chilli – das Freiburger Stadtmagazin

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Ausgabe April/Mai 18. Jahrgang / #166

SEX IM HINTERSTÜBCHEN

Weil Bordelle dicht sind, wandert die Prostitution ins Private

BILANZIERT

Gerda Stuchlik: 24 Jahre auf der Bürgermeisterbank

UMSTRITTEN GRENZWERTIG Anwohnerparken bald 12 Mal so teuer

Freiburgs dunkle Telegram-Gruppen

mit T H EM EN H EF T Bauen & Wohnen



CHILLI EDITORIAL

ROTLICHT IN DER BREDOUILLE

PROSTITUIERTE MÜSSEN IN UNGESCHÜTZTE RÄUME WEICHEN

über die Verliererinnen und Verlierer der Corona-Krise wird viel geschrieben und gesprochen. Die Wirtschaft, die Kultur, das Personal in Kliniken ... Wir richten den Blick in dieser Ausgabe auf ein Milieu, das nur selten Beachtung findet: das der bezahlten Liebe. Diskretion wird da großgeschrieben. Doch auch Prostituierte haben mächtig zu kämpfen in Pandemie-Zeiten, hat chilli-Volontärin Liliane Herzberg in unserer Titelgeschichte rausgefunden. Sie hat sich mit einer Domina unterhalten, die ihre Kunden gerne mal mit „Was willst du, du kleines Stück Scheiße?“ anspricht, und mit Freiburger Kenner·innen der Szene gesprochen. Ihre Recherche zeigt, wie die derzeit erlaubte „Solo-Prostitution“ ohne Zuhälter und Bordell Prostituierte in private Räume drängt – die keinerlei Schutz bieten. Nicht weniger verrucht ist Herzbergs zweite Recherche für diese Ausgabe: Sie hat sich bei einer Tour durch Freiburg nach Telegram-Gruppen umgeschaut. Entdeckt hat sie mit ihrem Handy dabei nicht nur eine Mobilitätswende-Gruppe mit nur einem einzigen Mitglied, sondern auch Angebote für Drogen, Sex und Waffen. Deutlich weniger Rummel herrscht derzeit in Freiburgs Bädern. chilli-Redakteur Philip Thomas hat sich das genauer angesehen: Wie läuft das eigentlich im Keidel-Bad? Zu unserem Staunen musste er feststellen, dass dort viermal täglich die Duschen laufen – obwohl keiner da ist. Warum das so ist, lesen Sie auf den Seiten 24 und 25.

Foto: © pixabay.com

Liebe Leserin & lieber Leser,

Nur privat: Prostitution ohne Zuhälter und Bordell ist erlaubt.

Deutlich mehr los ist beim Thema Anwohnerparken in Freiburg. Bisher hat ein Parkausweis 30 Euro im Jahr gekostet. Jetzt soll der Preis ums Zwölffache steigen: auf 360 Euro im Jahr. Ist das der richtige Schritt? Die dritte Folge unserer KONTROvers-Reihe nimmt sich des Themas mit einem Pro und Contra an. Es geht aber auch weniger umstritten: Mit Gerda Stuchlik hat sich Freiburgs dienstälteste Bürgermeisterin nun in einen nächsten Lebensabschnitt verabschiedet. Ihre fachliche Expertise wurde geschätzt. Im chilli-Interview lässt die Umwelt- und Bildungsdezernentin die Zeit Revue passieren. Was ihr nicht fehlen wird: langatmige Debatten und Bedenkenträger. Ans Herz legen wir Euch und Ihnen auch unsere Fotostrecke „Warten aufs Publikum“. Kulturmenschen aus Freiburg zeigen dabei mit einem Foto und einem Tweet, wie es ihnen in ihren leeren Kulturstätten geht. Wir wünschen anregende Lektüre. Bleiben Sie, bleibt uns gewogen.

Herzlichst, Ihr Till Neumann, Redakteur & die chillisten

APRIL/MAI 2021 CHILLI 3



CHILLI INHALT

Foto: © pt

Foto: © pixabay.com

HEFT NR. 3/21 11. JAHRGANG

> 10 Erlaubt: Solo-Prostituierte dürfen im

> 24-25 Leergefegt: Das Keidel-Bad ist

Privaten arbeiten - das birgt Gefahren.

stillgelegt, die Duschen laufen trotzdem.

IN EIGENER SACHE

3

EDITORIAL

GASTKOLUMNE VOLKMAR STAUB MEHR KOLUMNEN

7 26, 47, 50

TITEL SEX IM HINTERSTÜBCHEN

10-11

Weil Bordelle dicht sind, arbeiten Prostitutierte privat oder illegal

SPORT

FANSICHT

13

Mein Jahr ohne Nordtribüne

POLITIK „DAS RUDER RUMREISSEN“

DRASTISCHE ERHÖHUNG

14-16

18-19

Pro & Contra zum Anwohnerparken

IMPRESSUM chilli – Das Freiburger Stadtmagazin

chilli Freiburg GmbH

Paul-Ehrlich-Straße 13, 79106 Freiburg fon / Redaktion 0761-76 99 83-0 fon / Anzeigen 0761-76 99 83-70 fon / Vertrieb 0761-76 99 83-83 www.chilli-freiburg.de

E-Mail für Online- / Printredaktion redaktion@chilli-freiburg.de

Geschäftsführerin (V.i.S.d.P.) Michaela Moser (mos): moser@chilli-freiburg.de

Chefredaktion

Lars Bargmann (bar): bargmann@chilli-freiburg.de

AUSLAND TROTZ PANDEMIE

22

Freiburgerin macht Erasmus in Rom

Subkultur

Musik

Literatur

GELDSEGEN FÜRS POPBÜRO

BEAT-BASTLER SAMMELT MILLIONEN KLICKS

DEUTSCH-SPANISCHE DIALOGE AM STAMMTISCH

> 37-49 cultur.zeit: News aus Freiburg zu Kultur, Musik und Literatur

SZENE DUSCHEN OHNE GÄSTE

Ein Tag im leeren Keidel-Bad

24-25 26

GUMMIBÄRCHEN-SCHOKOLADE

Idee mit ungewöhnlicher Rezeptur

GLOCKEN UND KRÄUTER

34-36

KOKS, GRAS UND WAFFEN

27

LAGER FÜRS RADLAGER

28

cultur.zeit

GEISTERJÄGER VOR GERICHT

29

Eine Telegram-Tour durch Freiburg

Gruppe sucht Platz für Wagenburg

START-UPS MELDUNG AUS DEM ALL

Gründerteam ConstellR mit großen Zielen

30-31

REKORD-CROWDINVEST

32

700.000 Euro für Mobilfunker WEtell

Redaktion

Till Neumann (tln): neumann@chilli-freiburg.de Philip Thomas (pt): philip.thomas@chilli-freiburg.de Tanja Senn (tas): senn@chilli-freiburg.de Liliane Herzberg (herz): herzberg@chilli-freiburg.de

Kulturredaktion

Michaela Moser (mos): moser@chilli-freiburg.de Erika Weisser (ewei): weisser@chilli-freiburg.de Maria Schuchardt (mas): schuchardt@chilli-freiburg.de

Autoren

Maja Bruder, Hans Lehmann, Ingrid Marienthal, Lars Nungesser, Johanna Reich, Kristina Uhl

Gastkolumnisten

Volkmar Staub, Ralf Welteroth

33

REISE Ein Trip durchs idyllische Allgäu

Beratungsstelle droht das Aus

Interview: Gerda Stuchlik über 24 Jahre als Umweltbürgermeisterin

KONTROVERS

20-21

Der Uni-Lockdown zieht viele runter

Altehrwürdige Mehlwaage an der Metzgerau hat neue Betreiber

12

VOM 7. – 9. MAI

GESTRESSTE STUDIERENDE

NEUER PÄCHTER

SC SORGENFREI

Nun geht’s nur noch um die Landesmeisterschaft

HOCHSCHULE

FreiRäume 2021 – eine Kulturkarawane

KULTUR

38-43

MUSIK

44-47

Subkultur im Aufwind / Musiktheater zu Drama am Schauinsland / Fotostrecke „Warten aufs Publikum“ HipHop-Producer Be Franky / 3 Fragen an Detechtive / CD-Tipps

48-49

LITERATUR

Tertulia-Stammtisch, Bücher-Tipps

Fotograf Julia Rumbach Lektorat Beate Vogt Grafik

Druck & Belichtung

Hofmann Druck, Emmendingen

Themenheft dieser Ausgabe

Miriam Hinze (Leitung), Julia Rumbach, Tatjana Kipf

Bauen & Wohnen

Titel pixabay.com/Gerd Altmann, Freepik cultur.zeit Titel © Pro Kultur e.V./Ralf Buron Bildagenturen iStock, pixabay,

14. Juni 2021

freepik, unsplash

Anzeigenannahme per E-Mail anzeigen@chilli-freiburg.de

Anzeigenberatung

Christoph Winter (Leitung), Jennifer Patrias, Maria Schuchardt, Giuliano Siegel, Fredrik Frisch

Nächster Erscheinungstermin Ein Unternehmen der

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Vertrieb

Fredrik Frisch, frisch@chilli-freiburg.de

Druckunterlagenschluss Jeweils am 28. des Vormonats. Es gilt die Preisliste Nr. 12

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SCHWARZES BRETT

»GELEBTEVERKEHRSGEOGRAFIE « Mehr als 20 Jahre lang war ­Ulrich Heilgeist als überaus auskunftsfreudiger Berater im kleinen DB-­ Reisezentrum im Wiehrebahnhof beliebt. Wegen seines schier unendlichen Wissens über in- und ausländische Eisenbahnlinien, Fahrpläne und Z ­ ugverbindungen kamen Leute aus ganz Freiburg zu ihm - und wegen seiner Geduld, mit der er selbst auf die komplexesten Anliegen der Kunden einging und passgenaue Reiserouten fand. Jetzt ist der 65-Jährige im Ruhestand und tüftelt nur noch für Familie und Freunde Zugfahrten aus.

Foto: © Erika Weisser

„Eigentlich wollte ich gleich nach dem Abi bei der Bundesbahn anfangen. Doch damals herrschte strikter Einstellungsstopp. Also jobbte ich während meines Elektrotechnik-Studiums in Stuttgart beim dortigen Verkehrsverbund. Eisenbahnen waren ja seit meiner Geburt eine Art Lebenselixier. Vermutlich galt schon mein erster Blick nicht meiner Mutter, sondern vorbeifahrenden Zügen, denn das Krankenhaus, in dem ich zur Welt kam, lag direkt an der Bahnlinie in Marbach. Mein Interesse am Zugfahren hat aber vor allem mein Vater geweckt. Er war ein so begeisterter Kursbuch-Leser, dass er überall ‚der wandelnde Fahrplan‘ genannt wurde. Er hat mir früh das Kursbuchlesen beigebracht, dafür bin ich ihm bis heute dankbar. Denn das war die beste Voraussetzung, um hier anzufangen. Natürlich haben dabei auch meine eigenen Reisen eine Rolle gespielt. Ich war immer gerne im Zug unterwegs, habe etwa während der Wehrdienstzeit jeden freien Tag genutzt, um mit der Bahn durch die Gegend zu fahren. Dabei habe ich stets darauf geachtet, mein Reiseziel auf möglichst umwegigen Nebenlinien mit vielen Um-

stiegen zu erreichen. Die kürzeste Hauptstrecke war ja keine Herausforderung, außerdem wollte ich alle Besonderheiten der jeweiligen Gegend kennenlernen. Gelebte Verkehrsgeografie nenne ich das. Zudem bin ich ein leidenschaftlicher Landkartenfetischist, kann mich stundenlang damit beschäftigen, um schöne Reiseziele zu finden. Im Sommer 1986 stellten sich bei einer solchen Reise per Zufall auch meine eigenen Weichen neu. Ich kam von Stuttgart über verschiedene Quer- und Parallelstrecken nach Freiburg und las auf einem Zettel im Hauptbahnhof, dass man hier zum 1. November neues Personal einstellte. Ich bewarb mich und hatte Glück, konnte endlich mein Hobby zum Beruf machen. Zunächst war ich als Zugbegleiter unterwegs – ins Elztal, nach Breisach, das Höllental rauf und runter. Ich nahm auch an sämtlichen Lehrgängen teil, im Stellwerk, bei der Gepäckausgabe, am Fahrkartenschalter. Das hat mir natürlich am besten gefallen. Doch es dauerte, bis ich nur noch im Schalterdienst war. Als Zugbegleiter auf der Höllentalbahn kam ich zwar mehrmals täglich am Wiehrebahnhof vorbei, doch erst um die Jahrtausendwende war es dann so weit. Ich habe immer mein Bestes getan, habe mich jeden Morgen auf die Kunden und ihre Geschichten und Wünsche gefreut. Ich wollte auch besser sein als der Computer, genauso exakte Informationen liefern, dabei aber auch um die Ecke denken. Denn das macht den Unterschied zu Online-Angeboten aus. Eine gute Reise beginnt schließlich mit einer gescheiten persönlichen Beratung.“ Aufgezeichnet von Erika Weisser

BÖSE SMS Achtung, Trojaner: Das Polizeipräsidium Freiburg warnt vor Betrüger-SMS. Ganoven schicken offenbar vermehrt digitale Benachrichtigungen, dass ein Postpaket zum Versand oder zur Abholung bereitläge. Dazu gibt’s einen Link. 6 CHILLI APRIL/MAI 2021

Wer draufklickt, wird ausgespäht oder bekommt eine hohe Rechnung. Auch wenn die neue Kaffeemaschine sehnsüchtig erwartet wird: Lieber warten, bis ein Zettel im Briefkasten liegt oder der Postbote klingelt. tln

Foto: © pixabay


SCHWARZES BRETT

KEIN ALKOHOL

NACHGEWÜRZT! CHARAKTERMASKEN

Skrupellose Charaktermasken haben sich gesagt: Corona kann auch eine Bereicherung sein. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ich meine jetzt nicht die Impfhersteller, Onlinehändler und Sargtischler, nein, das sind normale Krisengewinnler. Eher nerven mich da schon die kriminellen Hilfsgeldabzocker oder börsennotierte Großunternehmen wie Daimler, die in der Krise vom Staat – also von uns allen – Kurzarbeitergelder kassiert und dennoch Millionen an Dividenden an ihre Aktionäre ausgeschüttet haben. Und dann haben da noch einige CDU/CSU-Abgeordnete, qua Amt dem Gemeinwohl verpflichtet, versucht, sich eine goldene Nase zu verdienen und darauf gehofft, dass man die vergoldeten Näschen hinter ihren Masken nicht sieht. Sie haben Maskendealern Millionen von Vermittlungsgebühren aus dem Kreuz geleiert und daran verdient. Das mit dem „Verdienstkreuz“ haben sie offensichtlich irgendwie falsch verstanden. Diese Löbels, Sauters, Hauptmanns usw. gingen mir ganz schön auf die Nüsslein. Bei der Maskenaffäre wird die Fratze des Kapitalismus zu konkreten Gesichtern. Wenn es helfen würde, müsste man denen eine moralische Beatmungsmaske verpassen. Für die CDU/CSU ein Super-GAU. Und jetzt auch noch GAU-weiler, zufällig Anwalts-Sozi vom ertappten Sauter. Gauweiler hatte sich für „Beratungen“ vor einigen Jahren von Baron von Finck Millionen zustecken lassen. Das ist der gleiche Dreck-Finck, der vor Jahren die AfD gesponsert hat und dessen Vater jüdisches Zahngold mit Degussa versilberte. Nur war die Geldbeschaffung für die AfD kein Schwarzgeld, das war eher Braunkohle. Bei diesen Geschäften der schwarzen Schafe in der CDU/CSU wurden vermutlich keine Quittungen ausgestellt, aber ich hoffe, die Union wird im September eine erhalten. In Form des Verlustes der nächsten Kanzlerschaft. Zumal Frau Merkel am Schluss ihrer Amtszeit bei den Corona-Maßnahmen jetzt auch noch unter Richtlinienimpotenz leidet. Politik schafft die Verdrossenheit, die sie verdient. Deshalb hoffe ich innigst, dass die Spezis von SPD, GRÜNEN und den LINKEN in der Maskenaffäre keinen Dreck am Stecken haben. Dann bleibt die CDU/CSU bei der Bundestagswahl unter der 5-Prozent-Hürde und Annalena wird Bundeskanzlerin. Sage keiner, es gäbe keine Utopien mehr.

Foto: © pixabay

Jetzt ist es amtlich: Der Freiburger Nachtkiosk „Bis Späti“ darf ab 22 Uhr keinen Alkohol mehr verkaufen. Wie in unserer Märzausgabe berichtet, hat das Rathaus auf das Verkaufsverbot gepocht, den Einspruch des Späti-Teams hat das Verwaltungsgericht abgelehnt. „Wir waren mal ein Späti“, schreibt das Team auf Facebook. Dafür gibt’s jetzt eine Bierkasten-Happy-Hour ab 21 Uhr – mit 20 Prozent Rabatt auf den Kasten. Was die grollenden Anwohner·innen wohl dazu sagen? Lange durchhalten müssen sie nicht mehr: Im Juni muss der Nachtkiosk aus den Räumen raus. Ob und wo es weitergeht, ist unklar. tln

MIT HAUT UND HAAREN

Foto: © pt

Allen, die bis jetzt den Hals nicht vollgekriegt haben, eine scharfe Schote rein! Herzlich und voller Abscheu Volkmar Staub

Foto: © privat

Dieses traurige Relikt an der Eschholzstraße zeugt von einer traurigen Statistik: In Freiburg werden jedes Jahr rund 1700 Fahrraddiebstähle angezeigt. Die Dunkelziffer liegt vermutlich weit darüber. Die Aufklärungsquote dagegen ist verschwindend niedrig: 2019 konnten nur etwa sieben Prozent der Fahrraddiebstähle in Freiburg aufgeklärt werden. Neben einem Fahrradpass rät die Polizei daher zu massiven Schlössern. An einem solchen hat es in diesem Fall allerdings nicht gelegen. pt

APRIL/MAI 2021 CHILLI 7




Titel Rotlicht

Sex im Hinterstübchen

Weil Bordelle dicht sind, hat sich die Prostitution ins ­Private und die Illegalität verlagert

S

eit fast einem Jahr sind die Türen von Bordellen geschlossen. „Solo-Selbstständige-Prostitution“ – ohne Zuhälter oder Bordellbetreiber – hingegen bleibt erlaubt. Für viele Sexarbeitende bedeutet das: Arbeiten in der Schutzlosigkeit etwa fremder (Ferien-)Wohnungen, ohne Hygienemaßnahmen oder Kontrolle. „Was willst du, du kleines Stück Sklavendreck?“ – pampt Domina Sofia Müller (Name von der Redaktion geändert) ihren Kunden am Telefon an, als er sie um einen Termin bittet. Seit über 20 Jahren ist Müller in der Branche tätig, „ich mache das aus Leidenschaft, mich macht es an, zu führen, zu quälen und die Sklaven zu formen, wie ich sie haben möchte“. Sie arbeitet – auch vor der Pandemie – im Privaten. Die Domina besucht ihre Kunden zu Hause, hat aber auch ein Zimmer ihrer Wohnung bereitsgestellt, um sie zu empfangen. Die „Sklaven“ werden durch ein Vorgespräch am Telefon selektiert, „ich hatte noch keine schlechten Erfahrungen“. 150 Euro kostet die Stunde mit ihr, Toilettenspiele berechnet sie extra, ihre Leidenschaft gilt dem Sadismus in jeder Form. Grenzen gibt es nahezu keine, außer ein Wunsch würde bleibende Schäden am Körper hinterlassen. Wer die Domina heute besucht, muss aber wissen: Auch bei ihr herrscht Maskenpflicht. Außerdem müssen die Kunden ihre Adressen hinterlegen. Dadurch würden viele abspringen, auch Stammkunden. 10 CHILLI April/Mai 2021

Müller ist angemeldet, wie es das Prostituiertenschutzgesetz von 2017 vorgibt. Dazu muss sie zu einer jährlichen gesundheitlichen Beratung gehen, sich für jeweils zwei Jahre bei der Stadt Freiburg anmelden, erhält einen Ausweis und kann damit legal arbeiten. Als Steuerzahlerin hat sie Anspruch auf Corona-Hilfen der Bundesregierung – die sie auch bezogen hat. „Das war aber Glück bei mir, nur durch eine Bekanntschaft konnte ich alles beantragen“, so die Domina. Und das sei der springende Punkt, warum viele aktuell illegal arbeiten würden, obwohl eine Pandemie herrscht und ihnen theoretisch Hilfe zustünde: Der Antrag wird in der Regel bei einem Steuerberater gestellt, diesen hat aber kaum eine Prostituierte, da der Beruf sonst mit einer Tagespauschale nach dem Düsseldorfer Verfahren besteuert wird. „Dafür ist keine fremde Hilfe nötig. Es lässt sich fast kein Steuerberater finden, der dich jetzt als Kundin nimmt, weil die für die Richtigkeit aller Daten einstehen müssen.“ Wie viele Frauen sich in Freiburg prostituieren, lässt sich schwer ermitteln. „Die Stadt Freiburg hat keine belastbaren Zahlen. Das Anmeldeverfahren bietet dazu keinen Ansatz, denn viele Sexarbeiter·innen geben an, bundesweit tätig zu sein“, so Martina Schickle, Pressesprecherin der Stadt Freiburg. 40.369 angemeldete Prostituierte arbeiteten 2019 in Deutschland (2018 waren es 32.799), 4972 in Baden-Württemberg. Die Anzahl der Angebote auf einschlägigen Portalen schwankt in Freiburg


Titel Rotlicht

zwischen etwa 100 und 150 verschiedenen Frauen. Müller ist keine von ihnen. Eine Annonce zu schalten, ist ihr zu heiß, „die Prostitution ist in Freiburg gerade nur unter vorgehaltener Hand geduldet, man muss sehr vorsichtig sein und alles diskret machen.“ Deshalb treffe sie auch nur ein paar Stammkunden, denen sie wirklich trauen kann. Das melde sie aber weiterhin dem Finanzamt für die Tagessteuer. Den anderen Frauen wünscht sie mehr Mut: „Es gibt keinen Grund, die Arbeit mit der Anmeldung nicht zu legalisieren, es bleibt weiterhin alles diskret und zieht keine Nachteile nach sich. Es erfährt niemand davon, der es nicht wissen soll.“ Erlaubt ist die sogenannte „Solo-Selbstständigen-Prostitution“ bis zu dem Punkt, an dem eine dritte Person ­wirtschaftlich partizipiert, erklärt ­Walter Martin, stellvertretender Leiter des Dezernats für Banden und organisierte Kriminalität im Polizeipräsidium Freiburg. Diese gerade in der heutigen Pandemielage zuzulassen, findet er persönlich falsch. „Die Begründung hierfür, dass ein solcher Eingriff in die Intimsphäre zu weit ginge, eine Intimsphäre, die ab 50 Euro zu kaufen ist, halte ich für real­itätsfremd und vor dem Hintergrund der sonstigen aktuellen Beschränkungen für die Bevölkerung schwer nachvollziehbar.“ Seine Erfahrung sei, dass das Geschäft in Ferienwohnungen und sonstigen Beherbergungsbetrieben floriert. „Man mietet sich unter Vorlage gefälschter Arbeitgeber-/ Dienstleistungsbescheinigungen ein.“ Bis zu 90 Prozent der Prostituierten in Freiburg stammen aus Osteuropa, „sie reisen immer wieder unter dem Radar ein und gehen somit auch nicht in die meist erforderliche Quarantäne“, so Martin. Wöchentlich erreichen Anrufe von erregten Nachbarn die Polizei, doch der sind die Hände gebunden: „In der Regel ist zwar ein Zuhälter involviert, aber der ist oft abwesend, solange der Freier da ist.“ Die Frauen würden auch fast nie aussagen, „weil sie unter quasi Aufsicht der Zuhälter, die oft gleichzeitig ‚Freund‘ oder Ehemann sind, stehen und oftmals ein falsches Bild der hiesigen Polizei aus ihren Erfahrungen aus den Heimatländern

verinnerlicht haben.“ Die oft gegebene Sprachbarriere und damit erschwerte Orientierung in Deutschland sei außerdem ein weiteres Kriterium. Laut Nenad Kekenj-Seke, Betreiber von zwei Freiburger Bordellen sowie einem Escort-Service, sind 80 Prozent der Frauen, die bei ihm arbeiteten, längst zurück in ihre Heimatländer. „Die mussten irgendwie ihr Leben finanzieren, und einen anderen Job auf die Schnelle zu finden, ist schwierig.“ Diejenigen, die weitermachen, arbeiten unter prekären Bedingungen: „Im Privaten gibt es keine Hygienemaßnahmen, keine Rückverfolgung, keine Kontrolle und auch die Polizei kann nichts tun“, so Kekenj-Seke. Das beobachtet auch Edda Grieshaber von der Freiburger Beratungsstelle PINK, die sich an Sexarbeiterinnen in allen Lebenslagen wendet: „Häufig machen die Frauen Hausbesuche, da ist das Risiko enorm. Weil sie aufs Geld angewiesen sind, müssen sie auch die Kunden, die es aktuell gibt, annehmen.“ Immer wieder würden sich die Freier weigern, zu bezahlen oder drohen damit, die Polizei zu rufen. Manchmal kriege sie auch mit, dass es zu Gewalt oder Bedrohungen durch Kunden komme. „Die Frauen wissen häufig nicht, was sie aktuell dürfen und was verboten ist. Viele sind mit der rechtlichen Situation überfordert und versuchen, möglichst unter dem Radar zu arbeiten.“ Wenige dieser Frauen bekommen staatliche Hilfe, einige seien auch gar nicht leistungsberechtigt, so Grieshaber: „Bei den meisten Frauen geht es wirklich um existenzielle Not, sie leiden auch unter der fehlenden Kundschaft.“ Domina Müller ist froh, dass sie sich nicht in solch prekärer Lage befindet: „Corona hat viel zerstört, finanziell sowie psychisch. Die Frauen sind erpressbar, machen Dinge, die sie freiwillig nicht machen würden.“ Bei ihr reiche es gerade für die Absicherung. „Mit dem Prostituiertenschutzgesetz wurde versucht, Sexarbeiterinnen in ihren Rechten zu stärken. Die Pandemie hat das zunichte gemacht. Jetzt rutscht alles wieder in die Illegalität.“ Liliane Herzberg

Keine Gnade: Sofia Müller dominiert ihre „Sklaven“ auch während der Pandemie.

Fotos: © Nenad Kekenj-Seke; pixabay.com/ Espressolia, Gerd Altmann; picture alliance / Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

»Geschäft in Ferienhäusern floriert«

April/Mai 2021 CHILLI 11


SPORT SC FREIBURG

SC SORGENFREI

NACH DER PLEITE AUF DER ALM ZÄHLT NUR NOCH DIE LANDESMEISTERSCHAFT

S

chade, mit dem geplanten chilli-­ Ausflug nach Ostwestfalen ist es nichts geworden, dank Corona. Wir wollten uns doch überzeugen, was an diesen Gerüchten in diesem Internet dran ist, wonach es die Stadt Bielefeld gar nicht gibt. Das musste am vorvergangenen Freitag nun der SC Freiburg um Trainer Christian Streich ohne uns erledigen. Deren Fazit: Es gibt diese Stadt, es wird dort Fußball, wenn auch kein eleganter, gespielt, und man kann sogar verlieren. Mit dem kläglichen 0:1 hat es der SC verpasst, aus einer guten eine sehr gute Saison zu machen. Europa ist nun weit weg, der Rest ist Schaulaufen, es geht nur noch um die goldene Ananas und in der Tabelle um die baden-württembergische Landesmeisterschaft im Duell mit dem VfB Stuttgart – es sei denn, der direkte Vergleich zählt. Und da gibt es bekanntlich überhaupt keine Zweifel. Schade auch, dass die Saison nun so austrudeln wird. Schade für die Fans und für die Mannschaft. Denn sie ist in der Breite besser aufgestellt als in den vergangenen Jahren, es wäre

mehr möglich gewesen. Der Saison­ st­art mit neun Spieltagen ohne Sieg verlief holprig, man musste sich noch finden. Im Anschluss daran gab es gleich fünf Siege in Folge. Das fühlte sich an wie der FC Bayern, bis eben diese Bayern dann Anfang Januar etwas dagegen hatten. Was man dem SC vorwerfen kann, ist die mangelnde Konstanz – auch beim Toreschießen. Manchmal waren Petersen & Co. unheimlich effizient, manchmal waren Höler & Co. unheimlich peinlich in der Chancenverwertung. Im Gegensatz zu anderen guten Spiel­ zeiten droht diesen Sommer kein Ausverkauf von Leistungsträgern: Der finanziell sorgenfreie Club ist nicht darauf angewiesen. Mehr noch, von einigen Spielern wie dem überzeugenden Rekordeinkauf Baptiste Santamaría, dem mitunter zu unruhigen Südkoreaner Wooyeong Jeong, dem agilen Ermedin Demirovic´ oder auch dem talentierten Eigengewächs Yannik Keitel kann in der kommenden Saison ein weiterer Entwicklungsschritt erwartet werden. Diesen hat Roland Sallai in seiner dritten Saison an der Dreisam schon

Artistisch: Roland Sallai ist im dritten Jahr beim SC zum Leistungsträger gereift.

12 CHILLI APRIL/MAI 2021

Foto: © Achim Keller

gemacht: Der Ungar hat seine anfängliche Eigensinnigkeit und Vogelwildheit überwunden und ist zum Leistungsträger gereift, er schießt Tore (sieben bereits), und er legt vor (bereits vier Mal). So ist der Vertrag des Nationalspielers vor wenigen Wochen verlängert worden. Die Kaderplanung für die Saison 2021/22 wird diesmal also nicht zur Großbaustelle. Allenfalls muss der SC nachlegen auf der Position des Zehners oder halben Neuners. Denn eines war augenfällig in der bisherigen Saison: die Probleme mit eigenem Ballbesitz bei Spielen gegen vermeintlich spielerisch schwächere Gegner wie etwa Mainz oder Bremen. Hier fehlt einer, der Eins-zu-eins-Situationen entscheiden kann, einer, der so trickreich wie Vincenzo Grifo und noch dazu so schnell ist wie der Kapitän Christian Günter. Und da ist dann noch die Freiburger K-Frage, die nach dem Keeper. Mark Flekken verletzte sich zum Saisonauftakt, der aus Karlsruhe gekommene Benjamin Uphoff bekam zwar die Nummer Eins auf dem Trikot, nicht aber das entsprechende Vertrauen. So wurde Florian Müller aus Mainz geliehen. Und der entwickelte sich von einem soliden zu einem sehr guten, wenn auch manchmal unorthodoxen Torhüter. Müller möchte auch nach dem Sommer bleiben. Was der SC möchte, wird man sehen. Apropos sehen. Ein Gutes kann die SC-Pleite in Ostwestfalen doch gehabt haben. Der Klassenerhalt der Arminia ist möglicher, ein Wiedersehen in der kommenden Saison und ein chilli-Check vor Ort dadurch auch. Frei nach Udo Lindenberg, der in einem weniger bekannten Song aus den 1970ern trällerte: „Und sehen wir uns nicht in dieser Welt, dann sehen wir uns in Bielefeld.“ Dominik Bloedner


SPORT KOLUMNE

VON SCHREIHÄLSEN UND SCHMÄHGESÄNGEN WIE SICH EIN JAHR OHNE NORDTRIBÜNE FÜR EINEN SC-FAN SO ANFÜHLT

D

er Schreihals aus der Ortenau, seit vielen Jahren eine Stufe über uns, ist verstummt. Das letzte Mal war er aktiv an jenem 7. März 2020. Man erinnert sich dunkel: Sallai, Günter, Koch, dreimal macht es bumm, dreimal gibt es eine Bierdusche von hinten, drei Punkte holt der Sportclub gegen Union Berlin. Zufrieden war er, unser Stadionnachbar, euphorisch fast schon. Diesmal kein Grund zum Schimpfen über die eigene Mannschaft („Die schaffet nix“, „Höler raus“), über den eigenen Übungsleiter („Trainer raus“) oder den Unparteiischen („Schiri raus“, „Du Blinder“, „Schiedsrichter, Telefon“). Und auch kein Grund, angetrunken nicht ausgetrunkene Bierbecher aus der letzten Reihe der Nordtribüne Richtung Spielfeld zu werfen, wenn es mal nicht so läuft, wie es doch eigentlich müsste. Wir vermissen ihn sehr, diesen mitunter recht emotionalen Mittfünfziger, der, wie er sagt, schon Ende der Achtziger mit dem Mofa zu SC-Spielen angetuckert kam. Seit mehr als einem Jahr herrscht nun diese neue Normalität auch im und ums Schwarzwaldstadion im Freiburger Osten. Da leuchten an Spieltagen abends die Flutlichtmasten, da sorgen neongelb gewandete Ordner für Ordnung, und bis auf zwei Ausnahmen hat der Rasensport ohne Zuschauer stattgefunden: FC Corona eins, SC Freiburg nuuuuull. Sicher, ab und an sieht man sie, die Familienväter mit Kinderwagen und die Hundebesitzer, die während eines Heimspiels – natürlich rein zufällig – an der Dreisam entlangspazieren und – natürlich rein zufällig – einen rotschwarzen

Foto: © Neithard Schleier

Schal dabei tragen. Unser Schreihals ist derweil zu Hause in seiner Sportlerklause oder im eigenen Wohnzimmer, ob er dabei mit Bier um sich wirft, wissen wir leider nicht. Den Titel SC-Schreihals der Saison 2020/21 hat sich inzwischen Christian Streich gesichert. In einem Fußballstadion ohne Fans hört man den Trainer bis nach St. Ottilien. Dort und anderswo im Schwarzwald ver­bringen wir seit jenem 3:1 so viele Heimspielsamstage. Spazierengehen ist das, was geht in diesen Zeiten. Und eine Live-Übertragung bei den Dampfplauderern von Sky oder DAZN ist ein eher überschaubares Vergnügen, eher eine Erinnerung an die derzeitige Trostlosigkeit und alles andere als großes Gefühlskino. Was also bleibt, ist der Schlacht- und Schmähgesang an der frischen Luft. „Tief im Süden, isch unser Platz“, wird da im dunklen Tann leise gegrölt, die Freundin mit ihrer glockenklaren Stimme kommt mit einem „Scheiße, scheiße, VfB“ daher, und gemeinsam heißt es munter auf der Wiese „Immer wieder vor“ oder „Wer nicht hüpft, der ist ein Schwabe, hey, hey.“ Ebenfalls wandernde Schwaben müssen das aushalten, es sind besondere Zeiten, wir bitten um Nachsicht.

Derweil ist im Freiburger Westen ein neues Stadion entstanden. Irgendwann sollen wir hier also stehen, im Block F auf der Südtribüne, unseren Spaß haben, feiern, trauern und uns mit Bierbechern bewerfen lassen. Kaum vorstellbar. Zumal der Neubau – der, verglichen mit anderen neuen Stadien, zugegebenermaßen recht filigran und hübsch ist und wohl über funktionierende Toiletten verfügen wird – es schwer haben dürfte, die Herzen von Fußballromantikern im Sturm zu erobern. Möbelhäuser und endlose Parkplatzflächen in der Nachbarschaft sind so wenig charmant wie etwa die Innenstadt von Wolfsburg. Doch diesen Fans kann geholfen werden: Falls die zweite Mannschaft in die dritte Liga aufsteigen sollte (die Lizenzierung ist beantragt, sportlich läuft es blendend), dann könnte das Schwarzwaldstadion die neue Heimstätte werden. 1860 München oder MSV Duisburg, das klingt nach großer Fußballwelt. Wir werden dabei sein, auf gewohnter Stufe auf Nord. Und wir zählen auf den Herren aus der Ortenau, eine ­Stufe über uns. Dominik Bloedner APRIL/MAI 2021 CHILLI 13


POLITIK INTERVIEW

»WIR MÜSSEN DAS RUDER RUMREISSEN«

FREIBURGS SCHEIDENDE UMWELT- UND BILDUNGSBÜRGERMEISTERIN GERDA STUCHLIK IM INTERVIEW


POLITIK INTERVIEW

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tolze 24 Jahre lang war Gerda Stuchlik in Freiburg für Umwelt, Jugend, Schule und Bildung verantwortlich. Nach knapp 500 Gemeinderatssitzungen ist die Bürgermeisterin nun im Ruhestand. Im Interview mit chilli-Redakteur Philip Thomas berichtet die 62-Jährige, wie sich die Stadt in drei Amtszeiten verändert hat, von Schulen in schlechtem Zustand und Fundstücken aus ihrem Büro. chilli: Frau Stuchlik, was hat Sie vor 24 Jahren dazu bewogen, in Freiburg Politik zu machen? Stuchlik: Ich war zuvor schon einige Jahre politisch aktiv. Vier Jahre lang baute ich als Geschäftsführerin das „Klima-Bündnis der Europäischen Städte mit den Indigenen Völkern Amazoniens“ auf, mit dem Schwerpunkt auf Klimaschutz und Erhalt der Regenwälder. Danach bin ich in die Kommunalpolitik und -verwaltung gegangen und war als persönliche Referentin von Tom Koenigs tätig, dem damaligen Frankfurter Umweltdezernenten. Die Bürgermeisterstelle für Umwelt und Bildung in Freiburg umfasste die Handlungsfelder, die ich gerne ausgestalten wollte – Klimaschutz realisieren und Bildungsteilhabe ermöglichen, und so kam ich nach Freiburg.

Foto: © Stadt Freiburg, Patrick Seeger

chilli: Sie sind die erste Bürgermeisterin in der 901-jährigen Stadtgeschichte. Hat das für Sie eine Rolle gespielt? Stuchlik: In den ersten acht Jahren musste ich mich intensiver vorbereiten und umfangreicher argumentieren als meine Kollegen. Und einige Bürger und Bürgerinnen waren viel mehr daran interessiert, was ich anhatte, wie ich frisiert war und ob ich geschminkt bin. Das ist heute kein Thema mehr. Nach dieser Anfangsphase hatte ich mein Feld bestellt und Akzeptanz gefunden. chilli: Wie hat sich Freiburg in Ihren drei Amtszeiten verändert? Stuchlik: Im Klimaschutz zum Beispiel konnten wir die CO2-Emissionen um rund 38 Prozent pro Bürger und Bürgerin reduzieren. Während es in meiner ersten Amtszeit um die Nutzung der Solarenergie im Rahmen der Solar Region Freiburg und den Bau erster Windräder ging, so stehen in den letzten Jahren das um-

fangreiche Klimaschutzmaßnahmenpaket mit über 160 Einzelmaßnahmen in sechs Handlungsfeldern im Mittelpunkt. Und auch finanziell haben wir mit über sechs Millionen Euro einen viel größeren finanziellen Rahmen für Klimaschutzaktivitäten zur Verfügung. Und der Höhepunkt war unstrittig die Verabschiedung des Klima- und Artenschutzmanifests sowie die Einführung von Prüfkriterien für den Klima- und Artenschutz bei gemeinderätlichen Beschlussvorlagen. Der Gemeinderat wird in Zukunft all seine Entscheidungen vor dem Hintergrund der Auswirkungen auf Klima- und Artenvielfalt treffen müssen.

»Brauchen höhere Schlagkraft« chilli: Welche Projekte fallen Ihnen noch ein? Stuchlik: Auch in der Abfallentsorgung hat sich in 24 Jahren viel verändert. Der kleine 35-Liter-Behälter wurde durch rollbare Restmülltonnen ersetzt, die Biotonne eingeführt, die Recyclingquote von 20 Prozent auf 70 Prozent erhöht, die Mülldeponie Eichelbuck rekultiviert und zum Energieberg weiterentwickelt. Hinzu kommt der massive Ausbau von Betreuungsplätzen in Krippen, Kitas und Schulkindbetreuung, die Schulsanierung und die Stärkung der Umweltbildung durch den Bau des WaldHauses Freiburg, die Förderung der Ökostation, den Abenteuerspielplatz oder den Kinderabenteuerhof. chilli: Wie würden Sie Ihren Politik-Stil beschreiben? Stuchlik: Das Besondere an unserer Arbeit ist, dass wir nicht kurzatmig, projektbezogen arbeiteten. Wir haben selten Projekte angestoßen, die nur drei Jahre gingen und dann wieder eingestellt wurden. So ist es uns beispielsweise vor 15 Jahren gelungen, ein Förderprogramm für energetische Sanierung aufzulegen, mit dem wir Hausbesitzer durch Zuschüsse zur energetischen Sanierung motivieren und unterstützen. Durch diese kontinuierliche Arbeit erreichen wir in Freiburg mit 1,6 Prozent eine viel höhere

Sanierungsrate als auf Bundesebene mit 1,2 Prozent. chilli: Dennoch steht der Klimaschutz in Freiburg nicht immer an erster Stelle. Stichwort Dietenbach. Stuchlik: Ganz im Gegenteil, Dietenbach wird ein klimaneutraler Stadtteil werden. Was Sie meinen, ist die damit einhergehende Flächenversiegelung, die kritisch diskutiert wird. Aber wir haben nun einmal einen hohen Bedarf an preiswertem Wohnraum in Freiburg. chilli: Beim Umweltschutz kommt auf ihre Nachfolgerin Christine Buchheit viel Arbeit zu. Zahlreiche junge Menschen fordern Freiburger Klimaneutralität bis 2035. Stuchlik: Freiburg wird klimaneutral, das Ziel ist derzeit 2050. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen auf EU- und Bundesebene werden wir den Forderungen von Fridays For Future, Klimaneutralität schon 2035 zu erreichen, nicht nachkommen können. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass sich die Bedingungen ändern, die Diskussion ist mittlerweile eineinhalb Jahre her. chilli: Inwiefern? Stuchlik: Durch den Green Deal auf europäischer Ebene. Auch die neue Landes- und Bundesregierung werden Klimaschutz an erste Stelle stellen. Vor diesem Hintergrund werden wir auch auf kommunaler Ebene eine neue Geschwindigkeit bekommen. chilli: Reicht diese Geschwindigkeit aus? Stuchlik: Das muss sie, denn wir brauchen auf jeden Fall eine höhere Schlagkraft, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Wenn wir es nicht schaffen, das Ruder rumzureißen, haben wir in den 40er-Jahren richtig große Probleme. Deshalb müssen jetzt Regelungen auf Bundesund auf Landesebene getroffen werden, dann können wir die Klimaneutralität auch in Freiburg früher erreichen. chilli: Welche Voraussetzungen haben Sie im Freiburger Bildungsbereich vorgefunden? Stuchlik: Als ich nach Freiburg kam, waren die Schulen in einem sehr schlechten baulichen Zustand. Wir hatten wirklich viele Probleme. In den vergangenen APRIL/MAI 2021 CHILLI 15


POLITIK INTERVIEW

24 Jahren konnten wir immerhin mehr als die Hälfte der 70 Schulgebäude sanieren, erweitern oder neu bauen, Ganztagesschulen einrichten und mit der Digitalisierung beginnen. Insgesamt haben wir dafür 500 Millionen Euro investiert. chilli: Gegenüber den Investitionen in Höhe von 500 Millionen Euro in Freiburgs Schulen steht ein Sanierungsstau von rund 1,4 Milliarden Euro. Können Sie damit wirklich zufrieden sein? Stuchlik: Ja, denn würde man die verausgabten 500 Millionen Euro auf heute projizieren, Preissteigerungen und höhere Kosten insgesamt einkalkulieren, würden wir von rund einer Milliarde Euro sprechen, die wir investiert haben. Wir bauten im Durchschnitt mit 2000 Euro pro Quadratmeter, heute müssen wir das Doppelte zugrunde legen, und somit kommt die aktuell erhöhte Summe von 1,4 Milliarden Euro zustande. Aber Sie haben natürlich recht: Wir können uns nicht ausruhen. chilli: Welche Projekte in den Schulen haben Sie umgesetzt? Stuchlik: Ein Schwerpunkt waren die massiven Investitionen in die Betreuung. In den letzten zehn Jahren haben wir die Anzahl der Krippen-Betreuungsplätze verdoppelt und bei den Drei- bis Sechsjährigen um 50 Prozent erhöht, insgesamt über 11.000 Plätze geschaffen. Und in der Schulkindbetreuung gibt es ein hochwertiges pädagogisches

Nachmittagsangebot, und die Betreuungsquote ist von 25 Prozent auf 75 Prozent gewachsen. Die Stadt investiert allein für die Schulkindbetreuung jedes Jahr rund 14 Millionen Euro. Das ist ein klares Statement für die Kinder und Familien unserer Stadt. Ein weiterer Schwerpunkt ist der Ausbau der Durchgängigen Sprachbildung von der Krippe bis zur Grundschule im Quartier.

»WIR KÖNNEN UNS NICHT AUSRUHEN« chilli: Am 25-jährigen Dienstjubiläum sind sie knapp vorbeigeschrammt. Was würde über Ihrer Festschrift stehen? Stuchlik: Die wird es nicht geben. Gäbe es sie, wäre der Titel: „Empathie für unsere Umwelt durch Bildung.“ chilli: OB Martin Horn sagte bei Ihrer letzten Gemeinderatsitzung, Sie hätten um Dinge regelrecht gekämpft. Welche Debatte ist Ihnen besonders im Kopf geblieben? Stuchlik: Da fallen mir ganz viele ein: Klimaschutz, immer noch eine rein freiwillige kommunale Aufgabe, mit ausreichend Personal und Finanzen zu hinterlegen. Oder die Neudefinition von Schulträgerschaft, sodass die Kommune auch mit eigenem Personal wie Schulsozialarbeitern und Schulsozialarbeiterinnen und Sprachförderkräften

Verlässt nach 24 Jahren das Freiburger Rathaus: Gerda Stuchlik zieht es im Ruhestand auf „ihre“ Ruhebank im Wald.

die Schulgemeinschaft unterstützt und bessere Bildungsteilhabe ermöglicht. Hierzu gab es zahlreiche Gespräche verwaltungsintern und mit all unseren Partnern, den Freien Trägern, der Kultusverwaltung und mit den Gemeinderäten und Gemeinderätinnen. Bis ich alle überzeugt hatte, konnte gut ein Jahr ins Land gehen. Immer ging es aber letztlich darum, mit kreativen Lösungen und guten Argumenten zu überzeugen. chilli: Werden Sie das alles vermissen? Stuchlik: Die oftmals langatmigen Debatten und Bedenkenträger werde ich nicht vermissen, die konzeptionellen Gespräche und engagierten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hingegen werden mir sehr fehlen. chilli: Sie räumen gerade Ihr Büro aus. Sind Sie dabei auf Fundstücke gestoßen? Stuchlik: Ich habe einen vergoldeten Besen in der Ecke gefunden. Den hat mir die Freiburger CDU-Fraktion vor fünfzehn Jahren mit dem Hinweis überreicht, Freiburg sollte sauberer werden. Auch das hat sich gewandelt: Seit vergangener Woche ist die Stadtreinigung mit dem „Gässleflitzer“ unterwegs, mit Ökostrom betriebene Lastenräder. chilli: Was haben Sie sich für den Ruhestand vorgenommen? Stuchlik: Vor Jahren habe ich ein kleines Heft angelegt. Darin stehen all die Dinge, die mich bewegen, interessieren und die ich jetzt entdecken möchte. Dazu zählen Wanderungen und Radtouren durch die Region und Deutschland, mit Interrail Europa entdecken, in Mailand in die Oper gehen oder in Neuchâtel das Centre Dürrenmatt besuchen. chilli: Zahlreiche Politiker sind auf ­Social Media unterwegs. Wäre das etwas für Sie? Stuchlik: Nein. Ich werde nichts posten oder kommentieren. Ich werde mit einem guten Buch unterwegs sein und auf „meiner“ Ruhebank im Wald dem Gesang der Vögel lauschen und die Seele baumeln lassen. chilli: Frau Stuchlik, vielen Dank für das Gespräch.

16 CHILLI APRIL/MAI 2021



KONTOVERS ANWOHNERPARKEN

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KONTROVERS

islang kostet ein Anwohnerparkausweis in Freiburg 30 Euro im Jahr. Doch bald sollen die Gebühren um das Zwölffache steigen, auf etwa 30 Euro pro Monat. Am 27. April entscheidet darüber der Gemeinderat. Schon vorab gibt es heftige Diskussionen über Sinn und Zweck der drastischen Erhöhung. In der neuen chilli-Rubrik KONTROvers argumentieren jeweils Protagonisten für und wider.

»PARKEN WAR KOSTENLOS«

WARUM INGRID MARIENTHAL VOM FUSS- UND RADENTSCHEID FÜR EINE DRASTISCHE ERHÖHUNG DER ANWOHNERPARKGEBÜHREN IST

Foto: © Fuß-und Radentscheid

Wir brauchen die Verkehrswende, um unsere Stadt sicher und attraktiv für alle Menschen zu machen und um die Klimaziele zu erreichen. Platz- und emmissionssparende Fortbewegungsarten müssen ausgebaut werden. Dafür müssen die öffentlichen Verkehrsflächen umverteilt werden, denn in vielen Straßen Freiburgs ist nicht genügend Platz für sicheren und komfortablen Fuß- und Radverkehr, vor allem wegen der zahlreichen geparkten Autos. In diesem Jahr schafft der Gesetzgeber die Möglichkeit, dass endlich das An-

Ingrid Marienthal: Die Grundschullehrerin engagiert sich bei der Initiative Fuß- und Radentscheid Freiburg.

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wohnerparken bepreist wird. Die bisher jährlich fälligen 30 Euro waren nur eine Verwaltungsgebühr für das Ausstellen des Parkausweises, das Parken an sich war bisher kostenlos! Viele Gehwege in der Stadt sind ursprünglich mit ausreichender Breite angelegt worden. Allerdings hat es sich eingebürgert, dass diese von stehenden Kfz als Abstellfläche missbraucht werden. Teilweise findet diese Zweckentfremdung illegal statt und teilweise wurden auf den Gehwegen Parkplätze markiert. Grund für diese Umverteilung des öffentlichen Raums auf Kosten des Fußverkehrs: „Parkdruck“. Dieser „Parkdruck“ ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis einer autozentrierten (Verkehrs-)Politik. Vor 30 Jahren gab es in Freiburg zirka 80.000 Autos. Seitdem sind in der Stadt und den Umlandgemeinden noch einmal mehr als 80.000 hinzugekommen. Der öffentliche Straßenraum ist aber, zumindest in der Kernstadt, nicht weiter gewachsen und wird auch nicht wachsen können. Die allermeisten Wohnungen in Freiburg haben aufgrund der bereits 1939

erlassenen Reichsgaragenordnung eigentlich einen privaten Stellplatz zur Verfügung. Allerdings werden diese Stellplätze oftmals zweckentfremdet und das eigene Auto wird auf der Straße abgestellt. Gleichzeitig müssen viele Freiburger·innen ohne eigenes Auto einen Stellplatz bezahlen, obwohl sie kein Auto besitzen und ihre täglichen Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf voll geparkten Gehwegen oder zu schmalen Radstreifen zurücklegen. Untervermieten können sie ihren teuren Stellplatz häufig leider auch nicht, weil viele ihren Pkw lieber gratis auf die Straße stellen. Überall in der Stadt stehen Parkplätze dem Ausbau sicherer Fuß- und Radverkehrsinfrastruktur im Wege. Kreuz und quer parkende Pkw blockieren die Rettungswege und verhindern eine Sichtbeziehung zwischen den Verkehrteilnehmer·innen. Die Carsharing-Anbieter zahlen in Freiburg abhängig vom Stadtgebiet 30 bis 35 Euro pro Monat. Der private Stellplatz darf nicht weniger kosten als das ökologisch sinnvollere Carsharing! Ingrid Marienthal


KONTOVERS ANWOHNERPARKEN

Fotos: © iStock.com/ JaruekChairak, Detailfoto

»SELTEN SO VIELE ANRUFE«

WARUM HANS LEHMANN VOM BÜRGERVEREIN OBERWIEHRE-WALDSEE GEGEN EINE DRASTISCHE ERHÖHUNG DER PARKGEBÜHREN IST sich jedoch bei genauer Betrachtung ins Gegenteil verkehrt. Für eine „gerechte“ Erhöhung müssten erst die „richtigen“ Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Gerechtigkeit zuließen. Davon war jedoch bisher wenig zu hören und zu lesen. Bleibt es bei den bestehenden Rahmenbedingungen, kann sogar von einem Schildbürgerstreich gesprochen werden, denn ausgenommen der wenigen ausgewiesenen Parkzonen 1 sind Parkgebühren in den Zonen 2 und 3 von 9 bis 19 Uhr zu entrichten. Das bedeutet, in diesen Zonen ist ab 19 Uhr und am Wochenende kostenloses Parken für alle angesagt. Anwohner, die tagsüber zur Arbeit fahren (müssen), räumen ihren Parkplatz und benötigen ihn abends wieder. Dann sind jedoch die Parkplätze in den dicht besiedelten Wohngebieten von Ortsfremden belegt und es gibt keinen Parkplatz mehr für die echten Anwohner. Das bedeutet, wenn schon eine Gebühr – gleich welcher Höhe –, dann rund um die Uhr! Neben persönlichen Komponenten – wer zum Beispiel mehr Parkplatz ver-

braucht als ein Standard-Pkw, sollte auch mehr bezahlen –, sollte auch an eine Ausweitung der zu bezahlenden Parkflächen in andere städtische Gebiete gedacht werden. Denn „Gebührengerechtigkeit“ beschränkt sich nicht auf einige wenige Stadtteile. Die Forderung, die Anwohnerparkgebühren nicht zum Ausgleich der desolaten Haushaltslage zu verwenden, sondern diese gezielt für klimaschützende Maßnahmen einzusetzen, hat der Bürgerverein Oberwiehre-Waldsee schon des Öfteren erhoben! Hans Lehmann

Foto: © privat

Selten haben wir vom Bürgerverein Oberwiehre-Waldsee, in diesem Falle ich als Vorsitzender persönlich, so viele Anrufe erhalten, wie nach dem Erscheinen der BZ-Meldung über die geplante Kostenerhöhung für das Anwohner·innenparken in Freiburg. Die Mehrzahl der Anrufenden waren alleinerziehende Frauen, die durchweg eine soziale Ungerechtigkeit anklagten. Einheitlicher Tenor: „Wir benötigen unser Fahrzeug zur Versorgung unserer Kinder und nicht, um mit unseren übergroßen SUV die Straßen zuzustellen.“ Grundsätzlich gibt es in der Vorstandschaft des Bürgervereins keine einheitliche Meinung zu den geplanten Gebührenerhöhungen, denn auch in unserem Vorstand spiegelt sich das Meinungsbild des Bevölkerungsquerschnitts wider. Einig wurden wir uns in Vorgesprächen darüber, dass gegen eine Erhöhung der derzeitigen Gebühren von 30 Euro im Jahr keine Einwände bestehen. Wir sind jedoch allergisch gegen die allgemein einziehende Gleichmacherei, deren Begründung oft die Gerechtigkeit gegenüber allen ist, die

Hans Lehmann: Seit dem 10. März 2015 Vorsitzender des Bürgervereins OberwiehreWaldsee.

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Hochschule corona

„Irgendwie alles Mist“ K

aum eine Gruppe stresst der Lockdown so sehr wie Studierende. Nur Erwerbslose trifft es schlimmer. Das zeigt eine repräsentative Umfrage der AOK Baden-Württemberg. Der Fall eines Freiburger Studierenden unterstreicht das. Er sagt: 99 Prozent meiner Kommiliton·innen habe ich nicht einmal gesehen. Jonas Müller (Name geändert) kennt das Präsenzstudium: Wenigstens ein Semester konnte der 30-Jährige 2019 noch regulär in Freiburg Bildungswissenschaften studieren. Heute ist er im vierten Semester an der Uni Freiburg und hat genauso gute Noten wie früher, aber psychisch zu kämpfen: „Am meisten fehlt mir der Austausch mit den Kommilitonen“, sagt Müller. In Lerngruppen zusammensitzen, sich spontan in der UB verabreden, gemeinsam produktiv sein? Fehlanzeige. Schmerzlich vermisst er auch etwas ganz Banales, „die Präsenzmöglichkeit, irgendwie mit Menschen zu sprechen“. Vor allem Kleinigkeiten gingen im Distanzstudium verloren. JemanAnzeige

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dem schnell was auf einem Arbeitsblatt zu zeigen, „das ist halt alles mit einer empfundenen Hürde verbunden“. 99 Prozent seiner Kommiliton·innen habe er nicht einmal gesehen. Seine Bilanz nach einem Jahr Lockdown: „Irgendwie ist alles Mist.“ Wie Jonas Müller leiden viele Studierende: Laut einer AOK-Umfrage fühlen sich rund 56 Prozent der Befragten stark belastet. Sie klagen über Antriebslosigkeit, Einsamkeit und Müdigkeit. Auch die fehlenden Reisemöglichkeiten schlagen ihnen überdurchschnittlich aufs Gemüt. Laut der Studie leiden nur Erwerbslose noch stärker unter dem Lockdown (73 Prozent). Auch eine Befragung der Uni Freiburg im Sommer 2020 unterstreicht das: Von rund 8500 Studierenden „gaben viele an, dass sie diese Zeit als belastend empfinden“, informiert Rimma Gerenstein von der Uni-Pressestelle. 52 Prozent klagten über fehlende soziale Kontakte, 36 Prozent über mangelnde Selbststrukturierung, 30 Prozent über Stress. Dennoch kam auch positives Feedback: „Die Studierenden zeigten sich zufrieden mit dem digitalen Semester“, so Gerenstein. Auch Jonas Müller lobt die Albert-Ludwigs-Universität: „Ich war erstaunt, wie schnell die Sachen liefen.“ Obwohl alle am „schwimmen seien“, hätten sich viele bemüht, den Studierenden das Leben leichter zu machen. Die Prüfungskommission habe ihnen sogar einen Freiversuch eingeräumt. Trotzdem sagt Müller: „Den ganzen Tag vor dem Rechner sitzen ist einfach gar nichts für mich.“ Regelmäßig falle er in tiefe Löcher. Auch eine Therapie, die er vor dem Lockdown angefangen habe, könne das nicht ändern. „Ich brauche viel sozialen Austausch.“ Ein Studium lebe davon, die Fähigkeit zu entwickeln, Hilfe zu suchen und gemeinsam Probleme zu lösen. Genau das scheinen Studierende derzeit aber nicht zu tun. Die AOK-Umfrage zeigt, dass keine Gruppe so wenig professionelle psychologische Hilfe sucht wie sie. Für die gesamte Bevölkerung sind es 7,5 Prozent, bei den Studierenden nur 1,2 Prozent. Das merkt auch Matic Rozman von der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Studierendenwerks Freiburg. Statistisch gesehen hätten sich 2020 so viele gemeldet wie im Vorjahr. Doch die Pandemie ist spürbar: „Unser Gesamteindruck

Foto: © iStock.com/fizkes

Wie ein Studierender im Lockdown verzweifelt


Hochschule corona

ist, dass das Studium unter Corona-Bedingungen bei den überwiegenden Fällen eine enorme Belastungssituation darstellt“, sagt Rozman. Nach mehr als einem Jahr Distanzlehre ginge vielen Studierenden „die Puste aus“. Er berichtet von Überforderungsgefühlen, Einsamkeit und Zukunfts­ ängsten. Bei den Beratungsgesprächen gibt er Betroffenen auch eine Liste an die Hand mit „zehn Tipps, um alleine zurechtzukommen“. Zum Beispiel: Halte eine Tagesstruktur ein, bewege dich, suche dir Hilfe. Wie Distanzlehre gelingen soll, fragt sich auch der Freiburger Uni-Dozent Christian Haber: „Den Studierenden geht es nicht gut.“ Viele seien müde und motivationslos. Digitale Angebote seien gute Hilfsmittel, aber keine Hauptwerkzeuge. Ein Studium nur zu Hause vor dem Bildschirm sieht er kritisch. Auch soziales Miteinander müsse gelernt werden. Der 34-Jährige sieht durchaus Möglichkeiten für ein Präsenzstudium. Dafür aber müsse die Regierung die „unverhältnismäßige Vorsicht“ an den Unis

rückgang weniger Austausch

Foto: © Christoph Eberle

Berät Betroffene: Matic Rozman

zumindest überdenken. Kleine Gruppen im großen Hörsaal seien im Zweifelsfall auf lange Sicht besser als „weiter darauf zu hoffen, dass irgendwann hundertprozentige Sicherheit entstehen wird“. Doch die Devise für Jonas Müller und viele andere Betroffene lautet: durchhalten. Gerade erst hat Uni-Rektorin Kerstin Krieglstein verkündet: Auch im Sommersemester 2021 bleibt die Lehre an der Uni Freiburg digital. Präsenzveranstaltungen seien erst ab einer Inzidenz von unter 50 denkbar. Till Neumann & Johanna Reich

Die Uni Freiburg verzeichnet in Corona-Zeiten einen signifikanten Rückgang bei internationalen Studierenden: Deren Zahl sank im Wintersemester 20/21 im Vergleich zum Vorjahr um rund acht Prozent von 4385 auf 4056. „Das ist zum großen Teil mit dem Rückgang der Immatrikulationen bei Austauschstudierenden zu erklären“, meldet die Uni-Pressestelle. Größte Hürden für internationale Studierende seien Einreiseeinschränkungen, geschlossene Botschaften und Visa-Abteilungen sowie finanzielle Instabilität während der Pandemie. Studierende aus Nicht-EU-Ländern zahlen Studiengebühren von 1500 Euro pro Semester. Das Statistische Bundesamt hat bundesweit für den Zeitraum 2020 auf 2021 sogar einen Rückgang von 21 Prozent berechnet.

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April/Mai 2021 CHILLI 21


HOCHSCHULE INTERVIEW

»DER PERFEKTE ZEITPUNKT« FREIBURGER STUDENTIN MACHT WÄHREND DER PANDEMIE ERASMUS IN ROM

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ie 22-jährige Luxemburgerin Jil Hamm hat von September bis Februar ein Auslandssemester an der Universität La Sapienza in Rom gemacht. Trotz Corona. Ihr 5. Semester an der Uni Freiburg wollte sie nutzen, um mal etwas anderes als Falafel und Bächle zu sehen. Im Interview mit chilli-­ Autorin Maja Bruder erzählt sie von Hürden und Höhepunkten. chilli: Frau Hamm, warum haben Sie sich trotz Pandemie für einen Erasmus-Aufenthalt entschieden? Hamm: Das Ganze war mit vielen Ups and Downs verbunden. Man musste im Februar alles einreichen, Corona war zu dem Zeitpunkt noch kein Thema. Dann kam die große Infektionswelle, es wurde von Monat zu Monat schlimmer, und ich überlegte, es zu lassen. Aber mein Gefühl sagte „ja“ und die Mitarbeiter von Erasmus haben einem viel Sicherheit gegeben. In Freiburg hatte ich wenig Kontakte, also warum nicht das Plus nutzen, währenddessen in Rom zu sein? chilli: Was war in Rom nicht möglich? Hamm: Es durften natürlich keine großen Partys stattfinden. Teilweise hatten Restaurants und Bars geschlossen und es gab Ausgangssperren. Das typische studentische Feierngehen fiel dadurch ziemlich weg und viele Eras-

Studierte in Rom: Jil Hamm

mus-Events leider auch. Das Reisen in andere Teile Italiens war auch sehr schwierig, das fand ich super schade. chilli: Haben Sie trotzdem neue Leute kennengelernt? Hamm: Im September und Oktober war es lockerer als in Deutschland. Es gab Tandem- und Cocktailnights, um andere Studenten kennenzulernen. Bars und Restaurants hatten offen, man konnte an den Strand. Ende November und im Dezember war es ruhiger, aber es hatte sich schon ein fester Freundeskreis gebildet, deshalb war es einfacher. Im Januar war dann sowieso Klausurenphase und vieles geschlossen. Als großen Vorteil empfand ich, dass man zwar bestimmt weniger Leute kennengelernt hat, sich dafür jedoch viel tiefere Freundschaften und Bindungen entwickelten. chilli: Freiburg oder Rom, was finden Sie besser? Hamm: Der größte Vorteil Roms ist definitiv das Wetter. Mental hat mich das sehr aufgefangen, weil es so warm und sonnig war. Dadurch ändert sich die Stimmung total. Für mich war es im Nachhinein der perfekte Zeitpunkt, gerade jetzt im Erasmus-Semester zu sein. Wir konnten in Rom viele Museen besuchen, Picknicke machen und selbst die Stadt erkunden. Abwechselnd gab es alle zwei Wochen Präsenz- oder Onlinelehre, das hat mich super positiv überrascht. So konnte man die Uni auch mal von innen sehen und die Professoren live.

Foto: © privat

chilli: Das schönste und schlechteste Erlebnis? Hamm: Ich war kurze Zeit hier, dann hatte ich direkt Geburtstag. Ich kannte die Leute, die ich zum Pizzaessen eingeladen habe, erst seit zwei Wochen. Wir waren zu sechzehnt im Restaurant, wollten danach zu einer Cocktailnight, und meine Mitbewohnerin meinte, sie muss noch etwas aus der Wohnung holen. Auf ein22 CHILLI APRIL/MAI 2021

mal sind alle hochgegangen und standen auf dem Balkon mit einem Kuchen und haben Happy Birthday gesungen. Das war ein absolutes Highlight! Außerdem natürlich das Essen! Das wird eine miese Umstellung wieder in Deutschland. Was gestört hat, war die Organisation an der Sapienza. Man muss aber an einer Uni im Süden irgendwie damit rechnen, dass alles etwas chaotisch und ungeplant ist. Da wird viel verschoben und man weiß nie sicher, was kommt.

INFO Erasmus in Corona-Zeiten Im Frühjahr 2020 waren 30.500 deutsche Studierende mit Erasmus+ im Ausland. Drei Viertel studierten überwiegend digital, als der deutsche Lock­down kam, informiert der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD). Seit dem Wintersemester 2020 ist ein digitales Erasmus von zu Hause aus möglich. Dennoch waren bis Dezember 12.500 Studierende und Praktikant·innen ausgereist. Von der Uni Freiburg waren 550 Studierende im Ausland, 260 weitere haben ihren Erasmusaufenthalt abgesagt, informiert die Pressestelle der Universität. Auslandssemester seien auch während der Pandemie beliebt, das Top-Ziel sei Frankreich. Das Interesse an Spanien und Italien habe infolge der Pandemie nachgelassen, Norwegen und Schweden würden dafür beliebter. Wer sich in Freiburg für ein Erasmus­Semester interessiert, kann sich an das EU-Büro der Universität wenden. Es berät mit Hinweisen zur Reise, Versicherungsschutz und Co. Uni-Sprecher Nicolas Scherger empfiehlt weiterhin Erasmus+: „Solange keine Reisebeschränkungen bestehen, ist ein Auslandsaufenthalt unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen weiterhin möglich und empfehlenswert.“



SZENE REPORTAGE

BLAUMANN STATT BADEHOSE

WARUM IN DER MENSCHENLEEREN KEIDEL-THERME DIE DUSCHEN LAUFEN

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Fotos: © pt

o im Freiburger Keidel normalerweise Kinder kreischen, Teenager knutschen und Senioren relaxen, werkeln derzeit Handwerker. Hinter verschlossenen Türen werden die Arbeiter Zeuge eines eigenartigen Schauspiels. Viermal am Tag erwacht die Therme im Winterschlaf sprudelnd zum Leben. Schließphasen gab es früher schon, einen Lockdown hat der Geschäftsleiter der Freiburger Keidel-Therme noch nicht erlebt. „Das ist für uns eine besondere Herausforderung“, sagt Oliver Heintz im Bistro des menschenleeren Bades. Die Stühle darin wurden zu Seite geschoben und gestapelt, in der Mitte des Bereichs steht eine Holzleiter, hinter dem Tresen blinkt die Kaffeemaschine. Einzig: Die Handwerker sind im Haus. „Wir nutzen die Zeit, um Wartungs- und Instandhaltungsmaßnahmen vorzuziehen“, erklärt Heintz. Gerade werden neue Elektroleitungen verlegt. Der 53-Jährige plant, Freiburgs Freibäder sukzessive aus dem Winterschlaf zu 24 CHILLI APRIL/MAI 2021

holen. Für eine Therme wie das Keidel brauche er drei Wochen Vorlaufzeit, Freiburgs Freibäder benötigen drei Monate, um für Besucher bereit zu sein. Dafür müsse Vorarbeit geleistet werden. „Wenn ein Auto lange stand, kann man auch nicht direkt Vollgas geben“, sagt er. Die Technik im Keidel ist deswegen auch nicht komplett heruntergefahren. „Wir sind im absoluten minimalen Erhaltungsbetrieb“, betont Heintz. Ganz ausgeschaltet werden können die Anlagen der Therme nicht – in den Rohren steht Wasser. „Die müssen durchgespült werden, sonst kommt es darin wegen des Mineralanteils im Thermenwasser zu Ablagerungen“, erklärt der Experte. Um Kondenswasser und Feuchtigkeitsschäden zu vermeiden, läuft auch die Lüftung. Wie viel Energie das Keidel im Winterschlaf verbraucht, könne Heintz pauschal nicht sagen. Im Keidel riecht es noch nach Chlor. Auf der Ostseite der Therme plätschert das volle Innenbecken leise vor sich hin, als warte es auf Schwimmer. „Das Wasser müssen wir drinlassen.

Das gleicht den Druck vom Boden aus. Sonst kann sich das Becken verziehen und Fliesen lösen“, erklärt Heintz. Im Perl- und Warmbecken hingegen herrscht Ebbe. Darin steht ein Handwerker, statt Badehose trägt er Blaumann. Auch dahinter, im großen Behandlungs- sowie Fitnessbecken, ist das warme Nass komplett abgelassen. Wo normalerweise das Leben tobt, hallen heute Schritte. In wenigen Stunden wird die Stille wieder durch eine kleine Einlage unterbrochen: Viermal am Tag schalten sich im Keidel alle Duschen und Massagedüsen


Hält die Keidel-Therme am Laufen: Geschäftsleiter Oliver Heintz

ein und der Strömungskanal und Wasserfall beginnen wie durch Zauberhand zu sprudeln. Selbst Heintz ist von dem zuschauerlosen Schauspiel jedes Mal kurz überrascht. „Wir fragen uns dann manchmal: Huch, wer duscht denn da?“ Die Show sei skurril, aber notwendig. „Der heiße Wasserdurchlauf reinigt die Leitungen. So können sich darin keine Mineralablagerungen bilden“, betont er. In den Kassen sprudelt es weniger. Im vergangenen Juni hatte die Freiburger Stadtbau (FSB) gemeldet, dass – im Vergleich zur Schließung – allein die pandemiebedingte Öffnung des Keidel, des Strandbades sowie des Freibads in St. Georgen 400.000 Euro an zusätzlichen Kosten verursacht – monatlich. Aktuell sind vier von fünf Keidel-Mitarbeitern in Kurzarbeit. In der Regio Bäder GmbH wird die Belegschaft peu à peu zurückgeholt. Im Pandemie-Modus sei der Personalaufwand aber in allen Bädern gestiegen: Statt zwei Bademeistern werden vier benötigt. Dazu kommen Kosten für Reinigung und Security. Für die kommende Freiluftsaison sehen sich Freiburgs Bad-­ Betreiber gerüstet. Vergangenes Jahr habe man wertvolle Erfahrungen gesammelt. Eineinhalb Meter Abstand, vier Quadratmeter im Nichtschwimmerbecken, insgesamt zehn Quadratmeter Schwimmerbecken pro Badegast. „Die Corona-Verordnung ist klar definiert“, so Heintz. Zwischenfälle sind dem Geschäftsleiter nicht bekannt: „Das lief alles optimal.“ Das Westbad und das Haslacher Bad wurden bereits für Vereins- und Schulschwimmen geöffnet. Das Strandbad soll, abhängig von Infektionsgeschehen und Wetter, demnächst öffnen. Im Mai könnten das Freibad in St. Georgen und das Lorettobad aufschließen. Für die Keidel-Therme gibt es zum Redaktionsschluss noch kein Öffnungsdatum. Normalerweise tummeln sich um diese Jahreszeit täglich knapp 2500 Besucher unter ihren Glaskuppeln. „Eigentlich ist gerade Hochsaison“, sagt Heintz. Er sehnt sich danach, die Türen der Therme wieder zu öffnen. Im Foyer steht derzeit ein Fahrrad, wenn der Startschuss aber fällt, will Heintz das Keidel so schnell wie möglich aus dem Winterschlaf wecken. Philip Thomas

Pool, halbvoll: Im Freibad St. Georgen laufen die Vorbereitungen.

IN & OUT Bikini und Badehose sind die Must-Haves des Frühlings. Wegen der Pandemie surft chilli-Trendchecker Philip Thomas die dritte Welle aber lieber mit Maske, Schnelltests und der Aussicht auf Impfstoff. Er verrät, wo es in Freiburg rundläuft und warum es zahlreichen Einzelhändlern – auch mit Regalen voller Klopapier – beschissen geht.

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Trotz geplatztem Radent­ scheid: Freiburg ­belegt auf der Liste der fahrradfreund­ lichsten Städte in Deutschland den dritten Platz. Besser radeln lässt es sich laut ADFC nur in Karlsruhe und Münster.„Die Verkehrswende soll weiter vorangebracht werden. Für einen klima­ freundlichen Stadtverkehr von morgen braucht es gute Foto: © tln Bedingungen für Radfahrende“, so Freiburgs Bürgermeister Martin Haag. Miese Noten von den rund 800 befragten Freiburger·innen gab’s derweil nicht nur für Raddiebstähle, sondern auch für das Mitnahme-Verbot von Drahteseln im Freiburger ÖPNV.

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Foto: © Stadt Freiburg

SZENE KOLUMNE

AUFHABEN

Zwei Wochen lang hatte er geöffnet, dann musste Deu­tsch­lands einziger Klopapier-Flagship-Store wieder schließen. Zuvor hatte das Modehaus Blum-Jundt in Emmendingen auf 60 Prozent seiner Fläche „Artikel des täglichen Bedarfs“ wie Toilettenpapier oder Nudeln ausgestellt und damit die Corona-VerordFoto: © Flagship Modehaus Blum-Jundt nung ausgehebelt. Inzwischen hat das Rathaus den Paragrafen überarbeitet – das „Mischsortiment-Privileg“ richtet sich ab sofort nach Umsatz. Laut dem Modehaus habe die Aktion ihre Wirkung ­allerdings nicht verfehlt: „Aufmerksamkeit für die Lage von Geschäften unserer Art und deren Ungleichbehandlung.“ APRIL/MAI 2021 CHILLI 25


Szene GASTRONOMIE

Der blaue Fuchs in der Mehlwaage Neues Betreiberteam im „Schmuckstück“

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Fotos: © bar

ie altehrwürdige Mehlwaage an der Metzgerau hat neue Pächter. Hamme Gnann, Hilmar und Christian Schäuble und Chris Gersch haben sie gepachtet. Geschäftsführer ist Timo Kalt. Am warmen Herd wird Torsten Plötze Regie führen. Nachdem der vorherige Betreiber Christof Keller aufgegeben hatte, hatte die Brauerei Ganter das 1763 erbaute „Stechhäusle“ von den Eigentümern, der Familie Maentele, gepachtet und sodann das neue Quartett gefunden. „Das Haus ist ein Schmuckstück, wir konnten gar nicht anders“, sagt Gnann. Drinnen habe man so gut wie alles rausgerissen, nur der „schöne Boden“ blieb. Zusammen mit Ganter und den Eigentümern investiere man rund eine halbe Million Euro, um aus dem Schmuckstück eine unverwechselbare Mischung aus Kneipe und Restaurant zu machen. Dazu sollen viele eigenkreierte Lampen und andere Objekte bei-

tragen. Die Gruppe betreibt in Freiburg auch den Goldenen Sternen und seit gut drei Jahren den Schwarzen Kater an der Bertoldstraße. „Aber der Blaue Fuchs wird sicher der schönste“, glaubt Gnann. Es gibt zehn Biere, vier aus dem Hause Ganter, aber etwa auch ein Pilsener Urquell oder ein Helles aus Bayern. Die Küche wird gutbürgerlich und badisch sein, aber nicht ohne Ausreißer, denn Plötze war 2013 bester Jugendkoch Baden-Württembergs und wird sich allein mit Schnitzel und Spätzle nicht zufriedengeben. Nach dem Essen soll es ein bisschen lauter werden, die Metamorphose von Restaurant zu Kneipe soll auch die Musik anfachen. Vom Studi bis zum Prof, von der Familie bis zum Single, der Blaue Fuchs soll für alle da sein. Bis zu 60 Arbeitsplätze, darunter 20 Festangestellte, plant Gnann. Drinnen gibt es 140, draußen 90 Plätze. Wann der Blaue Fuchs aufmacht? „Sobald Corona es zulässt.“ Lars Bargmann

MEINE SORGEN Parabel der Pandemie-Politik

Wir leben in einer bürokratisierten Bananenrepublik. Der Mythos der gut geölten Maschine Deutschland ist durch das Coronavirus jedenfalls dahin. Oder handelt es sich bei der Maschine um eine Dampflokomotive? Eine, die mit viel Knall und Rauch den Anschluss zur modernen Datenautobahn verloren hat? Vielleicht, weil im Maschinenraum Bürokraten sitzen und über die Farbe von Kohle streiten? 26 CHILLI April/Mai 2021

Mein Behördengang neulich entpuppte sich jedenfalls als Parabel zur hiesigen Pandemie-Politik. Dort sinngemäß: „Um das blaue Formular auszufüllen, beantragen Sie bitte das gelbe Formular. Antrag nur fristgerecht bis gestern, 10 Uhr. Wir melden uns dann bei Ihnen in drei bis zwölf Wochen. Bitte beachten Sie für Rückfragen unsere Öffnungszeiten von 11.30 Uhr bis 11.45 Uhr. Sie erreichen uns per Fax oder Brieftaube.“ Amt per App

– wäre das denn nicht mal was? Hinzu kommt, dass unsere Zugführer an vielen Weichen falsch abbiegen: Dinge wie Ruhetage oder Notbremsen, die wochenlang geprüft werden müssten, werden rausgefeuert (und dann zurückgenommen). Dinge wie Hilfsgelder, Tests und Impftermine, die rausgefeuert werden müssten, werden wochenlang geprüft. Da nützt der Deutschland-Lok dann auch ihre ganze Kohle nichts. Philip Thomas


Szene Medien

Koks, Gras und Waffen auf dem Radar T

elegram wird als sicherer Messenger-Dienst vermarktet und ist deshalb dafür bekannt, Plattform für einschlägige Angebote, Drogendeals oder alternative „Wahrheiten“ zu sein. Aber wie einfach ist es, in diese Welt einzutauchen? Und welche geheimen Überraschungen verstecken sich in der Green City? chilli-Volontärin Liliane Herzberg ist mit ihrem Handy durch Freiburg spaziert und der Sache auf den Grund gegangen. Es ist Feierabend – wegen der Pandemie bleibt dieser wohl höchst un­ spektakulär. Längst habe ich alle Apps auf meinem Handy durchgeklickt. Zeit für Abwechslung. Vielleicht kann der Messengerdienst Telegram Abhilfe verschaffen. Denn dort können sich Unbekannte in einem Radius von etwa zwei Kilometern miteinander vernetzen. Seit Januar hat Telegram 500 Millionen aktive User·innen – vielleicht ist da ja jemand dabei, der ein wenig Spannung in meinen Abend bringt. Gedacht, getan. Ich schmeiße meinen Standort an, öffne die App und klicke auf die Funktion „Kontakte“. Es erscheint das Feld „Leute in der Nähe finden“. Ich scrolle durch und werde stutzig: Drogen, Waffen, Abtreibungsmittel – ist der Kauf wirklich nur einen Klick entfernt? Die vom Freiburger Güterbahnhof etwa 350 Meter entfernte Gruppe „Campo Novo Freiburg“ ist nicht sehr kommunikativ. Das Gespräch geht hier kaum über

eine Reihe Kredit- und Sexangebote hinaus. Die sind übrigens en masse in jeder der Gruppen und Stadtteile zu finden. In „Corona nervt!“ decken fünf Personen Verschwörungen auf, schnell werde ich der Posts überdrüssig. Spannend wird es schließlich in „Egon at night“ mit 33 Mitgliedern. Dort gibt es einen Link, der mich zu „Cocaine, pills, shrooms, marijuana, guns and armor“

Allerlei illegales Zeug führt. Übersetzt heißt das: Hier gibt’s das Darknet im offenen Internet. Ohne viel Aufwand könnte ich dort scheinbar illegales Zeug kaufen. Zumindest theoretisch. „Die Existenz der angebotenen Ware ist manchmal fraglich und nicht immer ernst zu nehmen. Wir haben Telegram auf dem Schirm, aber da geht es überwiegend um den Austausch in Chats, zum Beispiel von Kinderpornografie“, so Michael Schorr, Pressesprecher der Polizei Freiburg. Als ich draufklicken will, ist der Link verschwunden. Irgendwie erleichtert schwinge ich mich auf mein Rad und mache mich auf den sonnigen Weg in die Innenstadt. Ich erinnere mich dunkel, dass das früher der Ort war, an dem was zu erleben war. Und wirklich: Selbst in stillen Pandemie-

zeiten bedeuten dort laute Bässe noch Lebenselixier – in „I Love (Herz) House Music Freiburg“ tauschen Fans ihre Lieblingstracks aus. Auch der ein oder andere Langfinger ist noch unterwegs – in „Verkauf Gruppe Freiburg“ vertickt jemand eine geklaute Rolex. Nur für die Weltverbesserung begeistert sich anscheinend niemand: Die „Mobilitätswende Freiburg“ hat genau ein trauriges Mitglied. Weiter geht’s in die Wiehre. Die Telegram-Studie zeigt: Während Corona ähneln sich die Interessen überall. Zwar spielten die Bewohner·innen einst gerne Tischtennis „ping pong draußen Fr“, schnell wurde daraus aber das alkoholreichere Bier Pong und schließlich ein nächtlicher Rave, wie Videos vom Oktober in „Techlife“ belegen. Da liegt nah, dass es auch im studentischen Stühlinger ähnlich zugehen dürfte. In der Nähe des gleichnamigen Parks wird in „Kryptowährung Sidechain Freiburg“ mit „Kryprotokens“ spekuliert, andere tanzten jüngst in einem engen Raum mit mehreren Menschen zu Techno. AHA-Regeln exklusive. Meine Beitrittsanfrage lässt der Inhaber der Gruppe unbeantwortet. Ist vielleicht auch besser so. Unverrichteter Dinge mache ich mich auf den Heimweg. Ein fahler Beigeschmack bleibt, hier ist scheinbar viel los und doch nichts dahinter. Die reale Welt und echte Freundesgruppen fehlen. Liliane Herzberg April/Mai 2021 CHILLI 27

Foto: © pixabay.com/Thomas Ulrich

Eine Tour durch Freiburger Telegram-Gruppen


SZENE ANDERS LEBEN

»WIR SCHLAGEN EINE BRÜCKE« CHILLI-INTERVIEW MIT RADLAGER-AKTIVISTEN

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ach den Odysseen früherer ­Wageninitiativen ­herrschte jahrelang Stille um das Thema Wagenplatz in Freiburg. Jetzt weht jedoch frischer Wind durch die Szene. Laut „Gesamtkonzept ­bezahlbares Wohnen“ will die Verwaltung nun ausreichend Wagenstellplätze zur Verfügung stellen. Seit vergangenem Jahr mischt sich die neue Gruppe „Radlager“ ein. Ihre Idee: gemeinschaftliches Wohnen auf ungenutzten Flächen. chilli-Autor Lars ­Nungesser hat sich mit Basti, Lu und Peter (sie wollen öffentlich anonym bleiben und nur gemeinsam sprechen) vom Radlager getroffen und mit ihnen über Wohnraumpolitik, Luxus und Utopien gesprochen. chilli: Warum habt ihr einen eingetragenen Verein gegründet? Radlager: Uns ist schnell klar geworden, dass es einfacher ist, als juristische Körperschaft einen Platz zu mieten und Vertrauen zu gewinnen. Der vergangene Wagendiskurs war seitens der Stadtpolitiker·innen von viel Misstrauen geprägt. Mit dem Verein schlagen wir eine Brücke. Die Stadt hat dieses Signal aufgenommen und verstanden, dass wir reden und verhandeln wollen.

Foto: © Radlager

chilli: In Freiburg stehen die Chancen auf einen langfristigen Platz schlecht. Radlager: Selbstverständlich will die Stadt lieber nach oben bauen, um den Platz effektiv zu nutzen. Wir könnten aber jetzt sofort zukünftiges Bauland bewohnen, wo etwa erst in zwei Jahren gebaut wird. So lange füllen wir diese Lücke und verhindern, dass die Fläche brach liegt. chilli: Wie wäre es mit dem Umland? Radlager: Die meisten von uns arbeiten oder studieren in Freiburg, gehen zur Schule oder haben ein Ehrenamt. Da muss es schon etwas sein, was gut mit S-Bahn oder Fahrrad erreichbar ist. Mit eigenen Pkws in die Stadt zu fahren, wi28 CHILLI APRIL/MAI 2021

derspricht unserem ökologischen Denken. Uns geht es ja gerade auch darum, dass unser Platz ein zugänglicher Raum wird. Wir wollen kein eigenbrötlerisches Projekt im Schwarzwald sein. chilli: Ihr schreibt, dass ihr gemeinsam Utopie leben wollt. Was heißt das konkret? Radlager: Wir wünschen uns einen gemeinschaftlichen Raum, der nicht so kommerziell ist wie viele andere Räume in der Stadt. Natürlich wollen wir dort leben, aber auch eine Gärtnerei, eine Werkstatt und einen Raum für Veranstaltungen erschaffen, wo Menschen, unabhängig von Geld, Kultur erleben können. Wir wollen ansozialisierte Verhaltensweisen und Rollenbilder hinterfragen und schauen, welche Bedürfnisse und Fähigkeiten wir miteinander austauschen können. Unsere Entscheidungen treffen wir basisdemokratisch, niemand wird übergangen und niemand bestimmt über andere. Außerdem wollen wir Selbstverwaltung, also nicht abhängig sein von einem Mietvertrag, der vielleicht irgendwann gekündigt wird. chilli: Ist das Radlager Teil einer größeren Bewegung? Radlager: Es fühlt sich eher an wie eine Szene. Einmal im Monat zeigen wir in unserem Online-Wagenkino Dokumentationen über Plätze in anderen Städten. Da sind auch Menschen von dort zu Gast, die damals bei den politischen Auseinandersetzungen mit dabei waren. Für Repressionen, wie etwa die Beschlagnahmung von Wägen, gibt es Solitöpfe, Geld, womit wir uns gegenseitig unterstützen. chilli: Früher war die Politik in Freiburg nicht gerade zimperlich mit Wagenburgen … Radlager: Jetzt sind die Bedingungen ganz andere. Es gibt einen neuen

Wollen Freiraum: Radlager-Aktivisten

Oberbürgermeister, im Ordnungsamt sind Positionen neu besetzt. Früher mussten die Wägler·innen Flächen besetzen, weil die Stadt nicht mit sich verhandeln ließ. Im Vergleich dazu haben wir den Luxus, dass man mit uns redet. Einige aus dem Gemeinderat waren sogar echt positiv überrascht von uns. Wir hoffen einfach, man sieht uns nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung für diese Stadt.

INFO Rathaus will Konzept vorlegen Sabine Recker und David Vogel vom städtischen Referat für bezahlbares Wohnen äußern sich wohlwollend gegenüber der Wageninitiative. Alternative Wohnformen und Vielfalt seien für eine Stadt wichtig, ein Wagenplatz habe deshalb eine gesellschaftspolitische Bedeutung. In Freiburg habe man aber das Problem einer großen Flächenknappheit und Wohnungsnot, die mit anderen Städten kaum vergleichbar sei. Derzeit sehe man die Möglichkeit einer langfristigen Flächennutzung für Wägen deshalb nicht. Ein neues Konzept soll bis Mitte des Jahres dem Gemeinderat zum ­Beschluss vorliegen.


SZENE Rechtsstreit

Geisterjäger geht vor Gericht Parapsychologische Beratungsstelle soll 250.000 Euro zurückzahlen

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eit mehr als 30 Jahren geht Walter von Lucadou als Leiter der Parapsychologischen Beratungsstelle unerklärlichen Phänomenen auf den Grund. Jetzt hat der „Geisterjäger“ einen ganz weltlichen Fall: Die Beratungsstelle soll Fördergelder zurückzahlen, weil diese Vermögensbestände angeblich nicht korrekt gemeldet hat. Lucadou bestreitet die Vorwürfe und spricht von Schikane. Rund 70 Prozent der Deutschen haben bei einer Allensbach-Umfrage vor fünf Jahren mal angegeben, mindestens einmal ein „subjektiv paranormales Erlebnis“ erfahren zu haben. Für viele von ihnen hat Walter von Lucadou eine Erklärung: Der nächtliche Dämon auf der Brust ist eigentlich die Schlafstarre – eine Schutzfunktion, die verhindert, dass geträumte Bewegungen tatsächlich ausgeführt werden. Die geheimnisvollen Stimmen aus dem Teekessel entpuppen sich als empfangene Radiosendung. „Uns rufen Menschen an, die Dinge erlebt haben, die sie nicht verstehen“, sagt der 75-Jährige. Rund 3000 Fälle bearbeitet der Spezialist nach eigener Aussage jährlich. Vergangenes Jahr waren es deutlich weniger: Lucadou musste alle vier Mitarbeiter der Parapsychologischen Beratungsstelle entlassen, weil das Kultusministerium Förderungen in Höhe von zuletzt 83.000 Euro zum Ende des Jahres

2019 eingestellt hatte. Für Lucadou keine gänzlich neue Situation. „Anträge zu schreiben, ist nichts Neues. Alle zwei, drei Jahre muss ich Klinken putzen“, sagt der Wissenschaftler in seinem Büro an der Freiburger Hildastraße. Im Feld der Parapsychologie tummelten sich viele Schwindler und Scharlatane. „Die nutzen Unwissen gnadenlos aus, da wird abkassiert.“ Sich davon immer wieder zu distanzieren, koste viel Energie und Zeit. Gestrichen wurden die Zahlungen, weil eine interministerielle Arbeitsgruppe die Beratungsstelle nach einem Bericht im April 2019 auf Sektenberatung ausrichten wollte – und Lucadou nicht folgte. „Neu-religiöse Gruppen spielen bei uns nur eine untergeordnete Rolle, etwa zwei Prozent aller Beratungen“, sagt er. Lucadou sieht seine Aufgabe in „präventiver Beratung zu einem adäquaten Umgang mit ungewöhnlichen oder außergewöhnlichen Erfahrungen, esoterischen oder okkulten Praktiken sowie alternativ-medizinischen Angeboten“. Einen neuen Förderantrag lehnte das Ministerium ab, seitdem finanziert sich die Beratungsstelle laut seinem Leiter allein durch Spenden. Im vergangenen Oktober bekam der Freiburger erneut Post aus Stuttgart. Seine Wissenschaftliche Gesellschaft zur Förderung der Parapsychologie (WGFP) solle die erhaltenen Förderungen der Jahre 2013 bis 2019 – summiert fast eine Viertelmillion Euro – zurückzahlen. Nach Aussage der Pressestelle liegen dem Ministerium die Jahresabrechnungen aus diesem Zeitraum vor. „Diese unterscheiden sich erheblich von den Abrechnungen, die die WGFP zum Ende des jeweiligen Bewilligungsjahres dem Kultusministerium zugeleitet hatte“, so Ministeriumssprecherin Christine Sattler. „Ich habe immer detailliert beschrieben, was ich hier mache. Das wusste 30 Jahre lang jeder“, wundert sich Lucadou. Auch woher das Ministerium die Akteneinsicht hat, kann er sich nicht erklären. „Wir haben einen Hinweis erhalten“, verrät die Sprecherin. „Das ist reine Schikane“, so Lucadou. Das Ministerium weist die Anschuldigung zurück. Der Parapsychologe betont, der Verein habe nur aus Eigenmitteln zurückgelegt: „Das waren Spenden und Gelder aus Vortragshonoraren.“ Lucadou will daher Klage beim Freiburger Verwaltungsgericht einreichen, die Viertelmillion Euro kann die WGFP nicht aufbringen. Ob die Klage Erfolg hat? „Keine Ahnung, vor Gericht und auf See ist man in Gottes Hand.“ Philip Thomas

JÄHRLICH 3000 BERATUNGEN

Foto: © pt

Walter von Lucadou: Untersucht scheinbar übernatürliche Phänomene.

April/Mai 2021 CHILLI 29


wirtschaft Start-ups

Starten groß durch: Die drei Gründer Max Gulde (m., mit Kind), Raumfahrtingenieur Marius Bierdel (li. daneben) und Business Manager Christian Mittermaier (4. v. re.) und ihr Team wollen im Februar 2022 ihren ersten Satelliten zur ISS (li.) schicken.

Ein groSSer Schritt für die Menschheit Freiburger Start-up will landwirtschaftliche Daten aus dem All senden

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Fotos: © ConstellR, Airbus

oran ESA und NASA bislang gescheitert sind, will nun ein Freiburger Start-up umsetzen: Satelliten, die Bauern vom Weltall aus melden, ob ihre Pflanzen gewässert oder gedüngt werden müssen. Schon in wenigen Jahren soll das dazu beitragen, den globalen Hunger zu bekämpfen. Rund 400 Kilometer über der Erde schwebt der Mini-Satellit durchs Weltall. Von wo aus das menschliche Auge gerade einmal Kontinente und Weltmeere erkennt, sieht er einzelne Felder – und im Endeffekt sogar die nur Mikrometer großen Zellen der Pflanzen, die hier wachsen. Verschließen sich diese, weil die Pflanze Stress hat – etwa durch zu wenig Wasser, Dünger oder Pilzbefall –, steigt die Temperatur auf dem Feld an. Das bemerkt der Satellit und meldet es an die Erde. Hier gehen diese Daten – aufbereitet und verknüpft mit weiteren Faktoren – an den Bauern. Der kann direkt handeln und sorgt so für das optimale Wachstum seiner Pflanzen. Das ist die Vision. Die Entwickler dieses Satelliten sitzen weder bei der NASA noch bei der ESA, sondern übergangsweise in ein paar alten Büroräumen in der Freiburger Innenstadt. Nach etwas Dauerhaftem sucht das Start-up ContsellR GmbH noch nicht – zu rasant ist das Wachstum der kleinen Firma. Was vor einem Jahr als Neugründung von vier Wissenschaftlern begonnen hat, ist mittlerweile auf 16 Mitarbeiter angewachsen. Bis Anfang nächsten Jahres sollen es etwa doppelt so viele sein. Wer trotzdem erwartet, ein hochmodernes Spacecenter vorzufinden, wird enttäuscht. Das einzige Ungewöhnliche in den Büros sind die Maispflanzen, die in Kübeln wachsen. Sie dienen als 30 CHILLI April/Mai 2021

erstes Versuchsobjekt. Der Satellit selbst wird in den Reinräumen des Ernst-Mach-Instituts gebaut. Im Februar 2022 muss er fertig sein. Dann wird er ins All geschossen, wo er an der ISS andocken soll. Das Besondere an ihm: Er ist nicht größer als eine Schuhschachtel. Und darum deutlich günstiger. Während ein normaler Satellit zwischen 850 Millionen und 1,3 Milliarden Euro kostet, hat es für die Miniaturausgabe nur eine gute Million gebraucht. Das macht eine ganz andere Technologisierung möglich, erklärt Max Gulde, einer der noch aktiven drei Gründer: „Der Space Sektor ist extrem konservativ. Das ist auch logisch: Wenn man etwas für mehrere Milliarden baut und keine Chance hat, es zu reparieren, wenn es einmal im All ist, dann muss man von der eingesetzten Technologie felsenfest überzeugt sein.“ Das Resultat: Die Technik im Weltraum hinke der auf der Erde um rund zehn Jahre hinterher. Vertreter der New-Space-Bewegung, zu denen auch ConstellR gehört, wollen das ändern. Indem sie Satelliten auf das Nötigste beschränken, machen sie sie kleiner und billiger. „Wir schicken eine erste Satellitengeneration hoch, von der wir wissen, dass sie nicht perfekt ist“, erklärt Gulde die Idee. „Die ist nach drei Jahren passé und dann kommt die nächste, die doppelt so viel kann.“ NASA und ESA seien daran bisher gescheitert: Bereits seit den 90er-Jahren sei bekannt, dass die Berater von Landwirten händeringend nach Temperaturdaten aus dem All suchen. Seit dieser Zeit versuchen die Agenturen, Missionen zu starten – bislang erfolglos. „Die aktuellen Missionen werden nicht vor Ende der 20er-Jahre starten“, glaubt der Physiker, „doch das ist viel zu spät.“


Denn die vielleicht einmal bis zu 84 Mini-Satelliten von ConstellR verfolgen nicht einfach das Ziel, Landwirtschaft lukrativer zu machen. Das kleine Start-up will eine maßgebliche Rolle dabei spielen, den Hunger auf der Welt zu bekämpfen. Nach einer Prognose der Vereinten Nationen muss die Menschheit in den nächsten 30 Jahren ihre Nahrungsmittelproduktion um 50 Prozent steigern. Das wird ohne neue Technologie – aber auch ohne einen Wandel der Ernährungsgewohnheiten – nicht möglich sein, ist sich Gulde sicher. ConstellR soll dabei eine maßgebliche Rolle spielen: „Wenn unsere Technologie auf etwa 30 Prozent der bewässerten Felder eingesetzt wird, dann hätten wir die Möglichkeit, bereits 2026 etwa sieben Prozent mehr Nahrung zu erzeugen.“ Das gesparte Wasser könne auf anderen Feldern eingesetzt werden, was einen riesigen Einfluss darauf habe, wie viel Nahrung erzeugt wird. „So könnten wir zwischen 500 und 550 Millionen Menschen ernähren.“ Dass nicht nur die Gründer selbst an diese Idee glauben, zeigt sich an den namhaften Organisationen, die dahinter stehen. Gestartet als Projekt am Fraunhofer-Institut ist ConstellR eine Ausgründung von dessen Ernst-Mach-Institut in Freiburg, des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und des Instituts für Optische Sensorsysteme. Unterstützt werden sie von Deutschlands größtem Satellitenbauer OHB, von Airbus und der ESA. Gulde und seine Mitstreiter hoffen, in vier, fünf Jahren so weit zu sein, dass ihre Technologie „auf einer globalen Skala einen Effekt“ hat. Das sei dringend nötig: „Wir werden bis 2030 etwa 40 Prozent mehr Wasserbedarf haben, dabei ist Wasser jetzt schon knapp“, warnt der 36-Jährige. „Wenn wir nicht bald handeln, dann könnte das in einer Katastrophe enden.“ Tanja Senn

Pflanzenzellen im Stresstest: Der Satellit von ConstellR macht Probleme frühzeitig sichtbar (o.), anders als herkömmliche Technik (u.).


wirtschaft Start-ups

WEtell knackt rekord Grünes mobilfunk-Start-up holt bei crowdinvest 700.000 Euro rein

Illustration: © iStock/vladwel

Den sechsstelligen Betrag benötigt das Start-up aus dem Freiburger Kreativpark, um weiter zu wachsen. 3000 Kund·innen sind bisher an Bord. Ab 15.000 Konsumenten wird das grüne Mobilfunk-Unternehmen rentabel, berichten die Macher. Ab dem 8. April konnten Supporter 250 bis 25.000 Euro an WEtell zahlen. Das zehnköpfige Jungunternehmen aus dem Freiburger Kreativpark bietet dafür sechs Prozent Basiszins und bis zu zehn Prozent Bonuszahlungen – je nachdem wie erfolgreich sich das Unternehmen entwickelt. Wenn das Unternehmen insolvent werden sollte, ist das Geld futsch. Die WEtell-Macher waren schon im Vorfeld optimistisch, genügend Unterstützung für ihre Crowdinvest-Kampagne zu finden. Es gab sogar die leise Hoffnung, es an nur einem Tag zu schaffen. Dass es dann doch so schnell ging, hat sie dennoch überrascht: „Wir sind hellauf begeistert! Damit hätten wir nicht gerechnet“, jubelt Andreas Schmucker. Der 36-Jährige hat mit Alma Spribille (36) und Nico Tucher (34) WEtell gegründet. Seit September 2020 sind sie am Markt. Mit ihren vier Mobilfunktarifen von 15 bis 30 Euro versprechen sie, vieles anders zu machen: „Mobilfunk geht auch nachhaltig“, lautet ihr Slogan. Statt auf maximal günstige Preise setzt WEtell auf Klimaschutz, Datenschutz, Fairness und Transparenz. Das Crowdinvest soll ihnen ermöglichen, keine Firmenanteile an sich einmischende Risikoinvestoren abzutreten, sondern mit einer gemeinwohlorientierten Finanzierungsstrategie die eigenen Werte hochzuhalten. „Wir sind keine Profitmaschine, sondern eine Nachhaltigkeitsmaschine“, betont Alma Spribille. Nach rund acht Monaten hat WEtell 1000 Solarmodule bauen lassen. Ein Versprechen an die Kunden, als Unternehmen die Klimawende voranzutreiben. Ob das wirtschaftlich sinnvoll ist? „Man könnte sagen, wir haben eigentlich kein Geld für so einen Quatsch“, sagt Spribille. „Aber es ist eben kein Quatsch.“ Dafür arbeiten sie unter anderem mit dem grünen Suchmaschinenbetreiber Ecosia und dem Ökostromanbieter Naturstrom zusammen. Auch bei SIM-Karten wollen WEtell ein Zeichen setzen: Ihr Plastikkärtchen liefern sie mittlerweile halbiert. Und sparen somit nach eigenen Angaben zwei Gramm Plastik pro Karte. 32 CHILLI April/Mai 2021

Mit Kleinem Großes bewirken, so die Idee. „Wenn alle SIM-Karten in Deutschland so verschickt werden würden, würden wir 282 Tonnen Plastik sparen!“, sagen die drei Gründer. Andreas Schmucker ist überzeugt, dass die Firma wachsen kann: „Wir merken: Das Produkt ist cool und hat voll die Relevanz.“ 99 Prozent ihrer Kund·innen seien zufrieden. „Wir merken, dass nachhaltiger Mobilfunk gebraucht wird.“ Doch der Weg ist noch weit: „Wir sind ein winziges Licht in einer riesigen Branche“, sagt Spribille, die mit ihren zwei Mitstreitern früher beim Freiburger Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme arbeitete. Eine starke Bestätigung für ihre Arbeit haben sie im März erhalten: WEtell hat den Georg-Salvamoser-Preis als „Helden der Energiewende“ erhalten. 10.000 Euro gab es dafür – und viel Rückenwind: „Das ist eine wahnsinnige Ehre“, sagt Schmucker. Insbesondere, da Branchenkenner in der Jury sitzen. Den Schwung möchten sie mitnehmen, um sich weit über Freiburg hinaus bekannt zu machen. Auch wenn es bereits jetzt mehr Kunden in Berlin gibt als in Freiburg. Schon 2019 holten WEtell mit einem Crowdfunding 180.000 Euro rein. Das Rekord-Crowdinvest in Kooperation mit der GLS Bank ist jetzt ein weiterer Meilenstein. Das Team wisse, dass es eine starke Community habe. „Aber dass sie so stark ist, dass sie sogar die Server zeitweise in die Knie zwingt, hätte hier keiner für möglich gehalten“, schwärmt Schmucker. Der Betrag soll in Marketing- und Vertrieb sowie die Weiterentwicklung ihrer Produkte und Werte investiert werden. Till Neumann

Foto: © Florian Forsbach

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ekordergebnis: Das Freiburger Start-up WeTell hat seit dem 8. April allen Grund zu feiern: In nur einer Stunde und 40 Minuten waren bei einer Crowdinvest-Kampagne die erhofften 700.000 Euro im Topf. Damit haben die Mobilfunk-Revoluzzer die schnellste Kampagne geschafft, die je auf dem Portal der GLS Crowd gelaufen ist.

WEtell-Team: Andreas Schmucker, Alma Spribille und Nico Tucher.


Wirtschaft Existenzgründer

Täglich eine neue Challenge Freiburger Start-up Savage Chocolate kreiert ­SüSSigkeiten-Neuheit

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Es waren einmal zwei Freiburger, die starteten einen Roadtrip durch das weit entfernte Kanada. Eines schönen Abends in der Wildnis stellten sie fest, dass der eine lieber Schokolade isst, während der andere Gummibärchen bevorzugt. Wieso es da noch keine Kombination gibt, fragten sich die beiden – die Idee zu Savage Chocolate war geboren. 2019 wagten sie den Weg von der Wildnis in die deutsche Bürokratie und gründeten ihr Unternehmen. Seit Oktober gibt es die Süßigkeiten zu kaufen, erst nur im Freiburger Bahnhofs-Supermarkt, mittlerweile in immer mehr Läden in ganz Deutschland. Vier Euro kostet eine Tüte, gefüllt ist sie entweder mit schokoladigen Sticks oder Schnullern, süß, herb und ungewohnt ist das Geschmackserlebnis. „Momentan ist es für uns noch ein Hobby, aber ein teures. Wir machen

Fotos: © Jacob Hensler, Philip Thomas

chokolade küsst Gummibärchen: Zwei Freiburger haben mit „Savage Chocolate“ eine Süßigkeit auf den Markt gebracht, die hierzulande einzigartig sein dürfte. Mit den Sweets wollen die Jungunternehmer durchstarten, ihr Business bauen sie sich neben dem Studium auf. Immer wieder stoßen sie dabei auch an Grenzen. Trotzdem sind die Süßigkeiten mittlerweile weit über die Stadtgrenze hinaus erhältlich.

Starten mit Gummibärchen-Schokolade durch: Leon Kroher (links) und Jacob Hensler.

alles selbst und reinvestieren auch alles, was reinkommt“, so Jacob Hensler, einer der beiden Gründer.

Regional und von Hand verpackt Gestartet sind sie mit Ersparnissen. „Die Regionalität hilft uns, unser Produkt zu vermarkten, der Schwarzwald und die Tatsache, dass es handgemacht und -verpackt ist, das zieht“, sagt der 22-Jährige. Die Gummibärchen beziehen die Inhaber aktuell noch von Suntjes, in die Schokolade eingetunkt werden sie von der Konfiserie Gmeiner im Schwarzwald, bei der Caritas Freiburg dann handverpackt. Ganz so einfach ist der Weg zum erfolgreichen Süßigkeiten-Start-up nicht: „Eines Tages stand plötzlich das Gesundheitsamt vor meiner Tür und ich wusste nicht, was ich vielleicht falsch gemacht haben könnte“, erzählt Leon Kroher. Glücklicherweise sei aber alles ordnungsgemäß gewesen. Anfangs erfuhren sie nicht viel Unterstützung von Freunden und Familie, „das alleine durchzuziehen, kostete schon Überwindung“, erinnert

sich der 23-Jährige. „Wir wachen jeden Tag auf und müssen eine neue Challenge bewältigen. Da fließt viel Zeit rein, aber: Wir verkaufen Süßigkeiten und das macht die Leute glücklich. Das ist schön“, ergänzt Kollege Hensler. Langfristig gesehen wollen sie die Gummibärchen selbst herstellen, am liebsten auch vegan: „Solange wir sie einkaufen, bleibt undurchsichtig, welche Zutaten wirklich drinstecken, vor allem, wenn man nur so ein kleiner Player ist wie wir“, klagt Hensler. Außerdem sei eine vegane Pralinensorte in Planung. Mehr wollen sie zwar noch nicht verraten, aber Ideen haben sie schon: „Ich habe schon viel gesehen, war in Neuseeland und Australien“, so der 22-Jährige, da seien weitere wilde Kreationen und Kombinationen nicht ausgeschlossen. Für die nähere Zukunft lohne es sich vielleicht, „den Fokus auf Geschenkeläden zu richten und die Süßigkeiten dort zu verkaufen, statt in Supermärkten, denn wenn die großen Player unsere Idee klauen, können wir ganz schnell nicht mehr mithalten“, resümiert der Business- und Management-Student Hensler. Aber da hätten sie noch keine Entscheidung getroffen. Erst mal sei jetzt das Ziel, sich in so vielen Städten wie möglich einen Namen zu machen. Liliane Herzberg April/Mai 2021 CHILLI 33


REISE ALLGÄU

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n e k c o l g h u K

e h c ü k r e t u ä r K

Das Allgäu verspricht Bergidylle wie aus dem Bilderbuch

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iskalte Bergseen statt Meereswellen, Kuhglocken-Gebimmel statt Möwengeschrei: Der Sommerurlaub wird für viele dieses Jahr wieder etwas anders aussehen als gewohnt. Doch das kann durchaus bereichernd sein: Denn mit seinen Bergen und Schluchten, Seen und Almen, Gasthöfen und Wellnesshotels bietet das Allgäu eine riesige Vielfalt an Freizeitmöglichkeiten.

Um es vorwegzunehmen: Stiefenhofen ist sicherlich nicht „the place to be“. Ein netter kleiner Lebensmittelladen, ein gluckerndes Bächlein, ein paar Schafe – das sind eigentlich schon die Highlights der 1800-Seelen-Gemeinde. Es gibt trotzdem einen guten Grund, hier abzusteigen und der heißt Axel Kulmus. Besser bekannt als der „Allgäuer Kräuterwirt“. Bereits in der dritten Generation betreibt der außergewöhnliche Koch hier das „Rössle“ – ein uriges Wirtshaus aus dem 17. Jahrhundert. Hier serviert er Rahmsüppchen vom Allgäuer Bergwiesen-Heu, Wildkräuterknödel oder mit Lavendel-Honig gratinierte Maispoularde. Selbst in den Desserts finden das Heu von der benachbarten Wiese und untypische Kräuter wie Thymian oder Rosmarin ihren Einsatz. Als Kulmus vor mehr als 20 Jahren mit seiner Kräuterküche begonnen hat, schlug ihm viel Unverständnis 34 CHILLI APRIL/MAI 2021

entgegen. „Ich musste mit Engelszungen auf manche Gäste einreden“, erzählt er heute schmunzelnd. 2004 sei dann der Durchbruch gekommen – die Menschen entwickelten ein neues Gesundheitsbewusstsein, regionale Küche wurde zum Trend. Die Heilpflanzen, mit denen Kulmus seine bodenständigen Gerichte verfeinert, stammen aus dem anliegenden Kräutergarten mit seinen mehr als 80 Sorten. Wenn das Wetter mitmacht, können die Gäste auch inmitten der duftenden Blüten speisen. Wird es kühl, locken die urige Wirtsstube mit ihren knarrenden Holzdielen oder der ehemalige Stall mit seinem rustikalen Flair. Gäste von außerhalb können in einem der 14 Zimmer oder einer der zwei Ferienwohnungen absteigen. Das Sympathische: Trotz der Auszeichnungen vom Varta-Führer, dem Guide Michelin oder dem Feinschmecker sind die Preise weder für die Speisen noch für die Übernachtungen überzogen: Das Doppelzimmer gibt es ab 102 Euro. Wer seinen Sommerurlaub im Allgäu verbringen möchte, sollte mit der Planung nicht allzu lange warten. Zwar sind die Übernachtungszahlen 2020 über das ganze Jahr gesehen um 27 Prozent auf 9,9 Millionen zurückgegangen, auf Ferienwohnungen, Bauernhöfe oder kleine Häuser gab es aber einen wahren Besucheransturm. Das


anderung mit Abkühlung: Tour zu W den Buchenegger Wasserfällen

Idyllisch: Der Kräutergarten von Axel Kulmus

Fotos: © Theresa Hilber, Rössle Kräuterwirt, Thomas Gretler, Moritz Sonntag, Rolf Eberhardt

Erlebnisreich: Touren mit den Rangern des Naturparks Nagelfluhkette

kann auch Kulmus bestätigen: „Wir wussten gar nicht mehr, wo oben und unten ist.“ Insgesamt konnte er sich im vergangenen Jahr daher gut über Wasser halten. „Wir sind noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen“, berichtet er erleichtert. Bei den Hotels haben die Übernachtungen im Juli und August hingegen nur langsam zugenommen. Erst im September sind sie im Vergleich zum Rekordjahr 2019 gestiegen – um acht Prozent.

NATUR PUR AUF DER NAGELFLUHKETTE „Das hat uns auch überrascht, doch viele Besucher waren einfach verunsichert“, erklärt Simone Zehnpfennig, Pressesprecherin der Tourismus-Dachorganisation Allgäu GmbH, den Besucherrückgang. Für dieses Jahr erwartet sie keine Besserung. Immer noch seien einige attraktive Ferienwohnungen frei. „Die Menschen buchen noch zurückhaltender als im letzten Jahr.“

räuter satt: Die Gerichte im Rössle K werden mit den hauseigenen Gewürzen verfeinert

Dabei ist das Allgäu eine der Top-Alternativen zur Auslandreise. Wer es sportlich mag, kann sich beim Wandern, Radfahren, Klettern oder Wassersport austoben. Entspannung findet sich in den Wellnesshotels, den Thermen sowie im überregional bekannten Erlebnisbad Aquaria Oberstaufen mit seinen Saunen, Dampfbädern und Solebecken. Zudem laden malerische Städtchen wie Kempten, Memmingen, Isny, Wangen oder Kaufbeuren zum Bummeln ein. Selbst den Bodensee, besser gesagt die Stadt Bregenz mit ihrer spektakulären Seebühne, erreicht man von Stiefenhofen aus in einer halben Stunde mit dem Auto. Ob der Rigoletto hier ab dem 21. Juli noch einmal steigen darf, weiß wohl aktuell niemand, doch der überdimensionale Clownskopf, der die Kulisse bildet, kann das ganze Jahr über bewundert werden. Doch zurück ins Allgäu: Wer das volle Programm mit Bergbahnen, Kuhgeläut und

Bergpanorama: Der Blick aufs 1834 Meter hohe Rindalphorn

Aktuell:

Momentan wird von nicht notwendigen Reisen und Ausflügen in die Region abgeraten! Wer seinen Sommerurlaub plant, findet hier aktuelle Infos zum Infektionsgeschehen in Bayern: www.corona-katastrophenschutz.bayern.de In Oberstaufen gibt es ein großes Testcenter für Schnelltests. Termine können online gebucht werden unter www.oberstaufen-testcenter.de APRIL/MAI 2021 CHILLI 35


Fotos: © Rössle Kräuterwirt, Rolf Eberhardt

REISE ALLGÄU

urigen Sennhütten will, ist im Naturschutzgebiet Nagelfluhkette mit seinen schroffen Gipfeln und kühlen Schluchten genau richtig. Bevor es losgeht, bietet sich ein Besuch im Naturparkzentrum AlpSeeHaus in Immenstadt-Bühl an. In dessen Erlebnisausstellung kann man spielerisch in den einzigen länderübergreifenden Naturpark zwischen Deutschland und Österreich eintauchen. Hier erfahren die Besucher, welche seltenen Tiere und Pflanzen in den Wäldern, Gewässern und Mooren sowie auf den Weiden zu Hause sind. Familien kommen am angeschlossenen „Skytrail“ mit Kletterfelsen und Piratenspielplatz kaum vorbei. Wer es geruhsamer angehen will, startet vom Infozentrum aus zu einem Spaziergang am Alpsee, dem größten Natursee des Allgäus. An dessen rechtem Ufer führt eine wunderschöne, idyllische Seepromenade entlang, die immer wieder an kleine Badebuchten und Liegewiesen führt. Und dann geht es endlich hoch hinaus. Den anstrengenden Aufstieg auf die 14 Berge der Nagelfluhkette kann man sich ein Stück weit ersparen, wenn man sich mit einer der drei Bergbahnen – Mittag-, Hochgrat- oder Imbergbahn – nach oben gondeln lässt. In luftiger Höhe erwarten die Ausflügler hunderte verschiedene Wanderwege – von herausfordernden Tagestouren bis zum halbstündigen Spaziergang ist alles dabei. Das Schöne: Selbst wer sich

Weitläufig: Die Nagelfluhkette umfasst 14 Berge

36 CHILLI APRI/MAI 2021

nur etwas die Füße vertreten möchte, darf sich über ein fantastisches Alpen-Panorama freuen, wenn er an duftenden Almwiesen vorbeispaziert, das allgegenwärtige Bimmeln der Kuhglocken immer im Ohr. Und schon ist man bei der ersten Alpe, wie sich die bewirteten Berghütten hier nennen, und kann es sich bei hausgemachtem Käse, einem frischen Glas Frischer geht’s nicht: Vesper mit hausgebackenem Brot Milch und hausgebackenem Brot gutgehen lassen. Wer die Naturschauspiele den gastronomischen Highlights vorzieht – oder beide mit- träglich und im Einklang mit der einander verbinden möchte –, der Landwirtschaft bewegen sollten. sollte sich einen Ausflug zu den Bu- Damit wollen die Naturschützer sichenegger Wasserfällen nicht entge- cherstellen, dass empfindliche Tiere wie das Birk-, Auer- oder Schneehuhn hen lassen. nicht gestört werden. Hierzu gehört etwa auch, keine Begegnungen mit selALLES IN SICHERER tenen Tieren zu posten – zumindest ENTFERNUNG nicht mit Ortsangabe. So soll vermieEtwas weniger steil gestaltet sich der den werden, dass es zum „ErlebnistouAbstieg in die Schlucht, wenn man rismus“ an diesen Stellen kommt. die Wanderung im Örtchen Steibis Der ist aktuell auch an anderen Orten beginnt. Mit dem schneebedeckten nicht erwünscht. Das Allgäu setzt daHochgrat im Blick, geht es zunächst her auf eine gemeinsame Darfichreingemütlich vorbei an saftig grünen App, die nach Ostern gestartet ist. Wiesen, eiskalten Brunnen und na- Sie soll Kontaktdaten unbürokratürlich den allgegenwärtigen Kü- tisch verwalten, um Öffnungen zu hen. Dann folgt der knackige Ab- unterstützen. Zudem läuft die Bestieg, der Trittsicherheit erfordert, werbung als Modellregion: Ist sie eraber auch mit fitten Kindern oder folgreich, könnten – analog zu Städder Kraxe auf dem Rücken machbar ten wie Tübingen – auch im Allgäu ist. In der Weißachschlucht ange- wieder mehr Freiheiten gewährt kommen, erfrischt das eiskalte Was- werden. Bis dahin gilt: auch einfach ser im Nu wieder die müden Beine, mal die Kein-Mensch-da-Pfade erwährend die Gischt der herunter- kunden. Schließlich ist das Gebimstürzenden Wassermassen das er- mel der Kuhglocken ohne Stimmengewirr im Hintergrund noch viel hitzte Gesicht benetzt. Leider gilt hier wohl auch dieses idyllischer. Tanja Senn Jahr: Abstand halten – und zwar nicht nur zu anderen Menschen. „Wir hatten im letzten Sommer ei- Buchtipp: nen außergewöhnlichen Besucherdruck bei uns im Naturparkgebiet“, Vergessene Pfade Allgäu gibt Max Löther zu bedenken, der 33 stille Touren abseits des Trubels hier für die Besucherlenkung zuständig ist. Deswegen hat der zuständige Verein eine Kampagne von Gerald Schwabe entwickelt. Unter dem Motto „Dein Verlag: Bruckmann, 2020 Freiraum. Mein Lebensraum.“ be160 Seiten, kommen die Besucher des SchutzKlappenbroschur gebiets Infos, wie sie sich naturverPreis: 19,99 Euro


chilli astrologie

Das »bierernste«

chilli-Horoskop

Die Brücken-Edition von Hobby-Astronaut Philip Thomas

Widder 21.03. – 20.04. „Brücken-Lockdown“ - was soll das überhaupt heißen? Betraut Armin Laschet nun Verkehrsminister Andi „Mr. Maut“ Scheuer mit dem nächsten Lockdown? Wobei: Mit Scheuer am Steuer wären wir gar nicht in dieser Lage – der hätte wichtige Verträge mit Impfstofffirmen höchstwahrscheinlich schon beim ersten Husten in Wuhan unterschrieben.

Stier 21.04. – 21.05. Viel Wasser ist nicht mehr unter der Brücke: Im gleichnamigen Lockdown sollst du alle Freizeitaktivitäten herunterfahren und soziale Kontakte weiter reduzieren. Klingt natürlich erst mal super, bei dir bedeutet das nach einem Jahr Corona-Chaos allerdings: Netflix-Abo kündigen und mit deinem Partner schlussmachen.

Zwilling 22.05. – 21.06. In Krisenzeiten ist guter Rat teuer. Nachdem die meisten Experten vom Boulevard verbrannt wurden, trauen sich nur noch wenige Ärzte nach vorne. Dabei predigte Deutschlands renommiertester Neu-Virologe Peter Maffay schon vor 25 Jahren: „Über sieben Brücken musst du gehen. Sieben Lockdowns überstehen ...“

Krebs 22.06. – 22.07. Vor lauter Lockdown bist du mittlerweile auch ganz unten angekommen. Und dann dieses Durcheinander: Shutdown, Lockdown, Harter Lockdown, Softer Lockdown, Wellenbrecherlockdown und jetzt BrückenLockdown. Beim Letzten fragst du dich allerdings schon, ob die Schließung aller Wasserwege das Virus wirklich stoppen kann.

LÖWE 23.07. – 23.08. Ein Brücken-Lockdown sollte es also richten. Einer, der entsetzte und entnervte Intensivmediziner entlastet und am besten noch den Weg ins Kanzleramt ebnet. Ein Lockdown, der wirklich, aber auch wirklich alles dichtmacht. Außer natürlich Kitas, Schulen, Baumärkte und alle Büros, wo der Chef kein Homeoffice mag.

JUNGFRAU 24.08. – 23.09. Die beeindruckende Golden Gate Bridge, die berühmte Brücke über den Fluss Kwai, die „blaue“ Freiburger Wiwilíbrücke – welcher Übergang beim Brücken-Lockdown wohl genau gemeint ist? Du überlegst: Möglicherweise alle Brücken, unter denen die ganzen Einzelhändler, Künstler und Gastronomen bald schlafen?

50 CHILLI April/Mai 2021

Waage 24.09. – 23.10. Nachdem sich Politik und Justiz nicht auf einen Ruhetag an Ostern einigen konnten, sollte der Brücken-Lockdown das Stimmungstal – nun ja – überbrücken. Auch hier herrscht keine Einigkeit: Hat das Virus dann auch einen Brückentag, sitzt mit Trainingshose zu Hause, backt Bananenbrot, streicht seine Zellwände und spart sich für einen Tag die Infektionen?

Skorpion 24.10. – 22.11. Du bist dir mittlerweile sicher: Der Brücken-Lockdown war ein verfrühter Aprilscherz, bei dem die einzig eingeweihte Person an Corona gestorben ist. Auch weiteres Vorgehen ist eigentlich todernst, aber immerhin konsequent: Die Politik macht uns allen bis Ende des Sommers ein Infektionsangebot.

schütze 23.11. – 21.12. Beim Impfstoffdschungel blickst du nicht mehr durch. Biontech und Pfizer, AstraZeneca, Moderna, Johnson und Johnson … oder vielleicht doch Sputnik V? Immerhin hat Putin seine Töchter damit doch gepikt. Und was ist eigentlich mit CureVac? Halb so wild: Dir ist mittlerweile ganz egal, welche Impfung du nicht bekommst.

steinbock 22.12. – 20.01. Du freust dich schon auf den nächsten Lockdown im Land. Und dir ist auch ganz egal, wie der heißt. Von 8 Uhr bis 17 Uhr ins Büro, aber nach 20 Uhr nicht mehr vor die Tür. Das klingt einfach fair. Oder solltest du mit all deinen Kumpels vielleicht doch eine GmbH gründen? Ihr müsstet euch nicht mal testen.

wassermann 21.01. – 20.02. Eigentlich darf sich in Deutschland niemand beschweren: Selbst der Suezkanal hatte einen härteren Lockdown als die Bundesrepublik. Du hättest den Brücken-Lockdown genutzt, um Brücken zu bauen und neue Anmachsprüche zu probieren. Dein Favorit: „Na? Möchtest du noch auf einen Schnelltest mit hochkommen?“

fische 21.02. – 20.03. „Kommt eine Brücke in die Bar ... wobei, die sind alle geschlossen.“ „Eine Brücke, ein Politiker und drei Tage Bedenkzeit treffen sich auf dem Holzweg ...“ „Eine blonde Brücke kommt zum Hausarzt, der endlich impfen darf ...“ – Der letzte Gag ist seinem Autor leider erst nach Drucklegung eingefallen. Brückenwitze sind halt die neuen Treppenwitze.




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