainischen Caritas erhalten Vertrie­ bene warme Mahlzeiten, einen Schlafplatz und psychologische Betreuung. In der Schweiz vermittelt und betreut Caritas Gastfamilien für ukrainische Flüchtlinge: Lesen Sie das berührende Porträt von zwei jungen ukraini­ schen Frauen mit ihren Kindern und Schwiegermüttern, die im Aargau ein vorläufiges Zuhause gefunden haben.

Wir bei Caritas Schweiz sind ein grosses «House of Hope» – für die Schweiz, aber auch weltweit.

Weiterhin ein Thema ist die Armut in der Schweiz. Wir sind der Meinung, dass es uns als Gesellschaft gelingen muss, diese Ungleichheit zu be­ kämpfen und gleiche Chancen für alle zu schaffen. Lesen Sie mehr dazu auf Seite 12. Die erwähnten «Tents of Hope» in Polen setzen ein wichtiges Zeichen für die Menschen auf der Flucht. Wir bei Caritas Schweiz sind ein gros­ ses «House of Hope» – für die Schweiz, aber auch weltweit. Seit diesem ­April darf ich die Leitung dieser Organisation wahrnehmen. Die Aufgabe ist ­Privileg und Verantwortung zugleich. Ich werde mich dafür einsetzen, dass wir als Caritas Schweiz unsere Wirkung zugunsten von Menschen in Not immer wieder neu erfinden und weiterentwickeln – gerade auch in schwierigen und unsicheren Zeiten. Teilen Sie diese Vision? Möchten Sie uns darin unterstützen? Das neue Erbrecht gibt größeren Spielraum bei der selbstbestimmten Zuweisung – auch hierzu finden Sie Informationen im vorliegenden Magazin. Ich wünsche Ihnen eine unterhaltsame Lektüre und danke Ihnen schon jetzt für Ihr Vertrauen und Ihre Unterstützung.

Peter Lack Direktor Caritas Schweiz

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Bild: Gaëtan Bally


Inhalt

Hilfe für die Menschen der Ukraine Seit Februar herrscht in der Ukraine Krieg. Millionen Menschen sind bereits aus dem Land geflüchtet oder sind intern vertrieben. Sie wollen sich, ihre Kinder und Angehörigen in Sicherheit bringen. Caritas unterstützt die Flüchtlinge in der Ukraine sowie an der Grenze zu den Nachbarländern. Diese Menschen habe alles verloren, sie brauchen unsere Hilfe. Seite 4

8 Migration: Gastfamilien für Flüchtlinge

Olga und Viktoria sind mit ihrer Familie aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. In Muhen haben sie eine Gastfamilie und ein neues Zuhause gefunden.

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Menschen: Prix Caritas: OnlineDienste für Asylsuchende

Lea Hungerbühler gründete 2017 den Verein AsyLex, der Asylsuchenden kos­ tenlos Online-Beratung und Rechtshilfe anbietet. Sie konnte schon etliche Erfolge vor Bundesgericht verbuchen.

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chweiz: Ein Leben knapp S über der Armutsgrenze

Wenn die gesetzliche Armutsgrenze um 500 Franken erhöht würde, gäbe es dop­ pelt so viele Armutsbetroffene wie heute. Dies sind vor allem Familien.

IMPRESSUM Das Magazin der Caritas Schweiz erscheint sechsmal im Jahr. Herausgeberin ist Caritas Schweiz, Kommunikation und Marketing, Adligenswilerstr. 15, Postfach, 6002 Luzern, E-Mail: info@caritas.ch, www.caritas.ch, Tel. +41 41 419 22 22 Redaktion: Lisa Fry (lf); Livia Leykauf (ll); Vérène Morisod Simonazzi (vm); Fabrice Boulé (fbo); Stefan Gribi (sg); Anna Haselbach (ah) Das Abonnement kostet fünf Franken pro Jahr und wird einmalig von Ihrer Spende abgezogen. Grafik: Urban Fischer Titelbild: Philipp Spalek/Caritas Deutschland Druckerei: Kyburz, Dielsdorf Papier: 100 % Recycling Spendenkonto: IBAN CH69 0900 0000 6000 7000 4 Klimaneutral gedruckt

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Reportage

Krieg in der Ukraine – Caritas hilft vor Ort Text: Lisa Fry Bilder: Philipp Spalek/Caritas Deutschland, David Smallwood/ Caritas Polen, Caritas Schweiz

Alina floh mit ihren zwei Söhnen Alexej und Sascha aus der Ukraine nach Polen. An der Grenze erhielten sie in einem «Tent of Hope» von Caritas eine warme Mahlzeit und einen Schlafplatz.


Reportage

Zerbombte Häuser in der Nähe der Hauptstadt Kyiv.

Der Angriff Russlands bringt Gewalt und Schrecken eines Krieges in die Ukraine. Die Menschen fürchten um ihr Leben. Millionen flüchten. Das internationale Caritas-Netz steht von der ersten Stunde an der Seite der Betroffenen, in der Ukraine und in den Nachbarländern: Sie betreut Flüchtlinge, liefert Lebensmittel, vermittelt Unterkünfte. Caritas Schweiz unterstützt die lokalen Caritas-Organisationen. In der Nähe von Dorohusk, Polen, sitzt Alina* in einem «Tent of Hope» der C ­ aritas. Sie und ihre Söhne Alexej (5)* und Sascha (2)* löffeln dankbar eine heisse Suppe. An der polnisch-ukrainischen Grenze führt

In den «Tents of Hope» erhalten die Flüchtenden eine warme Mahlzeit und eine Schlafstelle. ­ aritas Polen acht solche «Zelte der Hoff­ C nung», wo sie Flüchtende empfängt und ihnen eine warme Mahlzeit, einen Schlaf­ platz oder medizinische Notversorgung anbietet. Alina hat ihre Heimatstadt Lviv im Westen der Ukraine verlassen, denn sie * Namen wurden geändert

bangte um das Leben ihrer Söhne. Zwei Tage waren sie im Auto unterwegs, nun sind sie in Polen in Sicherheit. Sie wird am folgenden Tag zu ihrer Schwiegermutter fahren, wo sie mit ihren Kindern das Ende des Krieges abwarten will. «Dann möchte ich so schnell wie möglich zurück in meine Heimat», erklärt sie. «Ich bin froh, dass ich hier so viel Unterstützung erhalte. Ein warmes Essen und einen Schlafplatz für mich und die Kinder. Sogar eine warme Jacke für Alexej habe ich an einem Verteil­ stand erhalten.» Hoffnung, das möchten die «Tents of Hope» den Menschen vermit­ teln, die so vieles verloren haben. Hilfe auf der Flucht Die vielen Freiwilligen, die in den «Tents of Hope» arbeiten, helfen den Ankom­ menden, eine Unterkunft zu finden. Die Flüchtenden erhalten zudem verlässli­ che Informationen zur Situation und Wei­

terreise, eine wertvolle Dienstleistung in Kriegszeiten. 4500 besonders schutzbe­ dürftige Personen werden unter Mithilfe der Glückskette mit Bargeldhilfe unter­ stützt. So können sie selber Lebensmittel kaufen oder die weitere Reise bezahlen. Neben kurzfristigen Übernachtungsmög­ lichkeiten vermittelt Caritas Polen auch Gastfamilien, die längerfristig Flüchtlinge aufnehmen. In Caritas-Unterkünften woh­ nen Kinder aus Waisenhäusern, die in der Ukraine evakuiert wurden. Nun müssen genügend Lehrpersonen für die neu an­ gekommenen Kinder gefunden werden. Dank der vielen Freiwilligen helfen in den Projekten von Caritas Polen inzwischen bis zu 100 000 Personen mit. Auch in den anderen zwei Nachbar­ ländern Rumänien und Moldawien wur­ den die bestehenden Caritas-Netzwerke schnell aktiv und fuhren ihre Hilfe hoch. Die Solidarität ist riesig. Caritas Schweiz unterstützt die Partnerorganisationen in den drei Ländern bei ihrer Arbeit. Ein De­ legierter in Polen koordiniert, nimmt neue Bedürfnisse auf und steht ständig im Kontakt mit dem Hauptsitz von Caritas Schweiz in Luzern.

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Reportage Der ukrainische Lastwagenfahrer Danlyo transportiert als Freiwilliger tonnenweise Lebensmittel vom Warenlager der Caritas in Polen in die Ukraine.

Mehrmals täglich fahren rieisige LKWs voller Essenspakete über die Grenze.

Vertrieben im eigenen Land Über sieben Millionen Menschen sind in­ nerhalb der Ukraine geflüchtet. Sie lassen in den stark umkämpften Gebieten im Os­ ten alles zurück und bringen sich in den we­ niger betroffenen Regionen im Westen in Sicherheit. Die Menschen bangen um ihre

« Die Menschen dankten uns auf den Knien, als wir ankamen.» Zukunft. Viele haben ihre Liebsten verloren und sind traumatisiert von den Schrecken des Krieges. Die Helferinnen und Helfer der ukrainischen Caritas sind seit dem Tag, als die ersten Bomben fielen, praktisch rund um die Uhr im Einsatz. Bis heute leisten sie wo immer möglich Unterstützung – auch in den Gebieten, wo gekämpft wird. Die Angst der Helfenden tritt angesichts der Not der Menschen in den Hintergrund. Im ganzen Land gibt es über 60 Sozialzentren, in de­ nen bis zu 2500 Vertriebene täglich Mahl­ zeiten, einen warmen Schlafplatz und psy­ chologische Betreuung erhalten. Für Kinder gibt es spezielle Räume. Dort können sie spielen und ihre schlimmen Erlebnisse für einen Moment vergessen.

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Versorgung über die Grenzen hinweg Da die Lebensmittelversorgung in der Ukraine immer schlechter wird, organi­ siert Caritas in Polen Lebensmitteltrans­ porte über die Grenze hinweg. Mit riesigen Lastwagen bringt sie Lebensmittelpakete, Trinkwasser und Hygienegüter aus dem «Cross-Border-Hub» – eine zentrale La­ gerhalle von über 3000 m2 – im polnischen Lublin zu den Lagerhäusern der Caritas auf der ukrainischen Seite. Mehrere Last­ wagen rollen täglich voll bepackt über die Grenze. Danlyo* ist einer der u ­ krainischen Lastwagen-Chauffeure, welche die Ware in Lublin abholen und in die U ­ kraine brin­ gen. Er arbeitet als Freiwilliger für die ­Caritas und fährt sogar mit seinem ei­ genen Truck, den er auch selber unter­ hält. Das heisst, wenn sein Fahrzeug be­ schädigt oder gar zerstört würde, hätte er seine Lebensgrundlage verloren. Trotz­ dem möchte er diese Arbeit weiterhin ma­ chen und seinen Landsleuten helfen. «Es ist ein harter Job. Wir schlafen, essen und leben im Truck. Immer auf der Strasse. Aber es ist befriedigend, denn wir kön­ nen helfen.» Enorme Dankbarkeit der Menschen Danlyo hilft auch beim Beladen des Last­ wagens in Lublin. Oft machen die Freiwil­

ligen das von Hand – Pakete von 10, 20, manchmal 30 Kilo. Alle helfen mit. «Mein Rücken schmerzt, aber es fühlt sich trotz­ dem gut an. Die Menschen sind so dank­ bar, das gibt mir Kraft.» Und er fügt hinzu: «Wenn wir Seite an Seite arbeiten, gibt es keinen Unterschied zwischen Polen und Ukrainern. Wir sind alle froh, dass wir hel­ fen können.» Nach einer Pause sagt er, dass er sich nicht vorstellen könne, was passiert wäre, wenn die Polen nicht ge­ wesen wären. «Sie haben uns sofort ge­ holfen. Vorher wusste ich nicht, dass un­ sere Nachbarn solch gute Menschen mit so viel Herz und Mut sind.» Er wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. Im «Cross-Border-Hub» in Lublin wer­ den humanitäre Güter gelagert: Lebens­ mittel, Trinkwasser, Hygieneartikel und Me­ dikamente. Es können nur lang haltbare Lebensmittel transportiert werden, keine Produkte, die Kühlung brauchen. Die ukra­ inische Caritas meldet ihren Bedarf an Le­ bensmitteln dem Logistik-Center in Lublin. Caritas Polen kauft die Produkte auf loka­ len Märkten und in den umliegenden Län­ dern ein. So soll auch die lokale Wirtschaft unterstützt werden. ­Danlyo fährt norma­ lerweise nach Lutsk, Rivne und in andere Städte in der Westukraine. Dort werden die Güter in die Warenlager der ukraini­


Reportage schen Caritas gebracht und mit kleineren Bussen weiter verteilt. «Die Menschen sind so dankbar», sagt Danlyo. «In einer Stadt dankten die Menschen uns auf den Knien, als wir ankamen.» Hindernisse Ein Problem beim Transport ist vor allem das knapp gewordene Benzin. Es ist nur schwer erhältlich und sehr teuer. Manch­ mal gibt es auch Schusswechsel in die­ ser Gegend. Danlyo hatte auch schon Angst, dass sein Lastwagen trotz huma­ nitärer Mission beschossen würde. Aber zum Glück passierte nie etwas. Doch

« Caritas hilft, die Leute mit dem Nötigsten zu versorgen.» das kann sich schnell ändern. Sicher­ heiten gibt es in Kriegszeiten keine. Die Überquerung der Grenze von der Ukra­ ine nach Polen ist inzwischen einfacher geworden. Mit dem gut sichtbaren Ca­ ritas-Logo wird Danlyo rasch durchge­ wunken. Am Anfang des Krieges wurde sein LKW noch mit Röntgenstrahlen auf Waffen untersucht. Auch die Bewilligung, welche die Ukrainer für die Grenzüber­ querung brauchten – da die Männer das Land nicht verlassen dürfen –, ist inzwi­ schen leichter erhältlich. Das Problem wurde rasch auf Regierungsebene gelöst. Eingekesselt und zerstört Je länger der Krieg dauert, umso dramati­ scher wird die Lage im Osten der Ukraine. Die Menschen sind eingekesselt, die Infra­ struktur ist grossenteils zerstört. In Mariupol wurde sogar ein ­Caritas-Zentrum im Kampf beschossen. Zwei ­Caritas-Mitarbeitende und fünf ihrer Familienangehörigen sind da­ bei ums Leben gekommen. Einige CaritasMitarbeitende haben ihre Familien nun ins Ausland evakuiert, sie selber bleiben aber zurück und führen ihre Arbeit vor Ort fort. Sie wurden jedoch an Orte verlegt, die si­ cherer sind. Die Menschen, die im Frühling vom Os­ ten in den Westen fliehen, sind in schlech­ ter Verfassung. Sie haben Schlimmes

In den acht «Tents of Hope» der Caritas erhalten die Menschen aus der Ukraine eine warme Mahlzeit.

Flüchtende finden bei Caritas eine Schlafstelle, damit sie sich ausruhen können, bevor sie ihren Weg fortsetzen.

durchgemacht, dem Tod in die Augen ge­ blickt. Wochenlang haben sie in Kellern gehaust, um zu überleben. Sie sind ge­ flüchtet nur mit dem, was sie auf dem Leib tragen. Ihr einziges Ziel: sich und ihre Kin­ der in Sicherheit bringen. Auch in Butscha bei Kyiv** gab es ein schlimmes Massa­ ker. Caritas hilft, die Leute mit dem Nö­ tigsten zu versorgen. Freiwillige bringen Essenspakete und Medikamente oder bieten Transportmöglichkeiten an. Gezielte Hilfe Caritas Schweiz kann die Spendengelder in der Ukraine sehr gezielt einsetzen. Ihr Delegierter Lukáš Voborský sagt: «Da wir

in der Ostukraine seit über 30 Jahren prä­ sent sind, wissen wir genau, wo die Men­ schen sind, die am dringendsten Nothilfe brauchen.» Caritas wird weiterhin in der Ukraine und den Nachbarländern präsent bleiben und Hilfe leisten – für die Menschen, die flüchten und auch für die Zurückgebliebe­ nen. Mit ihrer humanitären Hilfe kann sie Not lindern. Gleichzeitig plant sie lang­ fristig ausgerichtete Projekte, welche die Menschen, die von diesem schrecklichen Krieg betroffen sind, unterstützen. * Namen wurden geändert ** ukrainische Schreibweise von Kiew

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Schweiz

Die Grossfamilie ist im Februar aus der Urkraine geflüchtet und hat in Muhen ein schönes Zuhause gefunden (von links): Viktoria, Irina, Michail, Sergej, Anna, Svetlana und Olga.

Von Flucht, Unsicherheit und Solidarität Eine Grossfamilie flieht – ohne ihre Männer – aus Kyiv* in der Ukraine, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie haben 2014 bereits den Krieg in Donetsk in der Ostukraine erlebt und handeln deshalb schnell. In Muhen (AG) finden sie Zuflucht bei einem Gastgeber-Ehepaar, das nicht anders konnte, als zu helfen. Olga (30) arbeitet in einem Hotel in Kyiv, das von vielen internationalen Gästen be­ sucht wird. Nach dem 24.  Februar, als Russland die Ukraine angreift, reisen die Gäste jedoch alle ab. Die Sirenen heulen immer öfter auf, die Menschen rennen in die Keller. Zwei Tage später beschlies­

«Die Gastfreundschaft war von Anfang an sehr gross.» sen Olga und ihr Mann, dass sie mit Toch­ ter Anna (8)** und der Schwiegermutter das Land verlassen sollten. Ihre Schwä­ gerin Viktoria (32), die ebenfalls in Kyiv * ukrainische Schreibweise von Kiew ** Namen geändert

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wohnt, trifft zusammen mit ihrem Mann ­denselben Entscheid. Sie, die zwei Kin­ der Michail** und Sergej** (2 ½ und 7) so­ wie ihre Schwiegermutter sollen fliehen – zusammen mit Olgas Familie. Die Ehemänner, die das Land nicht verlassen dürfen, bringen ihre Familien zu einem bestimmten Punkt an der Grenze zu Rumänien. Der Abschied ist emotio­ nal, sie wissen nicht, wann sie sich wie­ dersehen werden. Auf der anderen Seite wird die Grossfamilie von tschechischen Freiwilligen abgeholt, die Viktorias Mann durch Freunde organisiert hat. Mit ihnen fahren sie über Ungarn nach Tschechien, wo sie einige Tage bleiben. Die freiwilli­ gen Helfer haben alles organisiert: Betten und Essen. Olgas und Viktorias Familien sind froh über die grosse Solidarität. «Wir

stammen aus Donetsk und sind vor acht Jahren vor dem Krieg nach Kyiv geflohen. Wir wissen, wie es sich anfühlt, immer mit der Angst zu leben», erzählen sie. Tatkräftig etwas beitragen Am 7.  März nehmen sie den Zug über ­Österreich in die Schweiz. In Zürich hilft ihnen ein Bekannter, den Olga von ihrer Arbeit im Hotel kennt. Er bringt sie ins Bundesasylzentrum, wo sie den Schutz­ status «S» beantragen. Eine Gastfamilie wird für sie gesucht. Ihr Wunsch ist es, dass alle zusammenbleiben können – für sieben Personen ein schwieriges Unter­ fangen. Die meisten Privatunterkünfte, die gemeldet werden, verfügen über weniger Platz. Aber das Schicksal meint es gut mit ihnen. Jan (42) und Béatrice (33) in Muhen im Kanton Aargau haben den Wunsch, eine Familie aus der Ukraine aufzuneh­ men. Der aufflammende Krieg bedrückt Jan sehr, er schläft schlecht. Deshalb will er tatkräftig etwas beitragen, um das Leid Bilder: Jürg Waldmeier


Schweiz der Flüchtenden zu lindern. Er und seine Frau haben gerade ein altes Bauernhaus im Dorf gekauft, das sie umbauen wollen. Vorläufig wohnen sie aber mit ihren zwei kleinen Kindern noch in einer Mietwoh­ nung. Ihr Entschluss steht schnell fest. Die Familie bleibt zusammen Sie geben an, dass sie «5+» Personen auf­ nehmen können. Es ist ein Glücksfall für Olgas und Viktorias Familie. Denn zusam­ men können sie die schwierige Zeit bes­ ser überstehen. Sie besteigen den Zug nach Aarau, wo sie bereits von Jan er­ wartet werden. «Die Gastfreundschaft war von Anfang an sehr gross», sagt Olga. Als sie beim Haus in Muhen ankommen, sind die Gäste freudig überrascht: Jeder er­ hält im oberen Stock ein eigenes Zimmer mit Bad (im Haus wurden früher Semi­ nare angeboten). Nie hätten sie gedacht, dass sie so komfortabel wohnen können, auch wenn das Haus alt ist. In Windeseile hatte Béatrice bei Bekannten Betten zu­ sammengesucht, die sie noch aufstellen muss. Viel Zeit blieb nicht, um alles vor­ zubereiten. Später erhalten sie von Nach­ barn zwei Sofas, die jetzt im Wohnzim­ mer neben dem grossen Esstisch stehen. Die Hilfsbereitschaft im Dorf ist riesig. Be­ kannte bringen Essen und Kleider.

Caritas vermittelt und betreut Inzwischen sind bereits zehntausende Flüchtende aus der Ukraine in der Schweiz angekommen. Caritas be­ treut die Gastfamilien im Kanton Aar­ gau, Zug und Genf. Sie muss überprü­ fen, ob das Zusammenleben klappt und die Flüchtlinge begleitet werden, bis sie ihren Weg selber finden. Für die Bundesasylzentren Boudry und Bern vermittelt Caritas Gastfamilien für die ankommenden Flüchtlinge. Für mehr Information: caritas.ch/ukraine-schweiz

Jan und Béatrice stellen den ukrainischen Flüchtlingen ihr neu erworbenes Haus zur Verfügung, das sie bald umbauen wollen.

Jan und Béatrice sind mit verschie­ denen Behördengängen beschäftigt. Ihre Gäste erhalten aufgrund ihres Schutzsta­ tus «S» bereits einen gewissen Betrag für Essen und Hygieneartikel vom Kanton. «Auch wir als Gastgeber sollten bald ei­ nen Beitrag erhalten», meint Jan. «Diese Strukturen sind erst im Aufbau.» Das Leben muss weitergehen Am Mittwoch, 16.  März, ist die Fami­ lie in Muhen angekommen. Am Montag, 25. März, können die Kinder Anna und Sergej bereits zur Schule gehen. Da in Mu­ hen Doppelklassen geführt werden, besu­ chen die zwei dieselbe Klasse. Sie haben von Nachbarn je einen fast neuen Schul­ thek erhalten, gefüllt mit neuen Stiften und einer Znünibox mit Inhalt. Die beiden leben sich schnell ein. Als nach zwei Wochen die Osterferien anfangen, sind sie traurig. Die Grossfamilie beginnt, im Ort Fuss zu fassen. Der Zusammenhalt zwischen den Gastgebern und den Gästen ist sehr gut. «Wir sind fast schon zu einer neuen Familie zusammengewachsen», meint Viktoria. «Wir durften schon etliche Feste mitfeiern, die hier im Haus oder im Gar­ ten stattfanden. Das lenkt uns ab und wir können lachen und für eine kurze Zeit fröhlich sein.» Sonst sind sie immer noch sehr angespannt. Jeden Tag ver­

folgen sie die schrecklichen Nachrich­ ten aus der Heimat. Ihre Ehemänner sind zwar vorläufig nicht in die Armee einge­ zogen worden, aber niemand weiss, was die Zukunft bringt. Ruhig werden sie erst sein, wenn sie wieder vereint sind. Sei es hier oder dort. Das Wichtigste ist, dass die Kinder in Sicherheit sind und hier zur Schule gehen können. Eine Arbeit finden Olga und Viktoria wollen sich eine Stelle suchen. Olga würde gern wieder in ei­ nem Hotel arbeiten, Viktoria ist Chemie­ laborantin. Sie möchten ihr eigenes Geld verdienen und selbstständig werden. Die Mutter der Gastgeberin unterrichtet die Frauen in Deutsch. Béatrice meint: «Es muss schwierig sein, immer Hilfe anneh­ men zu müssen.» Die Ukrainer sind in der Tat sehr dankbar und tun alles, um das Ihrige beizutragen. Sie kochen für ihre Gastgeber, hüten ihre Kinder und «sie ge­ hen enorm sorgfältig mit unseren Sachen um», erklärt Jan. Die Wertschätzung ist auf beiden Seiten gross. Dies hat auch die Sozialarbeiterin der Caritas festge­ stellt, als sie die Geflüchteten sowie die Gastgeber besucht hat. Ihre Aufgabe ist es zu prüfen, ob die Wohnsituation geeig­ net ist und den vorgeschriebenen Stan­ dards entspricht. (lf)

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Brennpunkt Echo

Ein Lohn für pflegende Angehörige Zehntausende Menschen in der Schweiz pflegen ein Familienmitglied zuhause. Sie leisten diese wichtige Arbeit unbezahlt. Mit einem neuen Projekt möchte Caritas Schweiz das ändern: Pflegende Angehö­ rige sollen für ihre Arbeit entschädigt wer­ den. Die Caritas stellt Menschen aus dem Kanton Luzern, die Familienmitglieder pflegen, im Stundenlohn an und zahlt in die Sozialversicherungen ein. Abgerech­ net wird über die zuständige Kranken­ kasse. Zudem besucht eine diplomierte Pflegefachperson die Angehörigen regel­ mässig, erstellt mit ihnen einen Pflege­ plan und stellt so die Qualität der Pflege sicher. Das Projekt soll nach einer Pilot­ phase auch auf andere Kantone ausge­ weitet werden. (lf)

Medienecho Blick TV | «Die Solidarität ist grösser als beim Balkan-Krieg oder beim Tsunami» | 21. 3. 22 Gerhard Schaumberger von der Caritas begleitet Bundespräsident Ignazio Cassis auf seiner Reise durch Polen und Moldawien: «Es freut mich sehr, dass Bundespräsident Cassis diese Reise nach Polen und Molda­ wien macht und Verantwortung zeigt (…) Als Caritas haben wir einen sehr direkten Zugang zu den Menschen. Die Zusammenarbeit mit dem Bund wird die Hilfe noch effektiver und wirk­ samer machen, was nur im Interesse der Flüchtlinge ist. Wir arbeiten bereits mit Polen, der Ukraine, Moldawien und Rumänien zusammen (…).» Berner Zeitung | Zwischen Geberlaune und Spendemüdigkeit | 5. 4. 22 ­(…) An­ ders sieht es hingegen bei der Caritas Schweiz aus. «Bei anderen Katastro­ phen dauert die stärkste Spendenbe­ reitschaft in der Regel ein bis zwei Wo­ chen», sagt Sprecher Stefan Gribi. Aber: «Beim Ukraine-Krieg zeichnet sich auch nach mehr als einem Monat noch kein Ende der Solidarität durch Spenden ab.

Freiwillige für Bergbauern­ familien gesucht Auch dieses Jahr sucht Caritas Schweiz rund 1500 Freiwillige, welche Bergbau­ ernfamilien unterstützen. Die Freiwil­ ligen helfen beim Heuen, bei Hof- und Stallarbeiten oder im Haushalt. Alle, die den Bergbauern unter die Arme greifen wollen, sind ab dem Alter von 18 Jah­ ren willkommen. Die Menschen, die sich auf das Abenteuer einlassen, lernen eine

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neue Welt fern dem hektischen Treiben der Stadt kennen, arbeiten in der Natur und knüpfen Freundschaftsbande, die oft ein Leben lang halten. Sie können online ­einen Hof aussuchen und ihren Einsatz buchen. (lf) Mehr Informationen unter: bergeinsatz.ch

Keystone SDA | Warum Frauen häufiger von Armut betroffen sind | 8. 4. 22 Frauen sind in der Schweiz stärker von Armut betroffen und einem höhe­ ren Armutsrisiko ausgesetzt als Män­ ner. Am C ­ aritas-Forum in Bern setz­ ten sich heute rund 300 Fachleute mit den Ursachen der Frauenarmut aus­ einander und suchten nach geeigne­ ten Wegen, wie das geschlechtsspe­ zifische Armutsrisiko reduziert werden kann. In ihrer Begrüssung zur sozial­ politischen Tagung unterstrich Gisèle Girgis-Musy , Mitglied des Präsidiums der Caritas Schweiz, dass Gleich­ stellung in der Schweiz zwar verfas­ sungsrechtlich verankert sei, aber in der Realität viele Lücken bestünden.

Bilder: Sarah Hablützel, Monika Flückiger


Menschen

Lea Hungerbühler gründete 2017 den Verein AsyLex, der online kostenlos juristische Unterstützung für Geflüchtete anbietet.

Prix Caritas: Mehr Unterstützung für Geflüchtete Das Schweizer Asylsystem ist komplex. Deshalb sind unentgeltliche OnlineRechtsberatung und -Rechtshilfe für Asylsuchende mehr als willkommen. Lea Hungerbühler, Gründerin und Präsidentin von AsyLex, wird mit dem Prix Caritas 2022 für ihr Engagement ausgezeichnet. Aufklärung online sowie unentgeltliche Beratung und Vertretung – die Grundidee ist so einfach wie effektiv. Mit der Grün­ dung von AsyLex im Jahr 2017 wollte Lea Hungerbühler ihr juristisches Fachwissen in den Dienst der Gesellschaft stellen.

«Die Idee hatte ich, als ich vor einigen Jahren auf einer griechischen Insel für eine NGO tätig war.» Genauer gesagt in den Dienst von Men­ schen, die in die Schweiz geflüchtet sind und sich mit dem komplexen und nicht immer verständlichen Schweizer Asyl­s­ y stem auseinandersetzen müssen. Auch im neuen Asylsystem haben viele Menschen – gerade besonders verletzli­ che Personen – noch keinen genügenden Zugang zur Rechtsberatung. Bild: Leximpact

«Die Idee hatte ich, als ich vor eini­ gen Jahren auf einer griechischen Insel für eine NGO tätig war, welche Geflüch­ teten mithilfe digitaler Technologien ju­ ristische Hilfe anbot», sagt Lea Hunger­ bühler. Diese Freiwilligenarbeit inspirierte sie dazu, 2017 in der Schweiz den Verein AsyLex zu gründen. Neben ihren Tätigkei­ ten als selbständige Anwältin mit Schwer­ punkt Finanzmarktrecht sowie als Rich­ terin am Strafgericht Basel-Landschaft, arbeitet Lea Hungerbühler ehrenamtlich für den Verein AsyLex. Unentgeltliche online-Rechtsberatung AsyLex kann auf sechs festangestellte Personen sowie rund 150 Freiwillige in der Schweiz und im Ausland zählen. Der gemeinnützige Verein wird von verschie­ denen Expertinnen und Experten aus den Bereichen Migration und Asyl un­ terstützt. Dank dieser Unterstützung ha­

ben Dutzende ehrenamtlich tätige Juris­ ten und Anwältinnen die Möglichkeit, sich bei schwierigen Fragen oder Fällen mit ei­ nem Experten oder einer Expertin zu be­ raten. Darüber hinaus sorgen zahlreiche Dolmetschende – die meisten von ihnen ehemalige Klietinnen und Klienten – für die Verständigung zwischen den verschie­ denen Sprachen. Der Verein ist überwie­ gend durch Spenden finanziert. Jede asyl­ suchende Person soll das Verfahren, dem sie unterworfen ist, von Anfang an in sei­ nen Grundzügen verstehen, die Kriterien für Asylgewährung kennen und jederzeit Zugang zu kostenloser Rechtsberatung haben. Das Besondere an AsyLex ist, dass die Rechtsberatung ausschliesslich online ist – Klientinnen und Klienten kon­ taktieren AsyLex über E-Mail und Social Media. Auch Chatbots werden für sys­ tematisierte Informationen zur Verfügung gestellt. Die Website von AsyLex infor­ miert kurz und in verständlicher Sprache über das Asylsystem und bietet Brief- und Formularvorlagen in sieben Sprachen an. Erfolge vor Bundesgericht und auf internationaler Ebene 2020 konnte das Team von AsyLex mit dem «AsyLex Detention Project» grosse Erfolge verbuchen. So gelang es dem Team, über 50 Personen, die rechtswid­ rig inhaftiert waren, aus der Haft zu be­ freien. «Ich habe in verschiedenen Fäl­ len gesehen, dass Menschen inhaftiert wurden, ohne dass die gesetzlichen Vo­ raussetzungen erfüllt waren», so Lea Hungerbühler. Mittlerweile konnte Asy­ Lex bereits fünfzehn Erfolge vor Bundes­ gericht verbuchen – bei drei Abweisun­ gen – und auch auf internationaler Ebene, namentlich vor den UNO-Ausschüssen, erhielt AsyLex 20 Mal sogenannte «In­ terim ­Measures» (aufschiebende Mass­ nahmen), während erst drei Anträge ab­ gelehnt wurden. Mit der Verleihung des Prix C ­ aritas 2022 an Lea Hungerbühler möchte ­Caritas Schweiz ein soziales, innovati­ ves und nachhaltiges Engagement unter­ stützen. Die Dienstleistungen von AsyLex sind geprägt von grosser Professionalität und Menschlichkeit. (fb)

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Brennpunkt Schweiz

Erst bei 0 % Armut sind wir 100 % Schweiz

Meist rutschen klassische Familien oder Alleinerziehende in die Armutsfalle.

Einen Schritt von der Armut entfernt Würde die Armutsgrenze in der Schweiz nur leicht erhöht, würde sich die Zahl der offiziellen Armutsbetroffenen auf einen Schlag verdoppeln. Dies zeigt eine Untersuchung am Beispiel des Kantons Bern. Jede zwölfte Person in der Schweiz ist von Armut betroffen. Dies sind 722 000 Menschen, wie die neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen. «Die Armutsgrenze in der Schweiz ist mit 2279 Franken pro Monat für eine Einzelperson und mit 3963 Franken für einen Haushalt

«Viele Menschen haben monatlich nur 100 Franken mehr zur Verfügung als offiziell Armutsbetroffene.» mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern sehr tief angesetzt. Auch wer ein biss­ chen mehr Geld zu Verfügung hat, kann kaum davon leben, von Reserven für un­ erwartete Ausgaben oder Einkommens­ ausfälle ganz zu schweigen», sagt Aline Masé, Leiterin der Fachstelle Sozialpoli­

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tik der Caritas Schweiz. Die Corona-Krise hat deutlich gezeigt, wie dünn das Eis für viele Menschen in der Schweiz ist. «Wir haben uns gefragt, wer die Men­ schen sind, die knapp über der Armuts­ grenze leben», erklärt Aline Masé. Eine Untersuchung der Berner Fachhochschu­ len gibt nun Antworten. «Aus den Ergeb­ nissen sehen wir klar, dass sehr viele Men­ schen pro Monat nur gerade 100 Franken mehr zur Verfügung haben als offiziell Ar­ mutsbetroffene. Würde man die Armuts­ grenze um 500 Franken höher ansetzen, würde sich die Zahl der von Armut Betrof­ fenen sogar verdoppeln.» Viele Alleinerziehende Die Studie zeigt auch, dass in diesem prekären Bereich knapp über der Ar­ mutsgrenze sehr viele Paare mit Kindern leben, klassische Familien also. Ebenso finden sich hier viele Alleinerziehende –

Appell für eine Schweiz ohne Armut Im Dezember 2021 hat Caritas den «Appell für eine Schweiz ohne Armut» lanciert. Darin fordern wir ein entschie­ denes Handeln von Bund, Kantonen und Gemeinden, gerade auch in der Familienpolitik. Die Studie der Berner Fachhochschule macht noch deutli­ cher, dass hier ein grosser Handlungs­ bedarf besteht. Diesem Magazin liegt ein Unterschriftenbogen bei. Den Appell können Sie auch unter www.caritas.ch/appell unterzeichnen. Danke für ihre Unterstützung!

die Bevölkerungsgruppe, die am stärks­ ten von Armut betroffen ist. «Wir müssen uns dringend die Frage stellen, ob es sich die Schweiz leisten will, dass so viele Fa­ milien in der Schweiz nur einen Schritt von der Armut entfernt sind», sagt Aline Masé. Die Schlussfolgerungen sind ein­ deutig: «Aus Sicht der Caritas erfordern diese neuen Erkenntnisse eine Antwort auf politischer Ebene: Die Armutspräven­ tion muss ausgebaut werden. Dabei gilt es, ein besonderes Augenmerk auf die ­Situation von Familien zu legen.» (sg)

Caritas Positionspapier: «Wenn das Geld kaum zum Leben reicht» caritas.ch/positionspapiere Bild: Conradin Frei


Schweiz

Viele Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, laufen Gefahr, sich zu verschulden. Caritas bietet Schuldenberatung an, die das verhindern soll.

Unkomplizierte Hilfe für Menschen in Not Knapp über der Armutsgrenze leben besonders viele Paare mit Kindern, also klassische Familien. Caritas hat ihre Einzelfallhilfe ausgebaut, um diesen Menschen gezielt helfen zu können. Wer sind die Menschen, die in der Schweiz unmittelbar über der Armuts­ grenze leben? Das Beispiel der Familie A. zeigt auf, wie kritisch die Situation für viele ist. Die Tochter besucht den Kin­

Caritas unterstützte die Familie und ermöglichte damit auch Freizeitaktivitäten für die Kinder. dergarten, der Sohn geht in die Primar­ schule. «Wir wollen den Kindern eine gute Ausgangslage für ihre Zukunft bieten», sagt Herr A. «Doch mit meiner beruflichen Situation ist das nicht einfach.» Der Vater arbeitet auf Abruf in der Reinigung, sein Pensum beträgt zwischen 40 und 60 Pro­ zent. Die Mutter hat eine befristete Stelle als Pflegeassistentin für die Spitex mit ei­ nem Pensum von 90 Prozent. Das Lohn­ Bild: Thomas Plain

niveau in diesen Branchen ist sehr tief, und das Einkommen des Vaters hängt davon ab, wie oft er in seiner Firma zum Einsatz kommt. Entsprechend ist das Budget von Familie A. äusserst knapp. Die beiden Kinder gehen in die Kita, wenn beide Eltern arbeiten. Die Betreu­ ungskosten sind hoch und werden von der Gemeinde kaum subventioniert. Er­ schwerend kommt hinzu, dass Frau A. an einer Depression leidet und regelmäs­ sige psychologische Beratung benötigt. Jede zusätzliche Ausgabe, wie beispiels­ weise für die kürzlich unumgänglich ge­ wordene Zahnbehandlung von Herrn A., sprengt das Budget. Caritas unterstützte die ­Familie und ermöglichte damit auch Freizeitaktivitäten für die Kinder. Caritas bleibt wichtige Anlaufstelle Über 20 000 Menschen konnten C ­ aritas Schweiz und die Regionalen Caritas-­

Organisationen in den letzten beiden Jahren mit einer finanziellen Unterstüt­ zung helfen. Das bereits knappe Bud­ get vieler Haushalte geriet durch die Co­ rona-Krise in Schieflage. Die Regionalen Caritas-Organisationen sind aber wei­ ­ terhin eine wichtige Anlaufstelle für Men­ schen in Not. In den Sozial- und Schul­ denberatungen wird die Situation der Betroffenen analysiert, ein Budget erstellt und es werden gemeinsam langfristige und tragfähige Lösungen erarbeitet. Neuer Fonds für rasche Hilfe Oft kommen Menschen in finanzieller Not erst in die Beratung, wenn ihnen das Wasser bereits bis zum Hals steht. Eine rasche und unkomplizierte Unterstüt­ zung ist wichtig. Daher hat Caritas einen neuen Fonds für finanzielle Einzelfallhilfe, besonders auch für Familien und Allein­ stehende, geschaffen. Doch das allein ist kein Ersatz für eine Familienpolitik, die Ar­ mut wirksam verhindert. (sg)

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Service

Agenda 8. / 9. September 2022, 13.30 –17 Uhr Informationsanlass zum Thema «Selbstbestimmt im Alter» St. Gallen 12. September 2022, 19 Uhr Informationsabend für Interessierte am Thema Pflegefamilie Caritas Schweiz, Luzern

Fragen und Antworten zum neuen Erbrecht Ab Januar 2023 tritt in der Schweiz ein neues Erbrecht in Kraft, das mehr Flexibilität gewährt. Alle Fakten, die Sie dazu wissen müssen. Was ändert sich mit dem neuen Erbrecht grundsätzlich? Die Pflichtteile für die leiblichen Kinder werden reduziert. Diejenigen für die Eltern sowie von Ehepartnerinnern und Ehe­ partnern im hängigen Scheidungsverfah­ ren werden sogar ganz abgeschafft. Wei­ terhin erhalten jedoch Ehepartnerinnen und Ehepartner sowie eingetragene Part­ ner und Partnerinnen einen Pflichtteil. Was sind die Vorteile der Änderung? Ab Januar 2023 verfügen Erblassende über eine höhere freie Quote und kön­ nen vermehrt Menschen oder Organisa­ tionen, die ihnen am Herzen liegen, be­ günstigen. Dafür braucht es zwingend ein Testament, das Ihren Willen klar festhält. Was passiert, wenn ich kein Testament verfasse? In diesem Fall greift die gesetzlich gere­ gelte Erbfolge. Im Gesetz ist festgehal­ ten welchen Angehörigen welcher An­ teil an der Erbschaft zukommt. Es gilt der Grundsatz, «Das Gut fliesst wie das Blut». Das bedeutet, der Nachlass bleibt, wenn immer möglich, in der Familie. Ohne

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Testament ist es nicht möglich Nicht-­ Familien-Mitglieder wie Lebenspartner, Patchwork-Familien-Mitglieder, nicht ge­ meinsame Kinder, Freunde oder karitative Unternehmen zu begünstigen. Wie schreibe ich ein rechtsgültiges Testament? Ihr Testament schreiben Sie von Anfang bis Schluss in leserlicher Schrift von Hand. Ein Kugelschreiber eignet sich am besten dazu. Das Testament muss eindeutig for­ muliert und am Ende mit Ort, Datum und Unterschrift versehen sein. Bewahren Sie das Original des Testaments in einem ver­ schlossenen und angeschriebenen Um­ schlag an einem zugänglichen Ort auf. Caritas gibt eine Vorsorgemappe heraus, welche eine Anleitung zum korrekten Aus­ füllen des Testaments enthält. Eine Beur­ kundung Ihres Testaments durch einen Notar ist möglich, aber nicht notwendig. Empfohlen ist es nur, wenn Ihre Urteilsfä­ higkeit angezweifelt werden könnte. In welchem Fall muss ich ein bestehendes Testament wegen der Erbrechtsrevision ändern?

28. September 2022, 18 Uhr Buchvernissage Almanach Entwicklungspolitik 2023: Urbanisierung im Globalen Süden stattkino, Luzern 8. November 2022, 19 Uhr Informationsabend für Interessierte am Thema Pflegefamilie. Caritas Schweiz, Luzern Auskünfte und Anmelden per Mail an event@caritas.ch oder telefonisch 041 419 24 19

Wenn Pflichtteile mit einer konkreten Quote oder einem Prozentsatz angege­ ben sind, müssen diese geändert wer­ den. Wenn Pflichtteile jedoch ohne Quote oder Prozent genannt werden, müssen Sie nichts ändern. Es wird dann in den meisten Fällen der neue Pflichtteil ange­ wandt. Das hiesse zum Beispiel, dass die Eltern nichts erhielten und die Nachkom­ men den reduzierten Pflichtteil. (lf) Ihre Fragen beantwortet unsere Verantwortliche für Nachlass, Nicole Rogenmoser, per E-Mail nrogenmoser@caritas.ch oder telefonisch Tel. 041 419 22 12 gerne.

Informationen finden Sie auch auf unserer Webseite: www.caritas.ch/testament Bild: Jeanette Dietl / Adobe Stock


Gemeinsam

Freiwillige Helferinnen und Helfer in Polen

Agnjetschka Padzlowska, Bahnhof Przemyśl

die Themen Migration » bilden sich rund um «MigrAction-Weekend am n organisiert. nde n me lige neh iwil Teil Fre Die von de wird unter Mithilfe nen che Wo Das . iter we und Asyl

Am Puls der Zeit Die letzte Seite dieses Magazins bietet jeweils punktuelle Einblicke in das breite Tätigkeitsgebiet von youngCaritas. Welche Vision hat youngCaritas und wie arbeitet sie? Ein Überblick. youngCaritas ist der Jugendbereich der Caritas. Seit über 20 Jahren verfolgen wir das Ziel, junge Menschen für gesellschaftliche Herausforderungen zu sensibilisieren und sie bei der Gestaltung einer solidarischen und nachhaltigen Welt zu unterstützen. Wir richten uns mit unseren verschiedenen Angeboten an Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 12 bis 30 Jahren. Im schulischen und ausserschulischen Bereich bieten wir zielgruppengerechte Informationen, Weiterbildungen und Unterrichtsmaterialien an. In zahlreichen Projekten können sich junge Menschen aktiv engagieren. Wir anerkennen und fördern ihr Potenzial. So begleiten und unterstützten wir Jugendliche und junge Erwachsene, die eigenständig innovative Projekte lancieren.

Themen für junge Menschen erlebbar und ermächtigen sie, ihre Lebenswelt bewusst zu prägen. Die Projekte sind so aufgebaut, dass die Teilnehmenden mitbestimmen, mitorganisieren und langfristig verschiedene Kompetenzen entwickeln können.

Investition in die Zukunft youngCaritas wächst stetig. Nebst dem sechsköpfigen Team bei Caritas Schweiz in Luzern gibt es youngCaritas auch bei den Regionalen Caritas-Organisationen in Zürich, Aargau, Basel, Bern, ­St. ­Gallen und Luzern. Auch auf europäischer Ebene engagieren wir uns für die Jugend. Die Botschaft ist klar: Wir bieten eine Plattform, damit junge Generationen für ihre sozialen Anliegen einstehen können – jetzt und auch längerfristig. Wir machen unsere Arbeit mit Leidenschaft und aus Überzeugung. Zusammen mit jungen Menschen setzen wir uns für eine nachPartizipation als Leitmotiv Über die drei Arbeitsfelder «informieren haltigere und gerechtere Welt ein. & sensibilisieren», «aktiv werden» und Chantal Zimmermann, «Projektförderung» machen wir Caritas-­ Leiterin youngCaritas Bilder: youngCaritas, Philipp Spalek/Caritas Deutschland

«Das Schicksal der Ukrainerinnen und Ukrainer könnte auch das unsere sein. Sofort nach Ausbruch des Krieges beschloss Caritas, Freiwillige für ihr Restaurant am Bahnhof von Przemyśl zu rekrutieren, um Suppe zu kochen und Sandwiches zuzubereiten. Wir kochen täglich 1800 Liter Suppe für die Geflüchteten. Ich arbeite von 6–24 Uhr. Caritas braucht das Engagement aller.»

Pavel Szuzdak, Feuerwehrmann und freiwilliger Helfer

«Ich bin bei der Berufsfeuerwehr. Helfen ist meine Aufgabe und meine Pflicht, und diese nehme ich ernst. Deshalb bin ich als Freiwilliger hier. Tag für Tag be- und entladen wir zehn Stunden lang LKWs, die in Richtung Lviv fahren, mit Tonnen von lebensnotwendigen Gütern wie Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten – einfach mit allem, was die Menschen in der Ukraine benötigen.»

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Nicht für Marco: Er braucht zwei Jobs, um über die Runden zu kommen.

Für eine Schweiz ohne Armut. Jetzt Appell unterzeichnen: caritas.ch/appell

Persönlichkeitsschutz: Name und Bild geändert.

Die Schweiz steht für ein hohes Lohnniveau.


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